Tijen-Onaran-und-Dorothee-Baer

Dorothee Bär und Tijen Onaran im Gespräch:
Wie ist es um Deutschlands Digitalkompetenz bestellt?

Auf dem Kick-off für das Förderprogramm „Unternehmerinnen der Zukunft“ letzte Woche in Berlin treffe ich mich mit zwei Frauen, die für Digitales brennen. Netzwerk-Queen Tijen Onaran, Gründerin der Global Digital Women und Deutschlands Digitalbotschafterin Dorothee Bär, Staatsministerien für Digitales im Bundeskanzleramt. Im Interview spreche ich mit den beiden über die Digitalkompetenz junger Menschen und wie wir sie darin für die Zukunft fit machen können. Eines wird mir bei dem Gespräch bewusst: Man muss sich frei machen von Bedenkenträgern und zum Gestalter werden. Jede(r) einzelne unter uns.

Die Digital Natives kommen nach und nach als Fachkräfte auf den Arbeitsmarkt. Ist ihnen Digitalkompetenz quasi angeboren?

Dorothee Bär: Also das kann ich so nicht bestätigen. In Gesprächen vor allem mit jungen Menschen aus der Generation Z fällt mir immer wieder auf, dass sie hohe Forderungen stellen, mir fällt da das Stichwort Work-Life-Balance ein, aber nicht bereit sind, sich mit neuen Dingen auseinanderzusetzen. Sie konsumieren digital, das ist bei vielen aber auch schon alles. Man spürt eine gewisse Sattheit.

Tijen Onaran: Digital affin ist nicht dasselbe wie digital kompetent. Die digitale Welt ist mehr als das Smartphone zu benutzen. Ich muss schon verstehen, welche Algorithmen dahinter stehen, ich muss kritisch hinterfragen was hinter Search, Voice, Social Media und Online-Shopping steckt und den Gesamtkontext verstehen. Und das muss man eigentlich schon von Kind auf lernen.

Stichwort Bildung und Digitalkompetenz.  Bildung liegt in staatlicher Hand und es ist offensichtlich, dass der klassische deutsche Bildungsweg noch lange nicht die Entwicklung digitaler Kompetenzen abdecken wird.

Dorothee Bär: In Sachen digitaler Bildungspolitik ist der Föderalismus ein Totengräber und scheitert an drei großen „B“s: Bremser, Bedenkenträgertum und Befindlichkeiten. Wir diskutieren bei der digitalen Bildungspolitik tatsächlich nicht um das „Wie?“ sondern immer noch um das „Ob!“. Für mich ist das kaum zu ertragen, aber ich muss mit den Rahmenbedingungen arbeiten, die gegeben sind.

Immerhin, der Digitalpakt ist durch …

Dorothee Bär: Der Digitalpakt ist ein Anfang, wenn auch nur ein kleiner. Auf Landesebene gibt es verschiedene Initiativen sowohl inhaltlich für digitale Lernkonzepte als auch technisch für die digitale Infrastruktur, die ich mit vollem Engagement unterstütze. Das ist aber momentan ein kompletter Flickenteppich. Aber ganz ehrlich: Man muss ja irgendwo anfangen! Wenn man digitale Projekte aufsetzen wollen würde, die flächendeckend in Schulen in ganz Deutschland umgesetzt werden sollten, könnten wir noch Jahre warten, bis etwas passiert.

Was würden Sie Eltern raten, was sie ihren Kindern mitgeben können, um diese Digitalkompetenz außerhalb der Schule zu erlernen?

Dorothee Bär: Ich muss mich manchmal wundern, dass es gerade die Eltern sind, die Einführung digitaler Inhalte und Technologien an Schulen verhindern wollen, vor allem die Bildungsbürger. Nur ein Beispiel: Ich habe vor kurzem eine Zuschrift eines besorgten Vaters  bekommen, der sich beklagte, WLAN in Schulen sei das neue Asbest.

Tijen Onaran: Jeder versteht unter Digitalkompetenz etwas anderes – die einen meinen eher IT und Programmieren, die anderen New Work, die nächsten Social Media. Fakt ist, digitale Tools sind nur Mittel zum Zweck. Man muss den Teenagern den Mut und die Unterstützung geben, sich eigene Standards zu setzen und den Raum für digitale Erlebbarkeit schaffen. Es gibt so viele Möglichkeiten, gerade durch digitale Vernetzung. Mentoring, Coaching, neue Berufsbilder. Dafür müssen Eltern ihre Kinder schon im Teenager-Alter sensibilisieren.

 

v.l.: Tijen Onaran, Vera Vaubel und Dorothee Bär im Gespräch beim #UdZ Kick-Off in Berlin. / Foto: Tobias Koch (www.tobiaskoch.net)

 

Wie sieht es in den Behörden und in der Politik in Sachen Digitalkompetenz aus?

Dorothee Bär: Das kommt immer auf die individuellen Personen an. Da gibt es Licht, aber auch noch viel zu viel Schatten. Momentan ist es so, dass manchmal Kollegen auch mit der Bitte an mich herantreten, Inhalte über mein digitales Netzwerk zu kommunizieren, weil ich einfach die Reichweite damit habe.

 

„Ich habe manchmal das Gefühl, auf Twitter sind nur Politiker, Journalisten und Psychopathen unterwegs. Das ist aber für mich kein Grund, mein Account abzustellen, wie manch anderer Kollegen das getan hat. Eher im Gegenteil!“ Dorothee Bär

 

Sie haben mittlerweile auf Instagram über 25.000 Follower…

Dorothee Bär: Ja, ich glaube für eine Politikerin ist das schon ganz ordentlich, ansonsten natürlich sehr gering. Ich habe mir die Frage gestellt, wie schafft man es, Politik in Bildern darzustellen? Das ist nicht einfach. Ich habe mir die Reichweite auf Instagram mühsam aufgebaut – das war zeitintensiv, bis ich die ersten 1000 Follower zusammen hatte. Aber das gehört auch zur Digitalkompetenz: Man hat nicht mal eben eine Followerschaft, das hat viel mit Inhalten und Botschaften zu tun, mit Authentizität.

Durch Social Media entwickeln wir uns immer mehr in Richtung Netzwerkgesellschaft. Tijen, die Global Digital Women sind das beste Beispiel dafür. Welche Vorteile bringt einem das digitale Netzwerk?

Tijen Onaran: Ganz klar, man kann sich mit anderen Talenten zunächst digital vernetzen, und in Kontakt treten. Ein ganz wichtiger Punkt: Dein Netzwerk ist nur so gut, wie unterschiedlich die Talente darin sind. Ich kann durch digitale Kanäle auf meine Leistung und meine Kompetenzen aufmerksam machen, ohne dass ich von Vorgesetzten abhängig bin.

 

„Digitale Netzwerke sind nicht nur dafür da, um über Erfolge zu sprechen. Es geht um Wissenstransfer. Es darf auch um Rat gefragt werden.“ Tijen Onaran

 

Welche Skills muss man haben, um eine Rolle in dem Netzwerk zu spielen?

Tijen Onaran: Es geht nicht darum, eine Rolle zu spielen. Es geht darum seine eigene Geschichte zu erzählen. Sich sichtbar zu machen und nahbar zu sein. Authentisch sein.

Dorothee Bär: Das kann ich nur unterschreiben. Ich habe viel Erfahrung sowohl mit Shitstorms als auch mit Stereotypen. Aber seitdem ich für mich definiert habe, wer ich bin und wofür ich stehe, kann ich diesem Schubladendenken entkommen. Das prallt an mir ab.

In der Presse werden Sie oft als Botschafterin für Deutschlands Digitalisierung bezeichnet. Versteht das der Otto Normalverbraucher?

Dorothee Bär: Die Digitalisierung ist bei vielen Bürgerinnen und Bürgern oft noch negativ konnotiert. Eine große Skepsis und Ängstlichkeit ergibt sich daraus, dass die Digitalisierung als ein abstraktes Gebilde wahrgenommen wird, das viele Leute noch nicht greifen können und sich dadurch bedroht fühlen. Auf Veranstaltungen kommen Leute auf mich zu und fragen mich: „Frau Bär was ist die Digitalisierung überhaupt und was bedeutet sie für mich?“ Da bedarf es noch viel Aufklärungsarbeit. Den Leuten ist es wichtig, dass es dafür Ansprechpartner gibt. Daneben habe ich im Bundeskanzleramt natürlich noch andere wichtige Rollen, die viel Koordinierung der Digitalpolitik auf den unterschiedlichen Ebenen bedeuten und teilweise sehr operativ sind.

Tijen Onaran: Ich habe selbst lange in der Politik gearbeitet um sagen zu können, dass ich wirklich stolz bin, dass wir endlich in der deutschen politischen Landschaft eine Digitalbotschafterin wie Doro Bär haben. Sie verbreitet den Optimums und die Aufbruchsstimmung, die wir dringend nötig haben. Man muss bei den Menschen erst mal das Mindset und die Awareness schaffen, um die Digitalisierung in Deutschland zu gestalten. Und da ist sie genau die richtige Person.

 Vielen Dank für das Gespräch, ihr beiden!

Weiterführende Links

Förderprogramm Unternehmerinnen der Zukunft

Netzwerk Global Digital Women

 

 


Antenne Bayern CDO Sven Rühlicke

Antenne Bayern CDO Sven Rühlicke: „Man muss den Mut haben, sich selbst zu kannibalisieren, sonst tun es andere!“

Sven Rühlicke ist Digitalchef von Antenne Bayern. Sein Karriereweg dorthin führt ihn über die Vermarkterschiene. Im Jahr 2002 habe ich Sven als Nachfolger im Sales Team von Antenne Bayern eingearbeitet, als ich mich zum ersten Mal in den Mutterschutz verabschiedete (damals gab es noch keine Elternzeit!). 2014 steigt er zum Geschäftsführer der Vermarktungsgesellschaft SpotCom auf, die er zu einem der führenden nationalen Webradio-Vermarkter ausbaut und wesentlich dazu beiträgt, den Online-Audio-Markt in Deutschland zu entwickeln. Die Wiedersehensfreude ist groß, vor allem, weil wir uns über das gemeinsame Leidenschaftsthema digitale Transformation unterhalten können. Sven ist einerseits ein Stratege, er denkt auf der Metaebene, andererseits ein Macher, der Dinge gerne zügig auf die Straße bringt. In einem sehr intensiven Hintergrundgespräch gibt er Einblicke, wie ein regionaler Privatsender sich digital transformiert.

Radio erlebt ja eine Art Renaissance, die Auswahl für Hörbegeisterte ist riesig. Wie erlebt ihr das als Privatsender, die ihr eine 30-Jährige Unternehmenstradition habt?

Wir beobachten schon seit Jahren, dass die Audio Nutzung wächst. Die Leute sind gesättigt vom Bildschirm. Der Trend geht zum Audio-Konsum, das belegen Studien. Davon profitiert auch das klassische Radio, quasi als ständiger Begleiter durch den Tag. Im Gegensatz zu TV läuft Radio daher sowohl wirtschaftlich als auch von der Reichweite immer noch sehr gut.

Also gäbe es eigentlich gar keinen Grund für einen Chief Digital Officer bei Antenne Bayern?

Radio ist ein lineares Produkt und rein werbefinanziert. Antenne Bayern ist allein schon von der Marke regional limitiert und stößt an ihre Grenzen. Von der technischen Reichweite mal ganz abgesehen. Wenn wir die Entwicklungen im Audio-Bereich der letzten Jahre mal beim Namen nennen: Musik-Streaming, Podcast, User Generated Radio und auf der Device-Seite mit Smartphone und Smartspeaker, dann wird schnell klar, dass mit steigender IP-Verbreitung 'Weitermachen wie bisher' keine Option ist.

Was sind eure Pläne in Sachen Digitalisierung?

Wir müssen Teilmärkte definieren, die durch die Digitalisierung entstehen und entscheiden, welche wir in frühem Stadium besetzen können und welche Geschäftsmodelle sich daraus für uns entwickeln. Und ja, natürlich bedeutet das, dass man zunächst investieren muss. Ein Beispiel dafür ist unser „Song-Duell“, die Voice-App für In-car Entertainment, die wir in Kooperation mit Amazon im Februar gelauncht haben. Damit werden wir anfangs sicherlich keinen Massenmarkt erreichen.

 

"Es geht darum, bei den neuesten technologischen Entwicklungen mit dabei zu sein und Felder zu besetzen."

 

Gibt es schon Learnings aus der Entwicklungsphase der Voice-App bzw. der Zusammenarbeit mit Amazon?

Ja, ein ziemlich positives. Uns wurde bewusst, dass wir als Radiomacher und Sender wirklich ein absoluter Kompetenzträger in Sachen User Experience Design für Audio Formate sind. Die gilt es mit den Technologien zusammen zu bringen, einen frühen Markteintritt sicherzustellen und dann haben wir auch eine Chance, weiterhin ganz vorne mitzuspielen.

Letzte Woche folgte der nächste Paukenschlag. Ihr habt das Podcast Netzwerk lautgut gelauncht, warum eine neue Marke?

Auch dieser Schritt gehört neben der Beteiligung an laut.fm zur Digitalstrategie. Wir wollen den Teilmarkt Audio-on-demand mit Premium-Content bedienen. Bewusst unter einer neuen Brand, um neue nationale Zielgruppen zu erschließen. Das bedeutet im ersten Schritt: Aufbauarbeit und Investitionen. Aber mit unserer bestehenden Infrastruktur können wir zu Anfang ganz gut kostendeckend arbeiten. Welches Geschäftsmodell sich daraus entwickeln wird, wird sich zeigen. Ich habe mit Gimlet-Gründer Matthew Lieber dazu auf meiner USA-Reise vor zwei Wochen gesprochen, der mit seinem US-Podcast-Label gezeigt hat, dass es sich lohnt, hier zu investieren und vor allem durchzuhalten! Premium Content ist der Schlüssel für Podcast, das sehen wir beide so.

Voice & Podcast US-Business-Trip im Februar 2019, v.l.: Antenne Bayern Manager Ruben Schulze-Fröhlich und Sven Rühlicke bei Gimlet-Gründer Matt Lieber

Seid ihr damit auf dem Weg, euch als Radiosender digital zu transformieren?

Digitale Transformation ist für uns nicht auf die Veränderung in der Digitalen Performance beschränkt. Es geht dabei nicht nur darum, digitale Kanäle wie einen Live-Stream oder einen Facebook Kanal zu bespielen. Das ist State of the Art und das können wir auch schon ganz gut. Nein, es geht um einen Change Prozess, der in der jetzigen Phase des Reifegrads enorme Anstrengung kostet. Und wenn man ehrlich ist, der nie zu Ende sein wird.

In welcher Phase befindet ihr euch in diesem Prozess?

Ich würde sagen, dass wir gerade an einer Schwelle sind, die echte Transformation anzugehen. Dafür schaffen wir die Voraussetzungen, ich nenne es mal „Digital Readiness“. Und die betrifft eher strukturelle Themen wie Organisation, Prozesse, Leadership und Unternehmenskultur. Das ist viel schwieriger, weil schlechter greifbar. Und das ist auch kein Projekt von sechs oder zwölf Monaten, sondern ist eine echter Veränderungsprozess.

Wie organisiert ihr das innerhalb der Unternehmensgruppe?

Uns ist es wichtig, dass wir mit der Transformation die Chancen sehen und den Changeprozess positiv angehen. Mit Objectives and Key Results (OKR) haben wir eine neue Führungsmethode eingeführt, die noch mehr Transparenz schafft. Und wir reden nicht den ganzen Tag von digitaler Disruption und geraten in Schockstarre vor dem was da kommt, sondern wir haben mit digitalen Innovationsthemen Geschäftsfelder definiert, die wir angehen. Um auch hier integrativ vorzugehen wurde mit Business Development ein hybride Abteilung aufgebaut, die sich aus Kompetenzträgern aus den verschiedensten Bereichen zusammensetzt, IT, Programm, Kommunikation etc.

Auf welche Grenzen seid ihr bisher gestoßen?

Bei den ganzen Neuerungen im digitalen Bereich besteht das große Risiko, sich zu verzetteln. Es tun sich ja so viele Möglichkeiten auf. Daher bin ich der festen Überzeugung, dass es noch nie so wichtig war, eine klare Vision vor Augen zu haben und diese mit einer ganzheitlichen Strategie zu untermauern. Und von diesem Weg sich nicht abbringen lassen. Das heißt nicht, dass es keine Rückschläge geben wird.

 

"Man muss die Ziele konsequent verfolgen und mit fokussierten Projekten auf die Straße bringen."

 

Und wie lautet die Vision für Antenne Bayern?

Wir wollen das Audio-Entertainment-Haus im deutschsprachigen Raum werden.

Das klingt erst mal abstrakt. Kannst du eine konkrete Maßnahme nennen, die euch auf diesen Weg bringt?

Neben weiterem Content-Aufbau wie z.B. dem eigenen Podcastlabel, haben wir bereits in den letzten zwei Jahren eine ganzheitliche Dateninfrastruktur geschaffen, die uns in Zukunft ermöglicht, datenbasiert und personalisiert zu agieren. Ziel ist es, die Infrastruktur und Logistik zu schaffen, die uns maximale Flexibilität in der Versorgung und Ausspielung von Audio Content ermöglicht. Keiner weiß, was in fünf bis zehn Jahren an Technologien zur Verfügung steht. Fakt ist nur, dass es datenbasiert sein wird. Dafür müssen wir uns rüsten.

Du bist ja sicherlich innerhalb der Unternehmensgruppe nicht immer auf offene Ohren gestoßen mit deinen Digitalisierungsplänen?

Die größte Hürde ist eigentlich, wenn das klassische Geschäft erfolgreich läuft. Wenn der Handlungsdruck nicht groß genug ist. Denn dann muss man sich die Frage stellen, wie disruptiv gehe ich eigentlich mit meinem Kerngeschäft um? Das Risiko besteht durchaus, dass man auf dem Ast sägt, auf dem man sitzt – um es mal bildlich zu beschreiben.

Und wie gehst du persönlich damit um?

Man braucht Durchhaltevermögen und Standhaftigkeit, um konsequent seine Strategie zu fahren. Und Mut gehört dazu, sich selbst zu kannibalisieren. Ich gehe diesen Weg einfach, weil ich davon überzeugt bin, das Richtige zu tun.

Wie bindest du dabei die Mitarbeiter ein?

Wichtig ist, eine positive Dynamik zu erzeugen, d.h. für mich, die Mitarbeiter*innen mitzunehmen. Ihnen Chancen, Gestaltungs- und Handlungsspielräume aufzeigen. Wir bieten in Schulungen und Workshops persönliche und fachliche Weiterentwicklungsmöglichkeiten. Das ist ein Angebot, was man annehmen kann oder auch nicht.

Ist es besonders schwierig, die langjährigen Mitarbeiter bzw. die aus der älteren Generation auf diesem Weg mitzunehmen?

Interessant, dass du das fragst. Meine Erfahrung ist, die Altersklischees stimmen nicht. Es gibt Mitarbeiter aus der Generation 50+, die sich total begeistern lassen und dann die unter 30-Jährigen, die nicht zum Umdenken zu bewegen sind – ich habe alles schon erlebt.

Du hast vorhin deine Voice & Podcast Reise angesprochen, hast dort einige Unternehmer aus der Szene, u.a. Gimlet und New York Times getroffen. Was konntest du mitnehmen?

Vor fünf Jahren haben deutsche Unternehmen noch Pilgerfahrten ins Silicon Valley unternommen, um den großen, ja fast unnahbaren Vorreitern zu lauschen. Heute ist das eine Begegnung auf Augenhöhe, wie ich finde. Klar, in den USA sind sie uns immer noch 2-3 Jahre in den Entwicklungen voraus, aber sie stecken genauso in den operativen Umsetzungsthemen wie wir. Von daher muss ich sagen, war der fachliche Austausch wirklich sehr konstruktiv und positiv.

Findest du diesen Austausch auch hier in Deutschland?

Ja, klar! Ich habe mich dem CDO Executive Circle angeschlossen, da sind Traditionsunternehmen wie BMW oder Deutsche Telekom vertreten, aber auch Hidden Champions, die in ihren Nischen zwar teils zur Weltspitze gehören, sich aber trotzdem transformieren müssen. Andere Branchen stehen vor denselben Herausforderungen, vor allem was die Veränderung zu strukturellen Themen wie Organisation, Prozesse und Unternehmenskultur betrifft. Da finden sich oft Parallelwelten.

Vielen Dank, lieber Sven, für die Insights!

Weiterführende Links:

Führungsmethode OKR

Premium-Podcast-Netzwerk lautgut

CDO Executive Circle


Die Trends im Ladenbau

Retail Design: Die Trends der Ladenbauexperten

Habt ihr euch schon mal gefragt, welches Einkaufserlebnis würdig genug ist, dass es im Gedächtnis bleibt? Gar nicht so einfach. Und schon gar nicht eindeutig. Aber genau diese Frage treibt gerade den stationären Händler um. Wie lockt man den Kunden ins Geschäft und wenn er drin ist, wie schafft man es, dass er auch wiederkommt? Die Ladenbauexperten von umdasch, atelier 522, Gruschwitz und Blocher Partners zeigen die Trends im Retail Design. Das Urteil unisono: "Mehr Gastgeber, weniger Warenrampe!"

Es gibt gleich mehrere Gretchenfragen, mit denen der stationäre Handel sich gerade herumschlagen muss: Wie schaffe ich es, dass der Kunde meinen Laden überhaupt wahrnimmt? Und: Was muss ich tun, damit er sich im Laden wohlfühlt und wiederkommt? Philipp Beck, CEO von atelier 522 beschwört dazu die Theorie der 1000 Kleinigkeiten: „Es kommt darauf an, aus der Summe vieler Kleinigkeiten ein stimmiges „großes Ganzes“ entstehen zu lassen.“

 

Das Ziel: Maximale Aufenthaltsqualität

Bei dem sehr abstrakten „großen Ganzen“ spielen auch ganz unterbewusst wahrgenommene Faktoren wie etwa die Form des Türgriffs, das Gewicht und Geräusch der Türe eine Rolle. Auch Fragen wie „Kommt der Kunde beim Eintreten in das Ladenlokal aus einer Enge ins Weite? Gibt es Intimität und Größe?“ müssen vom Händler beachtet werden, wenn er beim Ladenbesucher ein angenehmes Erlebnis hervorrufen will. „Händler müssen sich grundsätzlich fragen, ob der Laden eine Atmosphäre schafft, in der es sich lohnt, die eigene wertvolle Zeit zu verbringen,“ bringt es Philipp Beck auf den Punkt. Dabei vergleicht er den Laden gar mit anderen Erlebnisorten wie z.B. dem Theater, Restaurants oder Cafés, mit denen Geschäfte von heute um die Gunst des Besuchers buhlen müssen.

 

Überraschung als Nachfrage-Stimulation

„Das grundsätzliche Konzept des Einkaufens wird sich zwar nicht so gravierend ändern,“ ist Maik Drewitz, Shop Consult Director bei umdasch, überzeugt, „wohl aber die Warenpräsentation am POS und die Einbeziehung des Kunden in diesen“. In Zeiten des Internets müssen Händler ihren Kunden mehr Anreize bieten, um ihn ins Geschäft zu locken und müssen auch mehr tun, damit sie bleiben. Dabei darf der Handel ruhig überraschen. Denn anders als im Internet hat der stationäre Handel die Möglichkeit, den Kunden multisensual zu begeistern. Und darum geht es schließlich: Im Laden einen Mehrwert gegenüber dem Onlineshop zu schaffen. Dazu gehören auch Produkte, die es online nicht ohne weiteres gibt. Inspiration geht im Laden schließlich viel besser, denn was der Kunde nicht kennt, kann er im Internet auch nicht suchen. Dazu passend gibt Philipp Beck zu Bedenken: „Ist es heute nicht so, dass ein überraschendes Angebot erst die Nachfrage erzeugt und die Zeiten, in denen man auf eine Nachfrage reagiert bzw. dieser folgt, vorbei sind?“

 

ROI als Risiko: Zeit für neue KPIs

Die immer mehr am Erlebnis ausgerichteten Ladenlokale brauchen aber auch neue Erfolgskennzahlen. Einen deutlichen und immer wichtiger werdenden Wandel in der Beurteilung von Store-Konzepten sieht Wolfgang Gruschwitz, Geschäftsführer der Gruschwitz GmbH: „Anstelle des ‚Return on Investment’ werden Kenngrößen wie Return on Interest/Involvement oder Integration immer entscheidender“. Schließlich geht es darum, dass der Kunde zurückkommt und sich mit dem Ort/dem Laden verbunden fühlt. Wer dagegen zu sehr den klassischen ROI im Fokus habe riskiert, schnell vergleichbar und damit austauschbar zu werden. „Händler sollten mutiger bei der Umsetzung von innovativen Konzepten sein“, wünscht sich Gruschwitz. Anstatt holistisch die gesamte Customer Journey zu betrachten und das Erlebnis in den Vordergrund zu stellen, seien viele Händlerkonzepte auch heute noch zu sehr auf die Verkaufszahlen ausgerichtet.

 

Faktor Mensch: Der Schlüssel zum nachhaltigen Markenerlebnis

Beim Retail Design der Zukunft geht es um Intuition, Gefühl und Authentizität. Ganz im Sinne des „story telling“ transportieren erfolgreiche Store-Beispiele stets eine klare und unverwechselbare Botschaft. Maik Gruschwitz ist überzeugt: „Dabei spielt der Faktor Mensch als Berater und Testimonial im Laden eine der größten Rollen.“ Denn tatsächlich ist es der Verkäufer oder die Verkäuferin im Laden, die mit dem Kunden interagiert und ganz erheblich zu einem begeisternden Shoppingerlebnis beitragen kann. Hier sieht Maik Gruschwitz viel Potenzial, das in Zukunft strategisch noch besser genutzt werden muss. Jutta Blocher von Blocher Partners sieht dazu auch einen weiteren Trend: „Wir stellen fest, dass stationäre Händler sich zunehmend mit allen Möglichkeiten auseinandersetzen, um Beziehungen zum Kunden aus- und aufzubauen und bewusst mit ihm in den Dialog zu treten“.

 

Technologie gehört dazu

Als Trend im Retail Design sehen die Ladenbauer, dass stationäre Geschäfte zur Werkstatt bzw. zum Experimentierfeld umfunktioniert und Testläden für neue Konzepte üblich werden. Dazu gehört auch der sinnvolle Einsatz von Technologie. Große Videowalls mit Imagevideos, Sportereignissen, Fashionshows oder anderen passenden Bewegtbildern sind längst ein gängiges Bild, um Läden emotional aufzuladen.

Arbeitserleichterung versprechen zudem Techniken wie Digital Signages, Self Checkouts oder die Einbindung mobiler Devices. Auch künstliche Intelligenz wird den Laden der Zukunft innovativer und kreativer machen. Erste mutige Konzepte mit Virtual Reality oder Robotik lassen erahnen, wo die Reise hingehen könnte.

Einig sind sich die Ladenbauexperten darüber, dass der stationäre Handel alles andere als tot ist. Jutta Blocher bringt es auf den Punkt: „Die stationäre Präsenz ist das größte Pfund im Wettbewerb mit dem Online-Handel. Das sieht man auch daran, dass die digitalen Anbieter ebenfalls offline gehen“.

 

Weiterführende Links zu den Ladenbauexperten:

www.atelier522.com

www.blocherpartners.com

www.gruschwitz.de

www.umdasch.com

 

 

 

 


Audio book concept

Wissenswertes auf die Ohren:
Übersicht deutschsprachiger E-Commerce Podcasts

Alle sprechen vom Podcast-Boom. Von der Renaissance des Audio-Formats. On-demand, immer verfügbar, leicht konsumierbar in Alltagssituationen. Im E-Commerce haben sich schon vor Jahren Podcasts etabliert, allen voran der Exchanges und Kassenzone Podcast. Aber auch in der Nische ist viel Musik. Immer mehr Branchenexperten nutzen die Gelegenheit und untermauern ihre Authentizität und Glaubwürdigkeit nun auch mit ihrer eigenen Stimme. Was können E-Commerce Podcasts vermitteln: Wirklich Wissenswertes oder eher Fachsimpelei? Macht euch selbst ein Bild. Wir haben eine Auswahl an hörenswerten E-Commerce Podcasts zusammengestellt, ihr Profil skizziert und für euch eingeordnet. 

Die Newcomer

Videopodcast von disrooptive

https://youtu.be/J1pH5ymT7ys

Gestartet mit der ersten Episode am 22. Januar 2019 erklärt Rupert Bodmeier die Prinzipien der Plattformökonomie und wie man an dieser Entwicklung partizipieren kann. Vielversprechendes "Erklär-Format", denn in der Kürze liegt die Würze.

Women in E-Commerce

In diesem relativ jungen Format stellt Ingrid Lommer inspirierende  Frauen aus der E-Commerce-Szene vor, die den Online-Handel vor und hinter den Kulissen prägen und mit ihrem unternehmerischen Spirit ein Vorbild sind. Gut konsumierbar mit ca. 20 Minuten Hörzeit  und ein Lichtblick in der männerdominierten E-Commerce-Podcast-Welt!

neuhandeln Podcast

Wer macht was im Online-Handel? Welche Themen gewinnen an Relevanz? Und welche Trends sind wirklich nachhaltig und verändern den Markt?  Stephan Randler, Herausgeber neuhandeln.de,  und E-Commerce-Coach Ralph Hesse wollen in ihrem blutjungen Format mit ihrem Handels-Know-how im Hintergrund glänzen und mehr Praxisbezug in den E-Commerce Dschungel bringen.

Die Dinosaurier

Exchanges von Exciting Commerce

Die Branchenanalysten Jochen Krisch und Marcel Weiß sind die Vorreiter des E-Commerce-Podcasts. Die erste Ausgabe von Exchanges veröffentlichten sie am 3. Oktober 2012. Heute versorgen die beiden wöchentlich ihre Hörerschaft mit Unternehmensanalysen, geben Einblicke in Wachstumsfelder, Handelsmärkte von morgen und diskutieren Innovationsthemen.

Kassenzone Podcast

Ende 2013 gestartet, gibt es schon über 200 Folgen der Kassenzone Podcast-Reihe. Alexander Graf diskutiert wöchentlich mit illustren Gästen aus Handel, Industrie und der Start-Up Szene ihre E-Commerce Strategien und Geschäftsmodelle. Der Blogger und Gründer gibt Analysen zu Zalando, Amazon & Co. Es sind Deep-Dives, die Themen werden ausführlich diskutiert – pro Podcast muss man sich etwa eine Stunde Zeit nehmen.

E-Commerce Crossover von digital kompakt

Zwar bespielen Alexander Graf, Joel Kaczmarek und Jochen Krisch die Branche bereits je mit eigenen Podcasts. Das hat das Trio jedoch nicht davon abgehalten, vor etwa einem Jahr noch ein gemeinsames Format ins Leben zu rufen. Im gemeinsamen Podcast werden Geschäftsmodelle analysiert, aktuelle Branchentrends diskutiert und Einordnungen zu zentralen Vorgängen innerhalb der Branche besprochen.

Die Entrepreneure

Cheftreff – Future Retail Podcast

K5-Host Sven Rittau spricht mit Machern und Innovatoren der digitalen Szene. Darin kommen vornehmlich die Protagonisten der jährlichen K5 zu Wort. Es geht um unternehmerische Gestaltungsoptionen im E-Commerce, persönliche Erkenntnisse und Knowhow-Transfer, Wachstumspotenziale sowie Investitions- und Anlagemöglichkeiten.

Commerce Corner

Inspiriert von „The Jason and Scot Show”, einem wöchentlichen Podcast über die E-Commerce-Branche der USA von Jason “Retailgeek” Goldberg und Channel Advisor Gründer Scot Wingo, lässt Dr. Armand Farsi  in seinem Podcast kluge und einflussreiche Unternehmer zu Wort kommen. Im Fokus: Tiefe Tauchgänge zu Schlüsselthemen der digitalen Szene.

Die Hemdsärmeligen

E-Commerce Vision

E-Commerce und Online-Experte Thomas Ottersbach greift praxisnah aktuelle Themen auf, die Online-Händler bewegt.  Nutzwertig mit Tipps und Tricks zu allen Facetten des Business – von Online-Marketing über Tools & Technik bis hin zu rechtlichen Themen.

ShoptechTalks vom ShoptechBlog

Dr. Roman Zenner lädt regelmäßig die CTOs der Branche ein. Er gibt einen Einblick in den „Maschinenraum“ bekannter Marken und Händler und diskutiert, wie sie sich technologisch aufstellen, um für die Anforderungen des Handelsgeschäfts gewappnet zu sein.

Amazon Dorf Talk von digitalkaufmann.de

„Digitalkaufmann“ Nils Seebach produziert Podcasts rund um Gründung, Aufbau, Umstrukturierung und Finanzierung digitaler Geschäftsmodelle. In einem Spezial-Set widmet er sich dem Thema Amazon und gibt im Dialog mit Christian Otto Kelm Tipps und Tricks für Vendoren und Seller zum Thema Marketing und allgemeinem Vertriebsfragen auf dem Marktplatz. Darüber hinaus gibt es ein weiteres Spezial-Set zum Thema Amazon Plattformen.

Die Generalisten

t3n – Das Update für digitale Pioniere

Im t3n Podcast sprechen die Chefredakteure Luca Caracciolo und Stephan Dörner in kompakten Episoden von 30 bis 45 Minuten Länge mit wechselnden Gästen über New-Work, E-Commerce, digitales Marketing, die Startup-Szene und die digitale Transformation in Wirtschaft und Gesellschaft.

OR – etailment-Podcast zum E-Commerce und Retail

Die Gastgeber Rene Hempe und Olaf Kolbrück diskutieren mit Fachleuten aus dem Handel, aus der Industrie und der Agenturwelt über Digital Commerce. Dabei blicken sie auch über den Tellerrand des Handels hinaus und fragen nach, wie sich Digital Business, Management, Job und das eigene Leben in den Zeiten der Digitalisierung wandeln.

Inspiration oder Gelaber?

Insbesondere in einer Fachbranche wie dem E-Commerce polarisieren Podcasts. Die einen empfinden es als Zeitverschwendung, einer Plauderei Gehör zu schenken, bei der sich ohnehin nur diejenigen Experten profilieren, die sowieso schon ständig im Rampenlicht stehen. Andere aber sehen darin eine gute Gelegenheit an Insights zu kommen, zu denen sie sonst nur durch zeit- und kostenintensive Besuche auf Konferenzen oder Seminaren Zugang erhalten hätten. Und was stimmt nun? Möge jede*r für sich abwägen, zu welcher Gruppe er oder sie sich zählt.

Auffällig ist, dass sich bisher fast ausschließlich Blogger und Redakteure, die ihr journalistisches Handwerk verstehen, an die Podcast-Produktion trauen. Lediglich Dr. Armand Farsi von der Digitalagentur Friends of C und Dr. Roman Zenner vom Plattformanbieter commercetools bilden hier die Ausnahme. Die beiden beweisen, dass auch ein Unternehmensumfeld genug Stories und Wissenspotenzial für die Podcastform bietet. Vielleicht eine Inspiration, es einfach mal auszuprobieren?

Anmerkung der Redaktion:  Diese Liste hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Aufgrund von Leserfeedback wurde die Liste am 26.2.2019 um den Newcomer-Podcast neuhandeln und dem Amazon Dorf Talk von digitalkaufmann ergänzt.


Online Marketing Rockstar Philipp Westermeyer

Digital-Rockstar Philipp Westermeyer:
„Der tatsächliche Wert der OMR sind meine Kollegen.“

Philipp Westermeyer, eine Ikone der Digitalbranche. Mit nur 39 Jahren ist der Gründer der Online Marketing Rockstars (OMR) einer der erfolgreichsten deutschen Internetunternehmer. Bei meinem Besuch in seinem Büro im Hamburger Schanzenviertel bekomme ich als erstes eine Führung durch die heiligen Hallen vom „Chef“ persönlich. Danach das Interview in einem loungigen Besprechungszimmer. Plötzlich huscht OMR-Kollege Rikkert mit einer Kamera rein: Foto-Shooting für die tägliche OMR Instagram Story. Er dokumentiert alles, was inhouse passiert und postet es auf Instagram. Ich lasse mich gerne über den neuesten Kult der Social Networks evangelisieren. „Instagram ist die aktuelle Welle“, erklärt mir Philipp in einem Nebensatz. Da müsse man leider doch dabei sein. Und was ist seine ganz persönliche Story? Ein Porträt über einen leidenschaftlichen Medienmacher.

Es ist schon immer Philipp Westermeyers Wunsch, in die Medienwelt einzusteigen. Die Erfolgsgeschichten der privaten Medienunternehmen wie der RTL Group oder der Kirchgruppe in den 90er Jahren faszinieren ihn. Er träumt von einem Job als Sportjournalist. Ein bisschen naiv, wie er heute schmunzelnd zugibt. Als Schüler jobbt er in seiner Heimatstadt Essen u.a. bei der WAZ im Lokalsport und bei Radio Essen und saugt die Funktionsweise von Medienunternehmen in seine DNA ein. Die bleibende Erkenntnis: Für ihn erstrebenswert ist vielleicht doch eher ein Job als Produzent oder als Medienmanager. Denn in dieser Position ist man vordergründig zumindest weniger abhängig.

Ein Synonym: Philipp Westermeyer und die OMR

Steile Karriere als Internetunternehmer

Nach dem Studium schafft er den Einstieg als Vorstandsassistent bei Bertelsmann. Kurze Zeit später wird er Investment Manager von Gruner + Jahr New Media Ventures. Eine gute Position, um hautnah mitzubekommen, was in der Medienbranche gerade los ist. Die Goldgräberstimmung rund um die aufsteigenden Social Web Communities ist gigantisch. Er erlebt, wie damals StudiVZ bei den Verlagen zur Übernahme feilgeboten wird, der Deal am Ende an die Holtzbrinck Gruppe geht und die Gründer sehr viel Geld bekommen. Daraufhin sucht er sein eigenes Gründungsthema und wird zunächst mit SEO-Seiten, später mit Technologien für Online-Advertising fündig.

Einige selbst getextete und für Google konzipierte SEO-Seiten später gründet er zusammen mit Tobias Schlottke und Christian Müller den Restplatzvermarkter adyard und verkauft ihn nach nur eineinhalb Jahren an die Bertelsmann-Tochter Ligatus. Wenig später starten die Drei die auf Display-Advertising und Real-Time Bidding spezialisierte Firma metrigo. Er verkauft die Gesellschaft an die Axel Springer-Tochter Zanox. Doch der Deal wird aufgrund von Differenzen um die Ausrichtung rückabgewickelt und geht an die Gründer zurück. Er startet einen zweiten Versuch und findet mit Zalando erneut einen Abnehmer.

Die Technologie Black-Box

Philipp blickt auf diese Zeit mit gemischten Gefühlen zurück. Obwohl er seine gegründeten Firmen erfolgreich auf die Straße bringt  und gut veräußern kann, empfindet er in dieser Phase ein gewisses Unwohlsein. Was ihn bei den Werbetechnologie-Firmen stört, ist, dass er selbst die Software nicht beherrscht und bei Entscheidungen über die Machbarkeit und Umsetzung von den Einschätzungen der Entwickler abhängig ist. „Es war wie eine Black-Box. Ich wollte Dinge bewegen und musste mir von den Softwareentwicklern sagen lassen, dass es nicht geht. Kein gutes Gefühl, sich so von anderen abhängig zu machen. Mich ständig absichern und mich auf die Einschätzung anderer verlassen zu müssen, das ist eigentlich so gar nicht mein Ding.“

Das mit OMR ist eine ganz andere Sache. Seine Leidenschaft zu Medien lässt in Philipp eine Idee heranreifen. 2011 debütiert OMR im klassischen Konferenzformat mit 200 Teilnehmern, acht Jahre später ist es ein internationales Festival mit 50.000 Teilnehmern und eine Organisation, die übers ganze Jahr eine treue, stets wachsende Community über den Blog, Podcasts, Reports und einer Jobbörse mit Content versorgt.

Der Weg dahin ist mit einigen „Geburtsstrapazen“ verbunden, wie er selbst zugibt. Philipp brennt für die OMR. „Bei der OMR könnte ich theoretisch jederzeit jede Aufgabe selbst übernehmen. Natürlich steckt mein Team viel tiefer im Detail und die machen einen ausgezeichneten Job. Aber ich weiß was Sache ist – bei jedem einzelnen!“ Bei anstehenden Entscheidungen kann er einschätzen, was geht und was nicht geht.

Primus inter pares

Das macht ihm die Rolle als Leitfigur einfacher und das spiegelt sich auch in seinem Führungsstil wieder. Er ist der Primus inter Pares, der Erste unter Gleichgesinnten, der das Team demokratisch führt. „Hier arbeiten meine Freunde, wir sind ein Team, ein Netzwerk. Nur weil ich Gründer und Unternehmer bin, habe ich keine andere Stellung als die anderen. Natürlich versuche ich, dem Team einen Rahmen zu geben und tue dafür mein Bestes.“ Er schätzt das als Privileg, das merkt man ihm an, auch wenn man ihm zum ersten Mal begegnet. Seine Einstellung prägt nachhaltig die Unternehmenskultur. Von seinen Mitarbeitern wird er freundschaftlich, respektvoll „Der Chef“ genannt. In der Unternehmensgeschichte gibt es bisher nur drei Kündigungen, darauf ist er sehr stolz.

Wertschätzung ist für ihn ein wichtiges Element. 75 Mitarbeiter stecken jeden Tag ihre Inspiration und ihr Engagement in die Marke OMR. „Der eigentliche Wert der OMR sind meine Kollegen.“ Auf die Frage, ob es schwierig sei, gute und passende Leute zu finden, antwortet er gelassen. „Es ist vergleichbar mit der Parkplatzsuche in Elmsbüttel (Hamburger Stadtteil, Anmerkung der Redaktion). Man findet vielleicht nicht auf Anhieb einen, schon gar nicht vor der Haustür. Aber dreht man ein paar Runden um den Block, wird einer frei. Man muss Geduld haben und sich die Zeit nehmen.“

Die Brand OMR oder Personality Westermeyer?

Sich selbst sieht Philipp mehr als Medienmacher, weniger als ein Digitalmacher – wobei das für ihn heute nicht mehr trennbar ist. Er weiß, dass ohne seine Person das Brand Building nie so gut funktioniert hätte. „Immer schon waren erfolgreiche Medienmarken stark von Personen abhängig. Ich denke da an Rudolf Augstein und Der Spiegel. Oder Thomas Gottschalk und Wetten Dass?. Oder international Henry Blodget, der für Business Insider steht.“ Er empfindet das als Stärke und Schwäche gleichzeitig.

Medienmacher, die stark personifiziert nach außen auftreten, haben einen klaren Vorteil. Sie können authentisch kommunizieren. Es ist das Phänomen des persönlichen Kontakts mit der Zielgruppe, eine Art partnerschaftlichen Auseinandersetzung. „Parasoziale Beziehung nennt man das – das habe ich im Studium gelernt“, fügt er mit einem Grinsen hinzu.

Magazinmacher in Teilzeit: Barbara Schöneberger, Guido Maria Kretschmer, Joko Winterscheidt und Jérôme Boateng. Ab Mai auch Philipp Westermeyer! (Foto: Collage: SZ/dpa(3), Getty)

Sein neuestes Projekt zahlt genau darauf ein. In Kooperation mit dem Hamburger Abendblatt wird im Mai das Personality-Magazin „Philipp“ aufgelegt. Es war die Idee des Abendblatt-Chefredakteurs Lars Haider, der ihm den Vorschlag für das Print-Pilotprojekt unterbreitet. Das Magazin soll einen ganz klaren, regionalen Fokus haben und die ganze Region Hamburg für die Themen des OMR Festivals begeistern. „Für mich persönlich hat das ehrlich gesagt eine kleine Portion an Selbstironie. Ich weiß genau, dass ich nicht prominent bin wie eine Barbara Schöneberger oder ein Jerome Boateng, die als Testimonials und journalistische Blattmacher den Verlagen zu neuen Reichweitenrekorden verhelfen sollen. Ich bin eher der Nischentyp.“

Redaktionell hat Philipp einen klaren Plan für das Magazin, das pünktlich zur Eröffnung des OMR Festivals am 7. Mai an den Hamburger Kiosken erhältlich sein wird. Dazu gehören zum Beispiel Porträts von hidden digital Champions oder eine persönliche Reportage über erfolgreiche deutsche Rapper, die Instagram-Phänomene sind.

Es ist ihm durchaus bewusst, dass es auch ein unternehmerisches Risiko birgt, die Marke OMR auf seine Person auszurichten. Daher hat er in den letzten Jahren immer darauf geachtet, dass auch sein Team mehr und mehr in der Öffentlichkeit steht. So ist das Redaktionsteam rund um Roland Eisenbrand für fast alle Inhalte  der OMR verantwortlich und werden sichtbarer. Auch OMR-Podcast-Chef und Ex-Basketball-Profi Vincent Kittmann rückt immer öfter für Interviews ins Rampenlicht.

Begeisterung für Podcasts

Medienkonsum wird sich seiner Meinung nach weiter dramatisch verändern. Organische Reichweite zu bekommen, wird immer schwieriger. Um Zielgruppen zu erreichen, muss man neue Formate testen, testen, testen. So macht er es selbst auch gerade mit Instagram. Philipp weiß, wovon er spricht. Vor vier Jahren ist er einer der First Mover in der Produktion und Vermarktung von Podcasts. Der OMR-Podcast zieht heute wöchentlich 40.000 Hörer in den Bann. Auch für externe Partner vermarktet die OMR Podcasts, zu den größten Projekten zählt der Podcast awfnr mit Joko Winterscheid und Paul Ripke.

„Wir haben das Podcast-Format frühzeitig für tolle Storys genutzt, das wissen unsere Nutzer zu schätzen.“ Mit Podcasts kann man einfach ganz nebenbei Content konsumieren. Menschen nutzen heutzutage ihre Zeitfenster ganz anders als sie es früher getan haben. Radio on-demand macht es möglich. Zu jeder Zeit an jedem Ort das hören, was man möchte und was einen interessiert.

Das Podcast-Geschäft professionalisiert sich zunehmend. Kein Wunder, das Vermarktungspotenzial ist enorm, die Content-Qualität nimmt stetig zu. Viele Publisher springen auf die Podcast-Welle auf. Jüngstes Beispiel dafür ist Ex-Handelsblatt-Herausgeber Gabor Steingart mit seinem Morning Briefing Podcast, in dem er täglich illustre Gäste aus Politik und Wirtschaft zum Weltgeschehen zu Wort kommen lässt.

"Dinner Berlin" - die Gäste: Philipp Westermeyer, Lea Lange, Cem Özdemir, Annegret Kramp-Karrenbauer, Alex Karp, Sonja Jost und Mathias Döpfner (v.l.) (Fotos: Hannes Holtermann)

Die politische Dimension des Digitalen

Auch Philipp lässt nichts anbrennen. Er startet im Januar zusammen mit Axel Springer Vorstandsvorsitzenden Mathias Döpfner den digitalen Polit-Podcast „Berlin Dinner“. Bei einem gemeinsamen Abendessen talken die beiden mit profilierten Vertretern der Digitalökonomie, Gründern und Politikern. Die Reihe soll zu unterschiedlichen Themenschwerpunkten in loser Folge ohne feste Termine stattfinden. Die Dinner Diskussion wird jeweils als Podcast und mit Videoausschnitten über digitale Kanäle und soziale Netzwerke verbreitet. Im Auftakt-Podcast diskutieren Gäste wie CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer und Grünen-Politiker Cem Özdemir über die Fragen der digitalen Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands im Vergleich zu China und den USA.

Philipp sieht sich dabei in einer gewissen Verantwortung als Medienmacher. „Im Digital- und Medienbusiness kommt man nicht mehr drum herum, auch politisch zu denken und mit zu gestalten. Allein die Fragen, die sich hinsichtlich Datenschutz und Plattformökonomie politisch stellen, darauf muss man eingehen.“

Vision und Persönliches

Ebenso sieht er seine Mission, den Mittelstand jenseits der Metropolen Berlin, Hamburg und München mit den digitalen Themen abzuholen. Er will für klassische Industrieunternehmen eine Plattform für Know-how im digitalen Business und für Weiterbildung schaffen.

Auch über Internationalisierungspläne denkt er nach. Zwei Mal wird er bereits aus dem asiatischen Raum auf eine Expansion angesprochen. „Das würde aber für mich bedeuten, viel Zeit in Asien zu verbringen. Das kann und will ich in meiner aktuellen Lebenssituation mit meiner Familie nicht. Das ist entschieden.“ Für ihn gibt es aber immer einen Weg. Er bringt einfach die Digital Leader*innen aus aller Welt auf das Festival nach Hamburg.

Interview mit OMR-Chef Philipp Westermeyer
changelog.blog Autorin Vera Vaubel im Interview mit OMR-Gründer Philipp Westermeyer in Hamburg

Weiterführende Links

OMR Festival

Dinner Berlin Podcast

 

 

 


Kuchentratsch-Gründerin Katharina Mayer

Kuchentratsch-Gründerin Katharina Mayer im Interview:
„Man kann nur im Austausch mit anderen lernen“

Omakuchen für alle als Geschäftsmodell? Katharina Mayer wagt den Schritt und gründet das soziale Start-Up "Kuchentratsch". Das süße Konzept dahinter: Senioren produzieren gemeinsam in einer Münchener Backstube hausgemachte Kuchen, können dabei neue Kontakte knüpfen und als Mini-Jobber ihre Rente aufbessern. Verkauft werden die Kuchen in ausgewählten Cafés und über den Onlineshop. Ein Projekt, bei dem auch die „Die Höhle der Löwen“ Jury zuschlagen muss: Dagmar Wöhrl und Carsten Maschmeyer investieren zusammen 100.000 Euro, die Kuchen-Lady gibt zehn Prozent ihrer Firmenanteile ab. Auf der K5 Female in Retail treffe ich Katharina und spreche mit ihr über ihren unternehmerischen Spirit und ihre Erfahrungen mit ihrem sozialen Start-Up.

Bei deinem Start-Up geht es dir ja vor allem darum, gesellschaftliche Aspekte unternehmerisch zu lösen. Vor welchen Herausforderungen stehen wir dabei in Deutschland?

Der demographische Wandel ist eine riesige Herausforderung! Mittlerweile ist das Thema unter den Stichworten “Altersarmut” und “Alterseinsamkeit” auch auf der politischen und gesellschaftlichen Agenda angekommen. Bisher gibt es eine lose Ansammlung von Ideen, Projekten, Fördergeldern, Ansätze in diesem Bereich. Wir freuen uns Teil von dieser Bewegung zu sein, die Antworten und Ideen zu der Frage “Wie wollen wir alt werden?” liefern.

 

https://www.youtube.com/watch?v=IrqJHPWRjbk

 

Denkst du denn, der demografische Wandel hat das Potenzial, unternehmerisch bzw. privatwirtschaftlich gedacht zu werden?

Ich glaube, das Ganze rein auf die Privatwirtschaft abzuwälzen, ist auch keine Lösung. Soziale Themen müssen auch von der Politik mitgedacht werden. Trotzdem denke ich, dass wir als „Social Start-up“, bei dem die Kombination zwischen wirtschaftlichem Ansatz und sozialem Wirken Erfolg hat, vielleicht so eine Art Experiment für Großunternehmen sein können. Wir sind sozusagen der lebende Beweis: hey, schaut mal, ein soziales Unternehmen kann auch profitabel sein! Vielleicht gerade weil die Kunden soziale Verantwortung und Werte schätzen und deshalb bewusst bei einem solchen Unternehmen wie Kuchentratsch einkaufen.

 

„Mit meinem sozialen Start-Up will ich sichtbar machen, dass man sich nicht nur im Ehrenamt engagieren kann, sondern auch in seinem Arbeitsumfeld Gesellschaft positiv gestalten kann.“

 

Siehst du für dein Start-Up eine kritische Größe, wo es - so wie es jetzt läuft - nicht mehr funktionieren könnte?

Für Kuchentratsch sehe ich sehr viel Potenzial für die Zukunft. Unser Konzept ist auf jeden Fall wachstumsfähig. Umso mehr Oma und Opas wir beschäftigen können, umso mehr erreichen wir unser Ziel. Wie in jedem Unternehmen gibt es gewisse Wachstumshürden zu überwinden. Wir sind positiv gestimmt, dass wir diese meistern werden. Uns freut es in der Praxis zu sehen, dass unsere Idee, gesellschaftliche Herausforderungen mit einem wirtschaftlichen Modell anzugehen, tatsächlich funktioniert und zukunftsfähig ist.

Woher hast du den Mut genommen, dich auf eigene Beine zu stellen und nicht einen klassischen Berufseinstieg bei einem Unternehmen zu wählen?

In meinem Studium habe ich mich stark mit gesellschaftlichen Herausforderungen auseinander gesetzt. Mir war klar, dass ich im Anschluss in einem Bereich arbeiten möchte, in dem ich eine positive Wirkung auf die Gesellschaft haben kann. Ich war schon immer ein Machertyp und konnte mich im klassischen Großkonzern und meist konservativen Stiftungsbereich nicht unbedingt wieder finden. Als ich die Idee zu Kuchentratsch hatte, war mir klar: Das muss ich jetzt einfach ausprobieren.

Wie kamst du auf die Idee dich mit deinem Start-Up bei Höhle der Löwen zu bewerben?

Ich hatte das Gefühl, dass wir mit Kuchentratsch im letzten Jahr am richtigen Punkt standen uns dieser Herausforderung zu stellen. Der deutschlandweite Kuchenversand war bereits gut angelaufen und wir brauchten ein höheres Investment, um diesen noch weiter auszubauen. Zudem war unser Online Shop bisher nur selbst zusammengebastelt, also haben wir das restliche Investment in den Relaunch unserer Website gesteckt.

 Was erwartet einen bei der Sendung und bzw. welche Erwartungshaltung hattest du selbst?

Ich selbst hatte die Erwartung, dass Opa Norbert und Oma Anni unsere Idee super persönlich vorstellen können, hatte jedoch nie im Leben mit einem Investment gerechnet. Umso schöner war es dann, als Dagmar Wöhrl und Carsten Maschmeyer uns einen Deal anboten und wir von allen Löwen außerordentlich tolles Feedback erhalten haben. Grundsätzlich erwartet einen ein wahnsinnig aufregendes und einmaliges Erlebnis: wir durften die “Löwen” vorher tatsächlich nicht sehen und waren dann schon ziemlich aufgeregt, als die Fünf - inklusive den ganzen Kameras - vor uns waren.

Was hast du aus der Zeit während der Dreharbeiten gelernt? Wie hat die Sendung dich verändert?

Es hat mir wieder gezeigt, dass es so ein wunderbares Gefühl ist, wenn man sich traut, mit seiner Idee rauszugehen. Man kann nur gewinnen und sei es, konstruktives Feedback zu bekommen. Die Sendung hat vor allem mein berufliches Leben beeinflusst. Ich habe tolle Anfragen als Speakerin bekommen seit dem Auftritt und darf zum Beispiel als Female Entrepreneurs of the Future - Coach tätig sein. Eine tolle Chance!

Stichwort Zeitmanagement. Wie arbeitest du bzw. wie organisierst du dich? Wie funktioniert das für dich in Zusammenarbeit mit älteren Menschen?

Ich versuche super strukturiert zu arbeiten, da ich tatsächlich sehr wenig Zeit für alles habe. Ich setzte mir für alle meine To-Dos fixe Termine und halte mich dann auch an meinen Kalender. Wo es geht, integriere ich digitale Medien, die mir Aufgaben abnehmen. Unsere Omas sind fast überwiegend per Mail erreichbar und mit Smartphones ausgestattet. Und die wissen auch: wenn sie mal Fragen haben, können sie immer beim Kuchentratsch-Büroteam anklopfen.

 

Soziales Start-Up Kuchentratsch: Oma Eva-Maria, Oma Moni und Oma Irmgard in der Münchner Backstube.

 

Wer sind deine Unterstützer und Mentoren? Kannst du dir eine solche Rolle auch für dich selbst vorstellen?

Mit meinem Team habe ich fantastische Unterstützer, die jeden Tag 150 Prozent geben, um die Idee von Kuchentratsch umzusetzen und weiterzuentwickeln. Bei der internationalen Entrepreneurs Organisation habe ich im Acceleratorprogramm tolle Peer to Peer Kontakte und den einen oder anderen Mentor gefunden. Dieses Umfeld unterstützt mich jeden Tag, mein Bestes zu geben. Als Coach bin ich ab Anfang März auch für das Format “Unternehmerinnen der Zukunft” von Amazon tätig und freue mich, mein Wissen weitergeben zu können.

Muss man als Gründer*in ein bestimmter Typ sein? Welche Charaktereigenschaften sind dafür wichtig? 

Eine gute Portion Selbstbewusstsein schadet auf jeden Fall nicht. Immer wenn man etwas wagt und präsentiert gibt es auch Menschen, die dein Ding oder dich selbst nicht gut finden. Steve Jobs hat mal gesagt: “If you want to make everyone happy, don’t be a leader, sell ice cream!”. Gleichzeitig hilft es, wenn man Geduld mitbringt. Ein Unternehmen startet nicht von heute auf morgen durch, da gibt es viele Höhen und Tiefen zu durchlaufen. Am wichtigsten ist es aber, dass man für seine Idee brennt. Erst dann entfaltet sich die Magie und die Bereitschaft an seine Grenzen zu gehen.

Welche Learnings würdest du weiter geben aus deiner bisherigen Lebensphase als Gründerin?

Machen, machen, machen! Das meiste lernt man in der Praxis und bei dem Sprung ins kalte Wasser. Und es gibt so viele Möglichkeiten, wie man seine Idee erstmal einfach austesten kann. Einfach einen Onlineshop aufsetzen und sagen, dass Produkt ist bald wieder verfügbar - schon sieht man, ob es dafür eine Nachfrage gibt. Immer wenn es möglich ist, seine Idee pitchen. Dabei merkt man, ob sie ankommt, wie man sie noch besser erklären kann und was die kritischen Punkte sind.

 

„Ich verstehe nicht, wie Menschen, aus Angst, ihre Idee würde geklaut werden, damit jahrelang alleine herumlaufen. Meiner Meinung nach kann man nur im Austausch mit anderen lernen.“

 

Hat man als Gründerin überhaupt noch ein Privatleben? Oder Hobbies?

Haha, ja, mein Terminplan ist wirklich eng und ich bin auch viel unterwegs. Das geht aber nur, weil mir meine Freizeit heilig ist – ich reise gerne, mache viel Sport und liebe es, in der Natur abzuschalten. Genau wie meine beruflichen Termine setze ich mir dafür feste Zeiten und versuche, diese so gut es geht einzuhalten.

Welche Ziele setzt du dir für die Zukunft?

Mit Kuchentratsch wollen wir zeigen, dass sich gesellschaftliche Wirkung und Wirtschaft nicht ausschließen. Für mich persönlich freue ich mich, wenn ich noch lange die Möglichkeit habe Kuchentratsch positiv zu gestalten und Neues auszuprobieren. Dieses Jahr liegt der Fokus im Firmenkundengeschäft und im deutschlandweiten Kuchenversand. Wir sind auf der Suche nach einer größeren Backstube in München, um von hier aus unseren Omakuchen per Post noch weiter auszubauen.

Danke für das Gespräch, Katharina!

 

Weiterführende Links:

Kuchentratsch Onlineshop

K5 Female in Retail


Seit über zehn Jahren lehrt und forscht sie zu sozialen Fragen der Internetökonomie und Technikgestaltung

Ethische Innovation im digitalen Zeitalter: Werte sind das neue „Bio“

Sarah Spiekermann ist Professorin an der Wirtschaftsuniversität Wien. Sie leitet dort das Institut für Wirtschaftsinformatik und Gesellschaft. Seit über zehn Jahren lehrt und forscht sie zu sozialen Fragen der Internetökonomie und Technikgestaltung. Auf der OOP Konferenz in München vergangene Woche hält sie einen Impulsvortrag über ethische Innovation. Sie ist davon überzeugt, dass sich die Frage nach digitaler Ethik nicht nur auf die derzeit diskutierten Themen wie Privacy, Security, Bias und Transparency beschränken darf. Sie fordert ein Umdenken in der System- und Softwareentwicklung, in dem Werte anstelle von Funktionalität treten. Und zeigt dies exemplarisch an einem experimentellen Case der Essenslieferplattform Foodora.

Was verstehen wir unter Innovation? Was ist Fortschritt? Welche Philosophie legen wir mit den Begrifflichkeiten zugrunde? Dazu führt Sarah Spiekermann in einen historischen Exkurs. In der Antike ist es Aristoteles, der die Welt mit seiner Erfahrungswissenschaft weiterentwickelt. Weisheit, Klugheit, emotionale Intelligenz des Menschen stehen dabei im Vordergrund. Im 12. Jahrhundert prägt der Philosoph Albertus Magnus den Begriff der Innovation mit experimenteller Wissenschaft. Es geht darum, „neue Dinge zu erfinden“. Der Spirit „neu ist gleich innovativ ist gleich gut“ macht Europa groß und reich. Erfindungen wie der Buchdruck, der Kompass, der Motor oder die Elektrizität ermöglicht den Menschen in Europa völlig neue Entwicklungspotenziale. Aus der Agrargesellschaft entwickelt sich eine Industriegesellschaft und der Fortschritt wird immer weiter vorangetrieben.

Faszination Technik veraltet

Durch den Sprung ins Informationszeitalter hat die Innovationskraft eine neue Dimension erreicht. Die Geschwindigkeit, in der technologische Entwicklungen voranschreiten, wächst exponentiell. Das hat Folgen: „In einer von der IT durchzogenen Welt ist diese Objekt unseres Designwillens. Wenn wir heute genau hinschauen, sehen wir lauter Dinge und Funktionalität. So funktionieren heute auch Unternehmen und Organisationen. Und wir Menschen arbeiten Product Roadmaps ab“, erklärt Spiekermann.

Aber die Faszination Technik schwindet. Fakt ist: Ein großer Teil der technikgetriebenen Innovation scheitert oder ist wirtschaftlich ein Flop. Laut der Langzeitstudie „Chaos Report“ der Standish Group werden nur 29 Prozent aller Softwareprojekte erfolgreich abgeschlossen. Von der Dunkelziffer abgebrochener IT-Projekten und der damit versenkten Investitionen ganz zu schweigen. Die Analysten von Vision Mobile schätzen, dass die große Mehrheit der App-Entwicklungen nicht rentabel ist. Rund 50 Prozent der iOS- und 64 Prozent der Android-Entwickler erzielen pro App weniger als 500 Dollar pro Monat. Die Umsätze mit Apps nehmen inner- und außerhalb von App Stores weiter zu, konzentrieren sich aber auf relativ wenige Anbieter. Und wie viele Start-Ups haben schon Energie in Softwareentwicklung gesteckt, die gnadenlos gescheitert sind? Vor diesem Hintergrund plädiert Sarah Spiekermann dafür, sich bei Systementwicklungen aufs Wesentliche zu konzentrieren: „Wir müssen mehr denn je die Werte hinterfragen, die durch Technik entstehen - dabei geht es nicht um Geld oder Effizienz. Sondern um Zufriedenheit, Gemeinschaft und Wissen. Nur so können wir in einer digitalisierten Welt ein gutes Leben führen.“

Experimentelles Planspiel Foodora

Wissenschaftler haben in einer aktuellen Studie die Auswirkungen von App-basierter Arbeitsorganisation vor allem für Mitarbeiter anhand von Essenslieferdiensten untersucht. Die Apps versprechen den Arbeitnehmern neue Freiheiten, üben aber gleichzeitig eine ungeahnte Kontrolle aus. Speziell das Geschäftsmodell „Essen auf Rädern“ Foodora befindet sich immer wieder hinsichtlich sozialen Umgangs mit Mitarbeitern bzw. den Fahrradkurieren in negativen Schlagzeilen.

 

https://www.youtube.com/watch?v=2mnb-p7zVvM

 

Sarah Spiekermann hat eine Gruppe von 40 Studenten in einem Planspiel vor die Aufgabe gestellt, neue Features für die Lieferplattform Foodora zu entwickeln. Das Ergebnis ist zunächst eine Liste an Funktionalitäten, die die App noch besser machen sollte. Zum Beispiel die Einführung eines Bewertungssystems für die einzelnen Fahrradkuriere, die Entwicklung einer Künstlichen Intelligenz, die auf Basis gefahrener Routen immer die schnellste Strecke für die Kuriere findet, Integration eines Fulltime GPS Tracking Systems, usw.

Wie geht ethische Innovation?

Spätestens an dieser Stelle schreitet die Universitätsprofessorin ein und schlägt eine andere Herangehensweise vor. Sie beauftragt ihre Studenten, sich bei der Aufgabenstellung mit drei philosophischen Fragen auseinanderzusetzen:

  • Wie wirkt sich die Technik langfristig auf den Charakter der betroffenen Stakeholdern, in diesem Beispiel speziell der Fahrradkuriere aus?
  • Welche menschlichen, sozialen, ökonomischen oder gesellschaftlichen Werte sind im Positiven wie im Negativen durch den neuen Dienst tangiert? Überwiegen Vor- oder Nachteile?
  • Welche persönlichen Maximen oder Wertephilosophien seht ihr durch den Service betroffen, die ihr aus eurer Sicht für so wichtig haltet, dass ihr sie gerne in unserer Gesellschaft bewahren möchtet?

Auf Basis dieser Fragen formulieren die Studenten plötzlich ganz klare Nachteile und Probleme auf der sozialen Ebene, die eine Arbeitsorganisation per App mit sich bringt. Darunter z. B. Erschöpfung der Kuriere, Machtlosigkeit gegenüber dem Tracking der App, totale Überwachung und Zeitdruck. Im Umkehrschluss entwickeln sie Ideen für ein neues Release der Foodora-App, die ganz andere Zwecke erfüllen.

Für die Kuriere konzipieren sie einen Gamification-Ansatz, das Ausliefern muss ja Spaß machen. Die Community der Kuriere soll gestärkt werden, der Teamgedanke mehr in den Vordergrund gestellt werden, z. B. gemeinsame Treffen in Leerlaufzeiten. Sportliche Ziele für Kuriere, die den Job aus Leidenschaft machen, werden mit berücksichtigt und die Ausfahrrouten entsprechend angepasst. Auch für die Stakeholder „Essensbesteller“ ergeben sich daraus innovative Ideen. So rückt die gesunde Ernährung in den Vordergrund. Wie wäre es denn, wenn man eine Ernährungsberatung mit in die App integriert oder einen Diät-Service?

Auf die Frage, ob sie die Konzeptideen ihrer Studenten bei Foodora präsentieren durfte, schüttelt Spiekermann schmunzelnd den Kopf. Die Marke Foodora wird vom deutschen Markt verschwinden. Nach einer überraschenden Übernahme im Dezember 2018 wird die Lieferplattform in Zukunft unter dem Dienst Lieferando agieren.

Wertebasiertes Design digitaler Systeme

Mit diesem Case zeigt Spiekermann, dass durch die wertebasierte Herangehensweise eine ganz andere Kultur an Innovation entsteht, nämlich die Schaffung von Werten auf gesellschaftlicher und sozialer Ebene. „Die Zukunft unserer digitalen Ethik liegt in der Wiederentdeckung unserer Werte. Wenn wir Werte beim Design unserer digitalen Technologien systematisch berücksichtigen und ihren Einsatz so planen, dass unsere Welt wieder wertvoller wird, dann sind wir auf dem richtigen Weg“, ist die Professorin überzeugt. Digitale Systeme bilden niemals die Realität ab. Egal, wie sehr man sich in Zukunft der Automatisierung verschreiben wird, bei diesem Ansatz wird immer die menschliche und soziale Komponente fehlen. Bei der Entwicklung und Ausgestaltung digitaler Systeme muss man sich daher umso mehr die Frage stellen, welche menschlichen Werte uns weiter bringen. Welche unternehmerischen, gesellschaftlichen und sozialen Probleme gibt es auf der Welt und wie kann man sie mithilfe von Technologie lösen?

Der wertorientierte Ansatz bei der Softwareentwicklung steckt heute noch in den Kinderschuhen. Sarah Spiekermann arbeitet aktiv in der IEEE, der weltweit größte technische Berufsorganisation, die sich dem Fortschritt der Technologie zum Nutzen der Menschheit verschrieben hat. Die Professorin entwickelt einen Standard, der beim Systementwurf ethische Fragen von Anfang an einbezieht. Es ist eine Methodik, um ethische Bedenken der User zu Beginn eines System- und Software-Lebenszyklus zu identifizieren, zu analysieren und in Einklang zu bringen.

 

 »Fortschritt braucht Weisheit und Mut – Maschinen fehlt beides.«
Sarah Spiekermann

 

Der Standard IEEE P7000 ermöglicht eine pragmatische Anwendung von wertebasierter Design-Methodik bei der System- und Softwareentwicklung. Ingenieuren und Technologen wird ein implementierbarer Prozess zur Verfügung gestellt, der Innovationsmanagementprozesse, Systemdesign-Ansätze und Software-Engineering-Methoden aufeinander abstimmt. Ziel dabei ist es, das ethische Risiko für ihre Organisationen, Stakeholder und Endbenutzer zu minimieren. Dieser Ansatz erfordert jedoch ein Umdenken in Unternehmen und Organisationen. Es bedarf in den Köpfen ein anderes Bewusstsein für den Begriff der Innovation und eine neue Form des Innovationsdenkens. „Wenn dieses Umdenken nicht passiert, schaffen wir mit unserem vermeintlichen Fortschritt nur Rückschritt“, ist Spiekermann überzeugt.

 

Weiterführende Links

Bericht über Gig Economy bei Foodora und Deliveroo auf heise online

Standard IEEE P7000

Prof. Dr. Sarah Spiekermann

 

 

 


Anne Kjaer Richer, Founder ReDI School

Porträt über die „Mutmacherin des Jahres 2018“ Anne Kjaer Riechert:
Wie digitale Integration funktioniert

Anne Kjaer Riechert ist Gründerin der ReDI-School, eine Programmierschule für Flüchtlinge und Organisation für digitale Integration. Vom Handelsblatt wurde sie letzte Woche zur „Mutmacherin des Jahres 2018“ gekürt. Auf dem Charity Brunch „What’s your Jouney?“ Anfang Dezember in München stellt sie ihr neuestes Projekt vor: ReDI Women – ein spezielles Schulungsprogramm für geflüchtete Frauen, das hilft, digitale Fähigkeiten zu entwickeln, Netzwerke aufzubauen und Selbstständigkeit zu fördern. Anne liegt dieses Projekt besonders am Herzen, will es weiter ausbauen und sucht dafür finanzielle Unterstützer. Um meinem Netzwerk Annes Spirit und Antrieb näherzubringen, darf ich sie auf ihrer ganz persönlichen und wie ich finde sehr bewegenden Reise begleiten. Ein Porträt einer sehr inspirierenden Frau.

Annes Geschichte beginnt schon vor ihrer Geburt. Nämlich mit ihrer Familiengeschichte. Ihre Großeltern haben in Deutschland den ersten Weltkrieg erlebt und sich geschworen, dass so etwas nie wieder geschehen darf. Sie werden Pazifisten und Verfechter der Demokratie. Sie produzieren in ihrem Familienbetrieb, einer Druckerei in Heide, pazifistische und sozialdemokratische Bücher und Schriften. Das passt den aufstrebenden Nationalsozialisten nicht, die Großeltern werden mehrmals verhaftet, die Druckerei gerät immer mehr unter Beschuss. Bei der Machtergreifung Hitlers im Jahr 1933 treffen die Großeltern eine schwere Entscheidung, nämlich zu flüchten.

80er Jahre. Anne wächst in Dänemark auf. Ihre Eltern erzählen ihr immer wieder die Geschichte und sie verinnerlicht ein Mantra: Man muss um Werte kämpfen und dabei auch manchmal schwere Entscheidungen treffen. Als Einzelkind wächst sie in einem Umfeld auf, das sie viel an Diskussionen mit Erwachsenen teilhaben und sie immer wieder die Warum-Frage stellen lässt. Sie ist neugierig und idealistisch.

Scheitern am Business Case NGO

Sie absolviert ein Innovationsstudium an der privaten Business School Kaospilot in Dänemark. Sie wird dort inspiriert von der Methodik, Produkte und Dienstleistungen nach realen menschlichen Bedürfnissen zu gestalten und nicht nach Vorgaben von Gewinnmaximierung oder von technischer Entwicklung. Nach ihrem Studium startet sie ihr eigenes Projekt "Kids have a Dream", das Teenagern auf der ganzen Welt dabei hilft, ihre Träume für die Zukunft zu definieren und zu verfolgen. Mehr als 4000 Kinder in über 30 Ländern haben in den vergangenen zwölf Jahren teilgenommen. Sie ist jedoch nicht in der Lage, das Projekt auf ein fundiertes Geschäftsmodell zu stellen. Die Lektion, die sie daraus lernt und sie bis heute begleitet: „NGOs müssen auch Geld verdienen, um die Belegschaft zu bezahlen. Wenn nicht, ist das Projekt weder nachhaltig noch skalierbar.“

 

„ Ich habe eigentlich nie einen Job durch eine Bewerbung bekommen.
Ich wurde immer durch mein Netzwerk empfohlen oder geleitet.“

 

Als externe Beraterin arbeitet sie drei Jahre lang in Kopenhagen, u.a. für Samsung Electronics. Dort ist sie für die Entwicklung und Umsetzung einer Strategie für nachhaltige Unternehmensführung in Skandinavien verantwortlich. Sie lernt, wie man gewinnorientierte und gemeinnützige Organisationen zusammenbringt. Wie man Projekte entwickelt, die für beide Seiten von Vorteil sind. Die Arbeit im Konzern macht ihr Spaß und sie ist erfolgreich, für ihren Geschmack aber noch nicht innovativ und wirkungsvoll genug. Sie entscheidet sich für ein weiteres Studium, und bekommt bei Rotary ein Stipendiat für ein zweijähriges Master-Studium in Friedens- und Konfliktforschung in Japan.

Digitale Integration

Danach zieht sie es nach Berlin. 2013 gründet sie in Zusammenarbeit mit der Stanford University das Berlin Peace Innovation Lab. Das Netzwerk wächst innerhalb von drei Jahren zu einer Gemeinschaft von 1700 Menschen. „Wir haben einen monatlichen Co-Creation-Workshop ins Leben gerufen, um die lokalen sozialen Herausforderungen in Berlin zu diskutieren und Ideen zu erarbeiten, wie diese gelöst werden können.“ Im April 2016 sitzt sie mit 40 Teilnehmern im Berliner Rathaus zusammen, um Ideen für die Unterstützung der Asylbewerber, die zu dieser Zeit nach Deutschland kommen, zu erarbeiten. „Wir hatten viele Stakeholder am Tisch - aber die wichtigsten fehlten: Die Flüchtlinge selbst.“ Sie fängt an, die Flüchtlingslager zu besuchen, um die wirklichen Bedürfnisse richtig zu verstehen - und mit den Menschen selbst zusammenzuarbeiten, um Lösungen zu finden.

Mark Zuckerberg trifft auf Rami Rihavi aus Alappo, der von einem Virtual Reality Projekt erzählt.
Begegnung zweier Tech-Geeks: Mark Zuckerberg und Rami Rihavi aus Alappo in der ReDI School.

Anne vergisst niemals, wie sie dort Mohammed begegnet, einem Programmierer aus dem Irak. Er hat Spaß am Programmieren, würde auch gerne arbeiten. Er besitzt aber weder einen Labtop noch das Netzwerk, um einen Job zu finden. Da kommt ihr der Gedanke: Warum nicht Technologien nutzen, um soziale Probleme zu lösen? Sie schreibt auf Facebook einen Post und fragt ihre Community, wer sie dabei unterstützen könne, Menschen wie Mohammed zu helfen. Mit der positiven Resonanz hätte sie nicht gerechnet. 30 Personen wollen gleich aktiv mitarbeiten. Bieten Hilfe in Form von Sachspenden wie Labtops an, erklären sich bereit, ehrenamtlich Kurse zu geben, stellen Räumlichkeiten zur Verfügung. Oder wollen einfach einen selbstgebackenen Kuchen mitbringen.

Fit für den deutschen Arbeitsmarkt

So entsteht die Idee der "Refugee on Rails", die sich später zur ReDI School entwickelt. „Ich kann selbst nicht programmieren - daher habe ich keine Tech-Schule gegründet, um meine eigenen Fähigkeiten einzusetzen. Stattdessen ist die ReDI School eine sehr pragmatische Lösung, um den Newcomern in Deutschland, der deutschen Wirtschaft und der deutschen Gesellschaft zu helfen.“ Es kommen viele Geflüchtete nach Deutschland, die Programmier-Vorkenntnisse haben oder zumindest technikaffin sind. Anne will diesen Menschen eine Perspektive geben und die schlummernden Talente fit für den deutschen Arbeitsmarkt machen. Bedarf ist allemal da: Es gibt in Deutschland laut Bitkom über 55.000 unbesetzte IT-Jobs. Eine feste Arbeitsstelle zu haben, ist ihrer Meinung nach Grundvoraussetzung für Integration.

 

„Wir müssen eine Plattform schaffen, auf der sich die Menschen
durch ein gemeinsames Interesse leicht verbinden können: Technologie.“

 

Zunächst startet Refugee on Rails mit einer „Wir-schaffen-das-Euphorie“, aber schnell kommen Anne und ihre ehrenamtlichen Helfer an ihr Limit. Auch aus eigenen Erfahrungen in der Vergangenheit weiß sie, dass sie es nur schaffen kann, wenn sie eine gemeinnützige Organisation als Unternehmung aufbaut. In dieser Findungsphase spielen ihre Partner Weston Hankins und Ferdi van Heerden eine große Rolle. „Wir haben fünf Monate lang Konzepttests durchgeführt, bevor wir dann tatsächlich die Organisation gegründet haben. Wir hatten auch enormes Glück, von Anfang unseren ersten Unternehmenspartner Klöckner & Co an Bord gehabt zu haben, die uns monetär unterstützt haben. Ansonsten hätten wir es nicht geschafft.“

Dann kommt Mark Zuckerberg zu Besuch in die ReDI-School. Ein persönlicher Meilenstein für Anne. Denn Mark Zuckerberg trifft auf Rami Rihavi aus Alappo, der von einem Virtual Reality Projekt erzählt, das er plant, um mit seiner Mutter in Aleppo sprechen und dabei seine Heimat sehen zu können. Umgekehrt soll seine Mutter sehen, wie er lebt. Ein Milliardär trifft einen Flüchtling – so scheint es von außen. Aber innerhalb weniger Minuten entwickelt sich ein Gespräch zwischen den beiden und es sind zwei Tech-Geeks, die sich unterhalten. So schnell verschwinden vermeintliche Grenzen. Für Anne ist dies einer dieser Aha-Momente, in denen sie merkt, dass sie das Richtige tut.

Umgang mit Bürokratie und Widerstand

Angela Merkel zu Besuch in der ReDI School
Politischer Besuch in der ReDI School: Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht mit den Student*innen

Das Richtige zu tun, ist nicht immer einfach. Anne muss einige Hürden nehmen und braucht langen Atem. Für die deutsche Bürokratie hat sie fast nur ein Kopfschütteln übrig. Etwa, als sie vier geflüchtete Frauen in der ReDI School einstellen will und an der Antragsstellung beinah scheitert. Oder die Anerkennung als Weiterbildungsinstitution, mit der die ReDI School offiziell Diplome ausstellen kann: ein monatelanger Aufwand für das Team, verbunden mit hohen Kosten. Ohne Spendengelder nicht möglich. Mit welcher Leichtigkeit sie davon erzählt, lässt erahnen, dass sie niemals die Geduld verliert. Beharrlich und mit viel Durchsetzungsvermögen setzt sie ihre Arbeit fort. „Ich fange einfach mal an. Es ist ein iterativer Prozess, manche Dinge kappen auf Anhieb, manche nicht. Und daraus lerne ich.“ Sie spricht das Mysterium des Hummelflugs an. „Manchmal fühlt sich das so an. Da die Hummel ja nicht weiß, dass sie nicht fliegen kann, tut sie es einfach trotzdem", fügt sie lachend hinzu. Es ist harte Arbeit, aber das empfindet sie nicht so. Denn sie sieht etwas wachsen, was sinnstiftend für die Gesellschaft ist.

Politischen Widerstand von rechts bekommt sie glücklicherweise wenig zu spüren. Offenheit und Dialog schützt sie davor, davon ist sie überzeugt. „Unsere Türen im Berliner und Münchner Büro stehen für alle offen. Wenn jemand Fragen dazu hat, was wir tun, kann er gerne zu mir kommen und mit mir bei einem Kaffee über die Differenzen sprechen.“ Sie versteht, dass viele Menschen Ängste haben und deshalb sehr kritisch gegenüber Integration sind. Sie gibt einen Rat: „Hört auf, über Flüchtlinge zu reden, fangt an mit Flüchtlingen zu reden“. Es macht einen Riesenunterschied, wenn man die Leute, die man in die Schublade „Flüchtlinge“ gesteckt hat, persönlich kennt - und erkennt, dass es viel mehr Gemeinsamkeiten gibt als das, was sie voneinander unterscheidet.

Diversität - auch bei der ReDI School

Nach zwei Jahren Coding-Kurse für Newcomer, stellt sie fest, dass nur 10 Prozent weibliche Teilnehmerinnen in den Kursen präsent sind. Um das zu ändern, setzt sie und ihr Team Co-Creation Workshops mit Frauen verschiedener Hintergründe auf, um ein Programm zu gestalten, das den Bedürfnissen der Frauen entspricht. „Seit Anfang September läuft unser 'Digital Women Programme' in München. Anfangs haben wir mit 25 Teilnehmerinnen geplant, aber die Nachfrage ist so groß, dass wir mehr Frauen unsere Schulungen ermöglichen wollen.“ Dazu läuft eine Spendenkampagne auf der Plattform Betterplace.org

 

„Was wir für die geflüchteten Menschen tun, tun wir in Würde und Demut.“

 

Das ist nur eines der Projekte, die für 2019 auf ihrer todo-Liste stehen. Schulungsprogramme für Frauen will sie kontinuierlich ausbauen und das ReDI-Kids-Programm in Berlin weiterentwickeln: „Unsere ehemaligen Schüler sollen zu Lehrern ausgebildet werden, um sowohl deutsche als auch Migrantenkinder IT zu unterrichten. Denn digitale Bildung ist der Schlüssel – alle Gesellschaftsschichten brauchen Zugang dazu.“ Die Gründung einer ReDI School am Standort Hamburg steht ebenfalls auf ihrem Plan.

Aber auch persönlich hat Anne sich für das kommende Jahr Ziele gesetzt. Sie will eine witzige Facebook-Selbsthilfegruppe "Karma Kaolation" ins Leben rufen und alle Menschen ansprechen, die wie sie in Zukunft weniger konsumieren wollen. Zum Beispiel keine neuen Klamotten mehr kaufen. „Ich denke, hinsichtlich unseres Konsums braucht die Welt eine radikale Veränderung. Ich werde ein kleines bißchen dazu beitragen und versuchen, auch mein Verhalten zu ändern, um umweltfreundlicher zu sein.“ Sie möchte aber auch Zeit für sich selbst finden, um in der Natur Kraft zu schöpfen. Sie ist gerade dabei, mit ihrem Partner eine Farm im Wendland in Niedersachsen zu kaufen. „Ich arbeite viel, deshalb ist es schön, am Wochenende einen Ort zu finden, an dem Ruhe und Frieden herrscht. Und genug Zeit, um mit Freunden und Familie am Lagerfeuer zu sitzen und über die Dinge zu sprechen, die uns wichtig sind.“ Dinge, die die Welt ein bisschen besser machen.

 

Weiterführende Links

Spendenaufruf für das ReDI Women Programme

ReDI School

Facebook-Selbsthilfegruppe Karma Kaolation


Alpecin Banner zum Singles Day in China

Singles Day: Wie die Marke Alpecin China erobert

China ist mit 188 Milliarden Euro Außenhandelsvolumen der wichtigste Handelspartner Deutschlands (Quelle Statista 2017). Verkaufsrekorde am Singles Day in diesem Jahr bestärken deutsche Unternehmen, den Schritt in das Reich der Mitte zu wagen. Wie aber kommen deutsche Produkte zum chinesischen Verbraucher? Die deutsche Haarpflegemarke Alpecin macht es vor und zeigt, wie Logistik, Produktion und On- und Offline-Marketing am Point of Sale optimiert werden, um an den Verkaufsrekorden am spektakulären Singles Day Online zu partizipieren. Ganz nach dem chinesischen Sprichwort von Laotse: „Auch der längste Marsch beginnt mit dem ersten Schritt“.

Als deutsches Unternehmen den Singles Day in China aktiv mitzuerleben und Verkäufe dort in Echtzeit auszusteuern ist ein Erlebnis - und bedeutet 24 Stunden Daueranspannung. Chapeau, wenn man angesichts des Marktvolumens dort nicht die Übersicht verliert. Alpecin, bekanntes Männershampoo gegen Haarausfall und Marke der in Bielefeld ansässigen Dr.Wolff-Gruppe, hat am 11.11.2018 diesen Tag hautnah miterlebt. Dank der Erfahrungen aus dem Vorjahr konnte das deutsche Team gemeinsam mit seinen chinesischen Kollegen vor Ort eine tolle Performance hinlegen und sieht weiter große Wachstumspotenziale im asiatischen Markt.

Der Markt muss zum Produkt passen

In Asien gilt gesundes, volles Haar als Status-Symbol. Asiatische Männer wie Frauen lassen sich Haarpflege-Produkte also durchaus etwas kosten. Der für das Jahr 2018 prognostizierte Umsatz im Bereich Hair Care beträgt in China umgerechnet rund 6 Mrd. Euro und ist seit Jahren stetig am Wachsen. Ein guter Grund für die deutsche Dr. Wolff-Gruppe, den Schritt nach Asien zu wagen. Zudem stehen deutsche Produkte in China hoch im Kurs beim Verbraucher. Auch Alpecin setzt beim Design der Flaschen auf „Made in Germany“ und färbt die Flaschenverschlüsse im Farbmuster der Deutschen Flagge.

30.000 Shampoo-Flaschen in 24 Stunden

2013 startete der Verkauf von Alpecin-Produkten in Asien, seit gut zwei Jahren ist die Marke auch in China vertreten. Um das gigantische Marktvolumen angemessen steuern zu können, entschied sich die Dr.-Wolff-Gruppe, zunächst Strukturen vor Ort aufzubauen. In Shanghai betreut heute ein achtköpfiges Team Vertrieb und Marketing in China – mit starkem Fokus auf verknüpfte Online- und Offline-Marketingaktivitäten. Jede dritte in Bielefeld produzierte Alpecin-Flasche wird heute nach Asien verkauft. Am vergangenen Singles Day erlebte die Marke einen wahren Kaufrausch.

Der 11. November 2018 , weltweit stärkster Verkaufstag nach dem US-amerikanischen Black Friday, lieferte dem Unternehmen einen Verkaufsrekord. Allein im eigenen Online-Flagshipstore setzte die Dr. Wolff-Gruppe 30.000 Produkte binnen 24 Stunden ab, insgesamt wurden rund 60.000 Shampoo-Flaschen verkauft. Aber dieser Ansturm wollte gut vorbereitet sein. Über Wochen hinweg bereitete sich das Unternehmen auf diesen Tag vor, passte Logistik und Produktion in Deutschland darauf an, stellte Verfügbarkeiten sicher und plante die Werbeaktivitäten. Dabei setzte das Alpecin-Team auf eine enge Verzahnung von stationärer und Online-Verfügbarkeit. Neben stationären Drogeriemärkten waren die Produkte vor allem auf Plattformen wir Alibaba, Tmall und JD präsent. In 3000 Premium-Supermärkten wurden zudem bereits Wochen vor dem Event spezielle Aktionspakete angeboten und promoted, die auch auf den Online-Umsatz einzahlten.

Werbemaßnahmen wurden in Echtzeit und kanalspezifisch ausgesteuert, auf  Kundenanfragen musste schnellstmöglich geantwortet werden. Gleichzeitig bestand eine Standleitung nach Deutschland, um die Zwischenstände Tag und Nacht zu berichten. In China sind Shopping-Möglichkeiten in Social Media-Kanälen sehr verbreitet und werden rege genutzt. Alpecin setzte daher am Singles Day auf zahlreiche Social Media Channels. Hier wurden verschiedene Werbemittel ausgetestet und in Echtzeit optimiert, Chat-Verläufe wurden ausgewertet, Reaktionen beobachtet und aus den Erfahrungswerten Learnings für zukünftige Kampagnen gezogen.

Alpecin im Online-Store zum SinglesDay China

Singles Day als Umsatzbooster?

Auch wenn viele Experten Extrem-Shopping-Tagen wie dem Singles Day oder Black Friday kritisch gegenüberstehen und warnen, dass bei hohen Werbeausgaben und Rabatten oft keine Gewinne übrig blieben: Für die Dr. Wolff-Gruppe hat sich die Teilnahme an dem Event nach eigenen Angaben rundherum gelohnt. Vor allem die Erfahrungen aus der Teilnahme schätzt das Unternehmen als sehr wertvoll ein. Allerdings hat sich Alpecin auch bewusst aus den oft desaströsten Rabattschlachten herausgehalten. Nur ganz normale Angebote habe das Alpecin-Team promoted, Rabatte lagen nicht höher als zehn Prozent.

Angetrieben durch die positiven Erfahrungen vom chinesischen Singles Day, plant das Unternehmen nun auch die Teilnahme am Black Friday in den USA. Gerade erst hat die Dr. Wolff-Gruppe ein Office in den USA eröffnet. Eines ist aber klar: Auch dort will man zuerst Erfahrungen sammeln, bevor in große Marketing-Kampagnen investiert wird. Unken-Rufen und Warnungen vor Schnäppchentagen wie Singles Day und Black Friday lassen das Unternehmen jedenfalls kalt: Wer seine Prozesse und Kosten im Griff hat, kann offensichtlich mit gestärkter Brust aus den Shoppingtagen hervorgehen.

Weiterführende Links:

www.alpecin.com

www.drwolffgroup.com

 

 

 


t3n, yeebase media GmbH

t3n-Gründer Andy Lenz im Porträt: „Es ist eine Frage der Zeit, wann zentrale Plattformmodelle abgelöst werden“

Andy Lenz ist Mitgründer der t3n, dem Magazin für digitale Zukunft, und hat eine enorme Erfolgsgeschichte als Herausgeber und Publizist hingelegt. Wir kennen uns seit den Anfängen der t3n und ich schätze ihn als zuverlässigen und inspirierenden Gesprächs- und Kooperationspartner. In einem sehr persönlichen Interview gibt er mir Einblicke in seine Denk- und Arbeitsweise, seine Ideale über die Zukunft, in der die Digitalisierung zu mehr Wohlstand und Gleichverteilung führen soll. Ein Porträt über einen digitalen Pionier.

Andy macht nach dem Abitur beruflich das, was er damals richtig gut kann: Events. Als Selbständiger organisiert er neben Partys auch Clubtouren und tingelt durch die Weltgeschichte. Kein Lebenskonzept auf Dauer, das merkt er schnell. Irgendwie macht er das Geschäft aber doch zehn Jahre lang. Er ist jung. Irgendwann kommt er an den Punkt, wo er einen Ausstieg sucht. Ausstieg durch ein Studium. Zu diesem Zeitpunkt ist er bereits 27 Jahre alt. Er braucht einen Plan, um das schnellstmöglich durchzuziehen. Mit seinem Freund Martin Brüggemann schafft er das Studium Informationsmanagement in gut der Hälfte der Regelstudienzeit mit einem unkonventionellen Konzept: Die beiden teilen sich die Vorlesungen auf, reichen sich Skripten weiter und schulen sich gegenseitig.

Anfänge des Pioniers

t3n Digitale Pioniere
Aktuelles t3n Cover, November 2018. Schwerpunktthema ist "Digitalisierung - was kommt danach?"

An der Fachhochschule Hannover treffen die beiden auf den Journalisten Jan Christe, damals als Hilfswissenschaftler am Lehrstuhl tätig. Er unterstützt sie bei der Idee, ihre Diplomarbeit als Print-Magazin zu veröffentlichten und bringt seine journalistische Kompetenz mit ein. Dann kommt eines zum anderen und lässt sich als Dominoeffekt beschreiben. Die Themen OpenSource und TYPO3, über die sie als First Mover im deutschsprachigen Raum den Content veröffentlichen. Andys Onkel, der im Druckgewerbe arbeitet und ihnen die Möglichkeit verschafft, eine Auflage von 5000 Exemplaren zum Selbstkostenpreis zu drucken. Eine Content-Marketing-Strategie sowie 1000 kostenfreie Magazine als Growth-Hack-Start. Sparringspartner golem.de und heise.de, die mit ihrer enormen Reichweite den Magazinverkauf maßgeblich treiben, sorgen dafür, dass die Ausgabe nach wenigen Tagen vergriffen ist. Und das altbewährte Verlagskonzept, über den Heftversand Daten von Lesern abzugreifen. So baut man Communities auf.

Darauf folgt die Erkenntnis: „Ok, wir sind jetzt ein Start-Up! Wir hatten kein Büro, unsere Idee ist auf unseren WG-Sofas entstanden“, erinnert sich Andy. Und dann haben die drei die Ausschreibung von HannoverImpuls und der Sparkasse an der Uni hängen sehen: Ein Businessplanwettbewerb mit einem Preisgeld von 18.000 EUR für den Sieger. „Da war uns klar, das müssen wir durchziehen.“ Es folgt die Gründung einer GbR, der Businessplanentwurf auf Basis der Diplomarbeit, die Wettbewerbseinreichung. Und am Ende gehen die drei im Jahr 2005 mit einer Grundausstattung an Startkapital als Sieger aus dem Wettbewerb hervor.

Kritische Größe bei Start-Ups

Den daraus resultierenden Erfolg, kann Andy heute rückblickend nur mit dem konsequentem Handeln, Qualitätsbewusstsein und dem Willen zum Erfolg erklären. Er schafft es mit seinen Mitgründern, ein kontinuierliches, lineares Wachstum einer Print- und Onlinepublikation hinzulegen. Im Gegensatz zum allgemeinen Trend der Verlagsbranche, die mit rückläufigen Zahlen zu kämpfen hat. „Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, in einer Krise zu stecken und das meine ich nicht überheblich. Wir gehen in Planungen nicht von „best cases“ aus und arbeiten immer mit großem Puffer.“ Andy ist dankbar, dass die Geschäftsidee und das Businessmodell seit über 10 Jahren jährlich beständig ca. 20 Prozent wachsen. Es hätte auch anders laufen können.

"Organisationsentwicklung ist ein Strategiespiel wie Risiko oder Monkey Island."

Die größte Herausforderung sieht er, als sein Unternehmen die kritische Größe von 30 Mitarbeitern überschreitet. Er bezeichnet das als Meilenstein, weil sich ab diesem Zeitpunkt alles verändert. Nicht nur für ihn, Martin und Jan. Auch für alle anderen Mitarbeiter. „Bei unter 30 Leuten ist man als Gründer noch mittendrin – bekommt alles Operative mit. Danach wird es schwierig. Das fängt mit Kleinigkeiten an, wie z. B. dass alle nicht mehr gemeinsam zum Mittagessen gehen. Dass man plötzlich nicht mehr auf einer Etage arbeitet. Dass nicht mehr alle in einen Meetingraum passen. Der Kommunikationsaufwand wächst exponentiell und man merkt schnell, dass Flurfunk allein nicht funktioniert und wie wichtig Management-, Kommunikations- und Leadershipskills plötzlich werden.“

Holokratie: Effektiv ohne Chef

An diesem Punkt stellt sich natürlich für Andy die Frage, wie man sich als unternehmerische Organisation strukturiert. Obwohl klassisch begonnen, kommt ein hierarchisches Pyramiden-Organigramm für ihn nicht infrage. „Wir wachsen schnell, wir propagieren überall agiles Arbeiten – da können wir unsere Organisation nicht old school strukturieren. Außerdem entspricht das nicht meiner Überzeugung.“ Also stellen die inzwischen vier Geschäftsführer die Firma in Clustern nach Themen auf, die wiederum in Teams unterteilt sind. Die Struktur ist flexibel und ändert sich, wenn sich die Anforderungen verändern. Die Menge an Entscheidungen und Ideen, die im Team gecrowdsourced werden, wächst. Vorbild ist u.a. das von Spotify kultivierte Squad-Framework. „Ziel ist es, den Grad an Eigenverantwortung und Transparenz in den Clustern, bei uns Units genannt, und den darin liegenden Teams Jahr für Jahr zu erhöhen. Ein spannender Prozess, bei dem hier und da noch Rahmenbedingungen fehlen. Es gibt viel gemeinsam zu lernen!“

"Skills lassen sich lernen und vermitteln, Charakter nicht."

Er glaubt fest daran, dass self-managed Teams mit Eigenverantwortung funktionieren, wenn man Stück für Stück die richtigen Voraussetzungen dafür schafft. Dazu gehört in erster Linie, dass jeder Einzelne lernt, unternehmerisch zu denken. Weiter muss die Vision, Kultur und Identität der Firma glasklar und gemeinsam definiert sein. Hierzu wird im Team, über 18 Monate hinweg ein sogenanntes BrandBook entwickelt, dass jedem Mittarbeiter und Partner ausgehändigt wird. Andy interessiert sich für Holokratie als Führungsstil – im Prinzip das Führen ohne Chef. Er hält dies in Reinform zwar für unrealistisch und sagt, dass das schwer umzusetzen ist. Die  Gefahr droht, im Chaos zu enden. Dennoch gewinnt er auch diesem Managementprinzip etwas ab. „Wir stecken immer noch im Prozess – sowas hört nie auf. Spielerisch und iterativ addieren wir, was hilft, Sinn macht und uns zugutekommt: Das Team, aktuell bestehend aus 70 Mitarbeiter*innen, ist jung. Das Durchschnittsalter beträgt 28 Jahre, viele sind digitale Nomaden. Digitale Pioniere wollen das nicht anders und suchen immer nach neuen Wegen."

Motivation und Inspiration

Für ihn persönlich ist seine Arbeit und die Organisationsentwicklung wie ein Strategiespiel. „Früher habe ich stundenlang mit meinen Freunden Risiko oder Monkey Island gespielt – die Parallelen zu heute sind erstaunlich. Daher auch die Idee mit den Digital Pioneers: Da assoziiere ich Enterdeckertum und Abenteuerlust.“ Er sucht das Abenteuer und wägt dabei gleichzeitig das Risiko ab. „Trial and error“, und das mit seinen besten Freunden im Job – sein persönliches Umfeld motiviert ihn enorm. Seinen eigenen Charakter beschreibt er als kreativ, frech und humorvoll. Das spiegelt sich auch in der DNA der t3n wieder. Er legt großen Wert darauf, dass das Team zusammen passt. „Beim Recruiting legen wir mehr Wert auf einen guten und zu uns passenden Charakter mit guten Vorraussetzungen, als rein auf die tatsächlichen Qualifikationen zu blicken. Skills lassen sich lernen und vermitteln, Charakter nicht.“

"Es ist eine Frage der Zeit, wann die datengetriebenen, siloartigen, zentralen Plattformmodelle abgelöst werden."

Gleichzeitig sucht Andy die Inspiration durch den Austausch mit jungen, agilen Unternehmen. Er verschafft sich Zugang zu den Protagonisten. „Ich spreche die Leute gerne direkt an und frage nach, ob sie an einem persönlichen Austausch interessiert sind. Das sind die meisten. Man kann viel voneinander lernen, wenn man mit offenen Karten spielt – und beide Seiten profitieren davon.“ Er zieht dabei den Vergleich zum Trüffelschwein, das bei der Trüffelsuche vom gleichen Motiv geleitet wird wie er bei seinem Business: Leidenschaft.

Mehr Wohlstand durch weniger Kapitalismus

Andy zeichnet ein klares Bild von der Zukunft der digitalisierten Gesellschaft. „Die Automatisierung wird und muss uns helfen, besser zu arbeiten und zu leben. Unsere Lebensarbeitszeit können wir verkürzen. Wenn wir es schaffen, die Digitalisierung und Wertschöpfungsprinzipien positiv zu konnotieren, sind wir in der Lage, mehr Wohlstand für alle zu erzeugen. Mahnende Dystopien gibt es viele, unsere Aufgabe ist es doch, diese zu vermeiden.“ Seiner Auffassung nach können dadurch soziale und ethische Fragen sowie ehrenamtliches Engagement dafür in der Gesellschaft wieder mehr in den Vordergrund treten als rein kapitalistische Prinzipien. Ähnliches gilt für die Funktionsweise des Internets. Die Zukunft sieht er in blockchainbasierten, dezentralen Plattformen und Technologien. „Es ist eine Frage der Zeit, wann die datengetriebenen, siloartigen zentralen Plattformmodelle abgelöst werden. Aus meiner Sicht und aus Infrastruktursicht hat der Prozess der Umverteilung mit der Schaffung von dezentralen Datenspeichern, dezentralen Währungen und dezentralen Anwendungen (DAPPS) bereits begonnen.“

 

Weiterführende Links

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Digital Pioneers