Wolf Lotter

Publizist Wolf Lotter:
„Komplexität erschließen, um Vielfalt zu gewinnen.“

Was wird uns helfen, die Corona-Krise zu überwinden? Die Komplexität unserer Welt, die uns die Krise vor Augen führt, scheint unüberwindlich. Ich habe mit Journalist Wolf Lotter, dem Mitgründer der Zeitschrift „brand eins“ und Buchautor, über Wissensökonomie, Technologien und Innovationen gesprochen. Seine Botschaft: Wir müssen lernen, uns aus den vorgegebenen Strukturen zu befreien. Wir müssen von der Vorstellung abrücken, dass es in Zukunft nur eine Lösung und eine Wahrheit gibt. Ein sehr inspirierendes Gespräch über Krisenbewältigung in der heutigen Wissensgesellschaft.

Herr Lotter, Sie bezeichnen sich selbst auf ihrem Twitterprofil als Zivilkapitalist. Was genau verstehen Sie darunter?

Einen Zivilkapitalist nenne ich eine Person, die die Mittel der Marktwirtschaft nutzt, um selbstbestimmter und emanzipierter, freier leben zu können. Also nicht als abhängig Beschäftigter, wie die meisten es im Angestelltenverhältnis tun. Man kann beobachten, dass unsere Gesellschaft zunehmend eine bequeme Haltung eingenommen hat. Zuerst verlässt man sich auf seine Eltern, später auf den Chef oder das Management. Das hat nichts mehr damit zu tun, sich gesellschaftlich zu emanzipieren oder beruflich etwas voranzubringen.

 

„Wenn ich innovativ sein will, muss ich mit Widerstand rechnen.“

 

Bedeutet das Ihrer Meinung nach, dass wir in Deutschland in einer Kultur der Abhängigkeit leben und arbeiten?

Wir haben eine Kultur, in der es einfacher ist, sich bedienen zu lassen als sich durchzusetzen. Diese Nicht-Widerständigkeit wird legitimiert, indem man es Leuten leicht macht, sich nicht verändern zu wollen und andere auszunutzen. Man kann nicht über Veränderungen zum Besseren, z.B. bessere Löhne oder bessere Arbeitsbedingungen reden, wenn man nicht auch über die Machtfrage redet. Und dazu gehört immer das Selbstbewusstsein, dass man weiß, was man kann und was man tut. Nur dann funktioniert es.

Bieten die unternehmerischen Organisationsstrukturen überhaupt die Möglichkeiten, sich als Zivilkapitalist zu emanzipieren?

Der Berater Jürgen Fuchs hat einmal die Arbeitswelt mit einem Satz beschrieben: Angestellte sind Menschen, die morgens um neun Uhr angestellt und abends um fünf Uhr wieder ausgestellt werden. Wir denken in Arbeits- und Organisationsformen, die von gestern sind. Wir leben zwar in einer Netzwerkgesellschaft, wir reden gerne von Agilität, wir reden gerne von New Work, aber wir machen das alles nicht.

 

„Ändert etwas und haltet etwas aus, das ist die kulturelle Voraussetzung für Innovation.“

 

Durch die Corona-Krise wurden von heute auf morgen viele Arbeitnehmer zu Homeoffice verbannt. Glauben Sie, dass das der Beginn einer nachhaltigen Entwicklung zu neuen Arbeitsformen ist?

Solange wir immer noch nicht akzeptiert haben, dass es dort Arbeit gibt, wo der Kopf ist, sicher nicht. Der Vordenker der Wissensökonomie, Peter Drucker, hat es einmal gesagt: Das Kapital des Wissensarbeiters befindet sich im Kopf, dort findet die Produktion und die Wertschöpfung statt. Nicht in einem Büro, nicht in einer Organisation, nicht an einem Schreibtisch. Aber in der heutigen Arbeitswelt fahren wir alle zu einem bestimmten Ort, um zu arbeiten und damit befinden wir uns eigentlich noch immer in der Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts.

Ist die Krise vielleicht die große Chance, das zu verändern?

Ich bin pessimistisch, dass die Krise zu radikalen Veränderungen beitragen wird. Die Krise hat in unserer Arbeitswelt zu einer Reaktion geführt und nicht zu einem Fortschritt, weil die Unsicherheit noch verschärft worden ist und die Leute sich noch mehr darauf verlassen, was der Chef in der Organisation sagt. Verschlimmert wird das dadurch, dass die Menschen nun zwangsweise die Erfahrung mit Homeoffice und Remote Work in negativem Kontext erleben, nämlich in häuslicher Isolation und im Krisenmodus.

Sie glauben also, dass die Krise einen negativen Effekt auf die Digitalisierung der Arbeitswelt hat?

Die am besten ausgebildeten Generationen, die je in Europa am Arbeitsmarkt waren, Leute, die fast alle studiert haben, sind nicht in der Lage, sich selbst als jemanden begreifen, der für sich selbständig zuhause arbeiten kann. Man muss kritisch reflektieren, was das bedeutet: Wenn die Menschen auf sich selbst zurückgeworfen werden, ist das in eine Drohung. Und zwar aus dem Grund, dass die meisten das nicht ertragen können und darin liegt das Problem.

 

„Wenn wir damit anfangen würden, uns selbst zu akzeptieren, uns selbst wertzuschätzen, dann können wir auch eine bessere Gemeinschaft sein.“

 

Sie schreiben aktuell ein Buch über „Zusammenhänge“, das im Herbst veröffentlicht werden soll. Welche Thesen stellen sie darin auf?

Es ist die Fortführung der Thesen, die Peter Drucker aufgestellt hat. In unserem Jahrhundert wird Wissen immer individueller und feingliedriger. Das ist ein Produkt der Arbeitsteiligkeit und führt dazu, dass wir immer mehr Spezialisten haben, die sich untereinander verstehen, aber kein anderer versteht sie mehr. Um Wissen produktiv zu machen, müssen wir lernen, Zusammenhänge herzustellen. Menschen, die mehr Freiräume wollen, müssen lernen, ihr Wissen zu teilen.

„Wissen teilen“, das propagiert zurzeit jedes Managementseminar ….

Die Frage ist doch, ob das nur eine Phrase ist oder ob man wirklich in der Lage ist, das Wissen zu teilen. Wissen teilen ist im Grunde erst dann möglich, wenn man sich richtig ausdrücken kann. Wir werden erst zur Wissensgesellschaft, wenn wir Dinge verstehen und auch erklären können. Und davon sind wir weiter entfernt als je zuvor.

Wie meinen Sie das bzw. können sie das anhand eines Beispiels erläutern?

Die Informationstechnologie als Beispiel: Das ist eine einzige Blackbox, verschlossene Systeme, die keiner begreift. Die nachfolgende Generation, die sogenannten „Digital Natives“, sie können die Technologie konsumieren, sie verstehen aber nicht, was sich dahinter verbirgt, weil sie es nie gelernt haben. Ganz zu schweigen von dem kritischen Umgang mit Technologien. Die Digital Natives haben noch nicht einmal gelernt, zu entscheiden, wann sie ein- oder ausschalten sollen. Damit geht eine wichtige Kultureigenschaft verloren.

 

„Ich kenne viele Unternehmer aus der älteren Generation, die innovationsfreudiger sind als ein Rudel Studenten.“

 

Sie kritisieren also, dass wir Technologie nur konsumieren?

 Ich bin kein Gegner des Konsums und des Wachstums. Im Gegenteil, beides ist menschengerecht, um sich weiter zu entwickeln. Aber ich kritisiere – und das schon lange – dass sich die westliche Konsumgesellschaft zum Großteil nur noch in der Rolle des passiven Verbrauchers befindet, und die Betonung liegt auf NUR. Die Menschen begnügen sich damit, am Ende der Nahrungskette Dinge zu verbrauchen und halten sich dabei für revolutionär. Aber sie sind nie bereit, die Welt zu gestalten und sie verfügen nicht über die Sachkenntnis, Zusammenhänge herzustellen.

Welche Voraussetzungen müssen geschaffen werden, um Zusammenhänge herstellen zu können?

Man braucht zumindest Wissen über Ökonomie, über Technologie. Und man muss wissen, wie unternehmerische und gesellschaftliche Organisationen funktionieren. Und man braucht ein Bildungssystem, das uns etwas anderes lehrt, als sich einzufügen und unterzuordnen. Das wird schon seit Jahrzehnten gefordert. Ich versuche, in meinem Buch zu beschreiben, wie die Netzwerkökonomie funktioniert. Anders als in der Vergangenheit, als eine Regel, ein Standard, eine Norm für alle galt, betreiben wir heute Ökonomie von Fall zu Fall, von Bedarf zu Bedarf. Das heißt, wir müssen uns immer wieder auf neue Bedingungen einlassen, uns einer anderen Sprache bedienen, uns einen anderen Zugang verschaffen, in der Kommunikation emphatisch sein.

 

„Ein starkes Ich wohnt in einem starken Wir.“

 

Das klingt komplex!

Die Welt ist komplex. In der Vergangenheit hatten wir Menschen die Aufgabe, Komplexität zu reduzieren. Sei es mit Erklärungsmodellen, mit Technologien, damit die Welt uns nicht zu kompliziert erscheint. In Zukunft wird es darum gehen, Methoden und Werkzeuge zu entwickeln, die Komplexität erschließen. Und damit Vielfalt und Unterschiedlichkeit möglich machen.

Lässt sich die Komplexität unserer Welt und eine Krise, wie wir sie jetzt erleben, mit Vielfalt lösen?

Wir müssen von der Vorstellung abrücken, dass in der Wissensökonomie nur eine Lösung und eine Wahrheit gibt. In Zukunft wird es darauf ankommen, so miteinander zu kommunizieren, dass wir uns in der einen Sache einigen können. Das wird nicht einfach werden, denn wir haben lediglich gelernt, mitzumachen oder wegzugehen. Das wird gerade nach der Corona-Krise nicht mehr möglich sein. Wir müssen lernen, so miteinander zu kommunizieren, dass jeder den anderen versteht und zu akzeptieren, dass es auch andere Wahrheiten und andere Realitäten gibt, als die wir selbst antizipiert haben.

 

„Wir brauchen keine nützlichen Idioten, die dem System und der Bürokratie dienen, sondern Leute, die es unternehmerisch anpacken.“

 

Was ist Ihr Rat an die Unternehmen, vor allem an die Kleinunternehmer und Mittelständler, die von der Krise besonders stark betroffen sind?

Wenn uns die Krise etwas zeigt, dann dass wir uns nicht auf die Welt der Bürokraten und die Welt der Konzerne mit ihren Angestellten-Apparaten verlassen können. Mein Appell an die selbstbewussten Zivilgesellschafter: Emanzipiert euch! Schafft euch eigene Strukturen, organisiert euch selbst in Syndikaten oder genossenschaftsähnlichen Organisationen, macht euch gemeinsam stark und setzt eure Interessen durch. Das ist die Zukunft von Netzwerkökonomie.

"brand eins"-Mitgründer, Publizist und Buchautor Wolf Lotter (Jahrgang 1962), Fotocredit: Sarah Esther Paulus

Vielen Dank für das Gespräch, lieber Herr Lotter!

 

Weiterführende Links

Über Wolf Lotter

Wolf Lotter in der „brand eins“ über Eigensinn, 2020

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Mentalist: Erfolg ist der größte Feind von Veränderung


Mann arbeitet im Homeoffice

Plötzlich Home-Office:
Was wir jetzt von Remote-Only Unternehmen lernen können

Allein gelassen im Home-Office? Viele Berufstätige sind durch die Corona-Krise nicht nur häuslich isoliert. Eine Pandemie, die die Gesellschaft und das Arbeitsleben massiv verändert. Meine Hypothese: Je länger die Corona-Krise dauert, desto mehr werden strukturelle Veränderungen in der Arbeitswelt eintreten. Man wird das Rad nicht einfach mehr zurückdrehen können. Es wird aber nur gelingen, wenn auch mit digitalen Technologien die soziale Vernetzung aufrecht erhalten bleibt. Das können wir jetzt von Remote-only Unternehmen lernen.

Die Corona-Pandemie lässt unsere Gesellschaft, die völlig auf Konsum ausgerichtet ist, gerade von 100 auf Null herunterfahren. Das Arbeitsleben verlagert sich in die eigenen vier Wände. Wo es möglich ist, schicken Unternehmen ihre Mitarbeiter ins Home-Office, um Infektionsketten zu unterbrechen. Jetzt, in der Krise, in dem das Gebot vorherrscht, sich in Selbstisolation zu begeben, wird plötzlich Home-Office zu einem Muss, um unternehmerisch das Nötigste am Laufen zu halten. Für viele Unternehmen ist das nicht nur eine technische Herausforderung, sondern auch ein soziale.

Berufstätige arbeiten im Krisenmodus und hohem Stresslevel zuhause

Die Berufstätigen, die nun ins Home-Office verbannt sind, sind nicht vorbereitet, das Umfeld ist nicht darauf ausgerichtet, auch die Räumlichkeiten nicht, von arbeitsrechtlichen Vorgaben seitens der Berufsgenossenschaft mal ganz abgesehen. Soziale Nöte werden in Kürze ans Tageslicht rücken.

Es sind zwei Personengruppen, die besonders betroffen sind: Zum einen die Mitarbeiter, die nun allein zuhause sind und arbeiten sollen. Sie sind isoliert, von der Außenwelt abgeschnitten. Sie müssen sich ab sofort selbst organisieren, was vorher der Büroalltag und die Strukturen des Unternehmens vorgegeben haben. Die zweite Gruppe sind die Familien mit ihren Kindern, die plötzlich Home-Office und Home-Schooling oder Kleinkind-Betreuung gleichzeitig unter einen Hut bekommen müssen. Es gibt keine Tagesabläufe, keine Strukturen, der Stresslevel steigt bei allen Beteiligten.

Ist sozialisiertes Arbeiten in den eigenen vier Wänden möglich?

Dies sind keine idealen Bedingungen für Unternehmen, um eine Krise zu bewältigen. Gerade in Krisenzeiten brauchen Unternehmen kreative Mitarbeiter und Leute, die vorwärts denken. Nichts ist mehr so wie es war. Viele stellt die Krise vor existenzielle Fragen: Wie kann mein Businessmodell in Zukunft aussehen? Das geht nur mit Teams, die ein positives Mindset haben. Isoliert im Home-Office ist das nur schwer möglich.

In diesem Kontext ist der soziale Austausch ein wichtiger Baustein. Unternehmen, die in der Krise auf remote umstellen, müssen sich in der Kürze der Zeit folgende Fragen stellen: Wie organisiert man sich? Wie werden Aufgaben delegiert, wie organisiert man die Teams? Welche Rolle übernehmen Führungskräfte? Wie motiviere ich die Mitarbeiter, wie kann ich dafür sorgen, dass sie sich nicht im Stich gelassen fühlen? Wie bekommen wir die Menschen, die im Büroalltag ihre sozialen Kontaktpunkte hatten, mit der digitalen Vernetzung sozialisiert?

Voraussetzung dafür ist es, von dem Mitarbeiterbild der „Human Ressource“, von dem Unternehmenskulturen und Personalmanager jahrzehntelang geprägt waren, abzurücken und auf den menschlichen, sozialen Charakter zu fokussieren.

Lernen von Remote-Only-Unternehmen

Nina Jonker-Völker, Head of Marketing beim Start-Up Frontastic arbeitet schon seit Jahren im remote-only Modus.

Es gibt einige wenige Unternehmen, deren Business-Modell und Arbeitsweise auf dem Remote-only-Modus basieren. Von denen gilt es, schnell zu lernen. Ich habe mit Nina Jonker-Völker gesprochen, sie ist Head of Marketing beim Start-Up Frontastic und verrät mir, welche Erfahrungen sie bisher mit New Work gemacht hat und was aus ihrer Sicht die Corona-Krise im Arbeitsleben der Zukunft verändern wird.

Nina, wie war die Umstellung auf Remote Work als du bei Frontastic eingestiegen bist?

Nina Jonker-Völker: Ich hatte zuvor bereits Teilerfahrung mit Remote Working, z.B. durch meine Arbeit im Außendienst, in internationalen Teams großer Konzerne, oder auch als Digital Nomad während meiner Weltreise. Mich allerdings in ein komplett digitales Team einzufügen, habe ich insbesondere in der Einarbeitung als Herausforderung empfunden. Ich musste mich zum Beispiel sehr daran gewöhnen, komplett in der Cloud zu arbeiten, alle normalen Office-Interaktionen bewusst zu virtualisieren, und nebenher mit einem ganz neuen Level an Transparenz zu arbeiten. Insgesamt habe ich etwa eine Woche gebraucht, um mich an den Remote-Native-Modus zu gewöhnen. Jetzt würde ich diese Flexibilität nicht mehr hergeben.

Wie tauschst du dich mit Kollegen aus, welche Rolle spielt die soziale Komponente?

Nina Jonker-Völker: Im "Normalen" tauschen wir uns asynchron über Slack aus. Wenn Themen, Diskussionen oder Herausforderungen über den Schriftweg nicht zu einer Lösung führen, wechseln wir in synchrone Kommunikation und nutzen Videokonferenzen. Wichtig ist dabei der Grundsatz "Video vor Audio". Wann immer es geht, sollte die Kamera an sein, denn Video transportiert so viel mehr Kommunikationsfacetten und führt dazu, dass wir uns auch in Distanz als Team verbunden fühlen. Du siehst, die soziale Komponente ist nicht zu unterschätzen! Ich würde sogar so weit gehen, dass der aktive Austausch mit Kollegen auf persönlicher, sozialer Ebene in Remote Native Firmen noch viel wichtiger ist als in Unternehmen mit physischen Büros. Soziale Kontakte sind letztlich doch das Schmiermittel, das Teams überdurchschnittlich erfolgreich macht.

Gibt es im Remote Modus so etwas wie Socialising? Wie sieht das aus? Gibt es z. B. gemeinsamen Mittagstisch über Videokonferenzen?

Nina Jonker-Völker: Ja, wir haben ganz bewusst Socialising-Momente in unseren Arbeitsalltag eingebaut. Dazu nutzen wir eine Anzahl von Tools, die uns dabei helfen, sich auch wirklich die Zeit zu nehmen, mit den Kollegen zu socialisen. Ein schönes Beispiel ist unser Virtual Coffee Klatch. Wir haben quasi den Small Talk an der Kaffeemaschine virtualisiert: Jeden Tag um 10.30h treffen sich alle Kollegen, die Lust und Zeit haben, in einer zentralen Videokonferenz und trinken gemeinsam Kaffee. Dabei versuchen wir soweit wie möglich, nicht parallel zu arbeiten, sondern uns wirklich aufeinander zu konzentrieren. Ein anderes Beispiel ist ein Chatbot, der uns zu bestimmten Zeit auffordert, persönliche Details mit unseren Kollegen zu teilen. Dinge wie "Was machst Du in Deiner Freizeit? Welche Bücher hast Du zuletzt gelesen? Welchen Sport betreibst Du? Was war am Wochenende bei Dir los?" Natürlich ist die Beantwortung der Fragen komplett freiwillig, die Antworten helfen uns aber, uns auch remote als Kollegen persönlich kennenzulernen.

Was ändert sich gerade durch die Corona-Pandemie in Bezug auf dein Homeoffice, insbesondere im Hinblick auf soziale Kontakte?

Nina Jonker-Völker: Tatsächlich sind wir wohl in der glücklichen Situation, dass sich unser Arbeitsalltag durch die Corona-Pandemie erstmal nur bedingt ändert. Als Remote-Only Unternehmen ist Home Office für uns der normale Arbeitsmodus. Trotzdem haben wir uns in Bezug auf Kunden- und Partnertermine und Hackathons natürlich erstmal dazu entschlossen, auch all diese Termine zu virtualisieren, um uns und unsere Familien zu schützen und zur Eindämmung des Virus beizutragen. Außerdem springen durch die Schließung von Schulen und Kindergärten während unserer Videokonferenzen ab und an mehr Kinder durch's Bild. Vor Corona haben wir uns außerdem regelmäßig einmal im Monat zum Co-Worken an einem Ort getroffen. Diese Termine haben wir bis auf Weiteres abgesagt und konzentrieren uns stattdessen mehr auf's virtuelle Co-Worken.

Denkst du, dass nach der Krise die Unternehmen offener sind für Konzepte wie Home-Office und Remote Work?

Nina Jonker-Völker: Ich glaube, dass uns die Krise bezüglich Home-Office zweierlei Entwicklungen bringen wird: Einerseits müssen viele Firmen, die den Auf- und Ausbau von Remote Infrastruktur bisher versäumt oder hintangestellt haben, jetzt sehr schnell nachziehen. Viele Unternehmen kommen darum jetzt auf uns zu und holen sich Tipps und Tricks, um schnell in einen guten Home-Office Modus zu finden. Diese Infrastruktur und die Erkenntnis, dass Home-Office ein völlig normaler, produktiver Zustand sein kann, werden hoffentlich nicht mehr weggehen.

Und wie schätzt du die Akzeptanz für neue Arbeitskonzepte in Zukunft ein?

Nina Jonker-Völker: Ich bin überzeugt davon, dass es Mitarbeitern in Zukunft einfacher gemacht wird, flexibel im Home-Office zu arbeiten, und dass die Kombination von Home-Office und Company-Office zukünftig reibungsloser funktionieren wird. Gleichzeitig denke ich auch, dass die erzwungene Isolation die Wertschätzung von Office Settings bei vielen Arbeitnehmern steigen lassen wird. Insofern glaube ich, dass nach der Krise Konzepte, die flexibles, ortsunabhängiges Arbeiten mit sozialem Austausch kombinieren, noch sehr viel wichtiger und erfolgreicher werden.

Vielen Dank, für den Erfahrungsaustausch, liebe Nina!

 

Weiterführende Links

Tipps von achtung!-Agenturchef Mirko Kaminski: 100 % Homeoffice – wie hält man alle beisammen? 

Kommentar von IT-Unternehmer Christian Meyer: Homeoffice - es geht nicht nur um Technik

Journalistin Simone Fasse: Warum dieses Homeoffice anders ist

Kostenloser Homeoffice-Guide von t3n zum Download: Produktiv arbeiten trotz Corona

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Digitaler Wandel: Es geht nicht um Technologien sondern um Menschen

Bereit für Job 4.0?

 


Digitaler Wandel Überwindung Ungewissheit

Digitaler Wandel: „Es geht nicht um Technologien, sondern um Menschen“

Susanne Nickel weiß aus ihrer eigenen Lebensgeschichte, wie sich Veränderung mit allen Höhen und Tiefen anfühlt. Diese Erfahrung hat die Rechtsanwältin und Wirtschaftsmediatorin zu ihrer Mission gemacht. Sie unterstützt Unternehmen, den digitalen Wandel mit dem Commitment der Menschen umzusetzen. Im Interview erklärt sie, auf was es in Change Prozessen ankommt und wie man erkennt, ob die persönliche Erfolgsleiter an der richtigen Wand steht.

 Laut einer Studie von McKinsey scheitern 70 Prozent aller Change-Projekte in Unternehmen – woran liegt das deiner Meinung nach?

Rechtsanwältin Susanne Nickel ist Expertin für Change. Change Business ist Peoples Business, so ihre Überzeugung.

Das liegt vor allem daran, dass Unternehmen oder Organisation den Druck etwas zu verändern erst dann verspüren, wenn es eigentlich zu spät ist. Seien wir doch mal ehrlich, wann erkennt man, dass man etwas verändern muss? Doch erst dann, wenn man in Schieflagen gerät. Das gilt übrigens für Organisationen wie für jeden Einzelnen. Es heißt nicht umsonst, dass Erfolg Innovationen killt. Das Gespür für die Dringlichkeit ist zum Beispiel bei erfolgsverwöhnten Unternehmen überhaupt nicht gegeben, es gibt gar keine Notwendigkeit dazu, etwas zu verändern.

Es heißt Menschen sind Gewohnheitswesen, das ist der Killer für jede Veränderungen. Was rätst du, wie man Mitarbeiter zu „freiwilliger“ Veränderung bewegt?

Nun ja, zunächst gilt es, die Widerstände zu überwinden. Es gibt keinen Widerstand ohne Grund – dieses Verständnis ist sehr hilfreich beim Umgang mit Widerstand. Und es gibt unterschiedliche Formen von Widerstand. Die erste Form ist das „Ich kann nicht“. Dem ist noch relativ einfach zu begegnen, indem man die Mitarbeiter weiterbildet, Kompetenzen aufbaut und die Leute trainiert. Die zweite Form ist das „Ich will nicht“. Das muss man emotional abgreifen, den Menschen in seinen Bedürfnissen abholen, Überzeugungsarbeit leisten. Und die dritte und schwierigste Form ist „Ich will Dich nicht“. Hier ist der Chef „verbrannt“, vielleicht weil einfach zu viel Change in Folge war. Das Vertrauen ist zerstört, es aufzubauen dauert lange, zerstören kann man es sehr schnell.

Warum, glaubst du, rückt heutzutage die Sinnfrage eines Unternehmens auch bei den Mitarbeitern immer mehr in den Fokus?

Menschen wollen etwas tun, was Sinn macht und ihnen Sinn gibt. Gerade die jungen Generationen stellen die Sinnfrage mehr denn je. Wenn das Wofür und der Purpose geklärt ist, dann vereinfacht das das WAS und das WIE. Stell dir eine einfache Frage: Wofür stehst du morgens auf und gehst gerne an die Arbeit? Geld verdienen, um leben zu können, ist lediglich das Resultat. Menschen wollen sinnstiftend gestalten und sich einbringen, auch in Unternehmen. Sachlich-inhaltlich hat dieses „Wofür“ auch mit Motivation, Orientierung und Navigation zu tun. In Unternehmen nennen wir das Purpose Driven Organizations.

 

"Eine Kernkompetenz für digitalen Wandel ist die Reflexionskompetenz."

 

Du plädierst für ein barrierefreies Denken – was genau müssen wir uns darunter vorstellen?

Menschen neigen dazu, in bekannten Mustern zu denken, mit dem Resultat, dass das klassische Schubladendenken zum Teil des Problems wird. Der US-Therapeut Steve de Shazer hat mit seiner Methode des lösungsorientierten Arbeitens einen Perspektivwechsel eingebracht, er setzte auf die Dekonstruktion der Sichtweisen. Es könnte so sein, aber vielleicht auch ganz anders. Er sagt: Wenn Du eine Hypothese hast, nimm ein Aspirin und warte, bis der Anfall vorbei ist. Dies ist ein schönes Bild und meint, man solle seine Hypothesen prüfen und sie ggfs wieder verwerfen und sich nicht nur auf eine stützen sondern eben barrierefrei im Kopf vorgehen. Es geht bei barrierefreiem Denken darum, mehrere Hypothesen aufzustellen, die richtigen Fragen zu stellen und in kleinen Schritten zu validieren. Dahinter versteckt sich eine wichtige Kompetenz für Change: Die Reflexionskompetenz. Nur so bekommen wir den Kopf frei für Veränderung.

Das erfordert jedoch eine enorme Willenskraft, oder?

Ja, und die Herausforderung ist dabei: Wollen ist wie machen, nur fauler. 40 Prozent unserer Verhaltensmuster beruhen auf Gewohnheit. Der Trick ist, an den alten Mustern anzudocken und darauf aufbauend sich neue Gewohnheiten anzutrainieren. Das nenne ich den Change Loop. Einfaches Beispiel: Wir nehmen eine Gewohnheit, der wir mehrfach am Tag nachgehen. Der Gang in die Kaffeeküche. Hier kann ich mir vornehmen, wertschätzend meinen Mitarbeitern oder Kollegen gegenüber zu sein. Ich frage, wie es ihnen geht, bin offen, halte auch mal meinen Mund und höre einfach zu und zeige Interesse und vielleicht mache ich auch mal ein Kompliment. In kurzer Zeit entsteht so eine enorme Dynamik und Raum für Inspiration und Austausch und eine von Wertschätzung geprägte Atmosphäre. Wenn sich das ein paar Kollegen oder Führungskräfte vornehmen, implementieren sie eine - wie ich sie nenne - „Schatzjäger-Haltung“ für einen wertschätzenden Umgang.

Welche Rolle kommt dabei der Führungskraft zu?

Die Grundkompetenz der Führungskraft im Change-Prozess ist Kommunikation, Offenheit und Transparenz. Die Führungskraft muss Vertrauen und Empathie bei den Mitarbeitern schaffen bzw. halten können. Dazu gehört auch, Phasen für Scheitern, Selbstreflexion und Resilienz zuzulassen, um diese in Mut, Motivation und Veränderungswille zu transformieren. Den Führungskräften kommt also die Rolle des „Befähigers“ zu. Gleichzeitig müssen sie für Stabilität und Effizienz sorgen. Keine leichte Aufgabe.

 

"Im digitalen Wandel kommt Führungskräften die Rolle des „Enablers“ zu, gleichzeitig müssen sie für Stabilität und Effizienz in ihren Teams sorgen."

 

Wie gelingt in der Unternehmensführung der Spagat zwischen Agilität und Flexibilität für Innovationen und Stabilität und Effizienz für bewährte Prozesse und Modelle?

Ambidextrie heißt das neue Schlagwort in der Führung digital transformierter Unternehmen, wörtlich übersetzt Beidhändigkeit. Im übertragenen Sinn konzentriert sich die rechte Hand auf das Optimieren und Absichern des Kerngeschäfts. Die linke Hand beschäftigt sich mit innovativen Geschäftsfeldern.

Wie schafft man ein einheitliches Commitment für den Change?

Die aktive Einbindung aller Stakeholder, und damit meine ich Kunden, Partner und Mitarbeiter, ist die Voraussetzung, dass der Change-Prozess überhaupt erst ins Rollen kommt. Und das auf Augenhöhe. Mit der Co-Creation Methode schafft man es, in Iterationen Lösungsansätze für die gemeinsamen Herausforderungen zu erarbeiten. Seht den Change-Prozess also nicht nur in der internen Organisation, sondern weitet die Perspektive auch auf das Umfeld aus, denn auch dort gibt es Auswirkungen.

Technologie rückt immer mehr in den Vordergrund, sowohl im Alltag als auch in Unternehmen. Besteht die Gefahr, dass der Mensch dabei auf der Strecke bleibt?

Die Technologie ist nicht das Problem, es geht darum, sie sinnvoll einzusetzen und für uns zu nutzen. Im Mittelpunkt wird immer der Mensch stehen,  dafür sind aber Veränderungen notwendig, die uns an Grenzen bringen, die uns belasten, die uns Überwindung kosten. Den einen mehr, den anderen weniger.

 

"Oft ist fehlende Anerkennung und Wertschätzung die Ursache für Konflikte in Change-Prozessen."

 

Laut Statista hat sich die Diagnosehäufigkeit von Burn-Out-Erkrankungen im letzten Jahrzehnt beinahe verdreifacht. Siehst du einen Zusammenhang zwischen dieser Entwicklung und der aktuellen Transformation in eine Digitalgesellschaft?

Sicherlich, die Digitalisierung beschleunigt unser Leben in allen Facetten und gerade im Arbeitsleben führt das oft zu Überlastung, Überforderung und damit zu Kontrollverlust. Aber allzu oft spielt auch das Zwischenmenschliche und nicht bereinigte Konflikte eine Rolle. Einfach, weil Menschen sich zu wenig wertschätzen und die Anerkennung fehlt.

Warum fällt uns Menschen Wertschätzung für andere und die Leistungen anderer so schwer?

Digitaler Wandel: Wann deine Erfolgsleiter an der richtigen Wand steht.

Ich bin davon überzeugt, dass das bei jedem einzelnen von uns bei sich selbst anfängt. Wer 100 Prozent zu sich selbst steht, ist in der Lage, eine positive Haltung und Wertschätzung anderen entgegenzubringen. In Coachings fordere ich immer wieder meine Klienten dazu auf: Seid Schatzjäger, bei euch selbst und bei anderen. Dann erkennt ihr sofort die richtige Wand für eure Erfolgsleiter.

Vielen Dank für das inspirierende Gespräch, liebe Susanne!

 

Weiterführende Links

McKinsey: Changing Change Management

Über Susanne Nickel

Taschenbuchempfehlung zum Thema Change und digitaler Wandel

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Interview mit Mentalist Dr. Florian Ilgen über mentale Agilität und Veränderung

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Hippokrates von Kos, hippokratischer Eid

Technologie und Moral:
Hippokratischer Eid für IT-Berufe?

Algorithmen steuern die Welt. Sie versprechen, das Leben sicherer und effizienter zu machen. Längst ist klar, dass digitale Technologien nicht nur ein Segen sind, sondern auch Gefahren mit sich bringen. Doch wie steht es um die Moral der Berufsspezies? Mathematiker, Informatiker und Computeringenieure sollten einen hippokratischen Eid ablegen, um die Öffentlichkeit vor den neuen Technologien zu schützen, die derzeit in Laboren und Technologiefirmen entwickelt werden. Das zumindest fordert Dr. Hannah Fry, Professorin für Mathematik am University College London. Ich bin ihrer These nachgegangen.

Mathematiker und Computeringenieure bauen Technologien, die die Zukunft der Gesellschaft gestalten. Besonders der Umgang sensibler Daten kann dabei weitreichende Auswirkungen haben. Konzepte zur Datenökonomik müssen daher wohlüberlegt implementiert werden. Doch wie steht es um die Moral in den IT-Berufen? Ist das Bewusstsein der sogenannten „Nerds“ dafür geschärft, welche Auswirkungen ihre Arbeit sowohl im positiven als auch negativen Sinne auf die Gesellschaft haben könnten? Sind sie sich ihrer Verantwortung überhaupt bewusst?

Hippokratischer Eid in Medizin und Forschung

Der Ruf nach einem hippokratischen Eid in der Forschung  ist nicht neu. Nach dem Vorbild der Mediziner sollen auch andere Wissenschaftler durch eine solche öffentliche Selbstverpflichtung an moralisches Handeln gebunden werden. Unterstützt wird diese Idee seit Jahrzehnten unter anderem von der Unesco, von zahlreichen Vertretern von Forschungsinstituten, Wissenschaftsverbänden und Ethikkomitees. Mediziner halten sich seit mehr als 2500 Jahren an den hippokratischen Eid, der als ethischer Kodex für ärztliches Handeln zwar nicht verbindlich ist, aber einen hohen Stellenwert genießt.

Durchgesetzt hat sich bis dato in der Forschung in dieser Richtung nichts. Kritiker zweifeln den Nutzen einer solchen weder kontrollierten noch durch irgendwelche Sanktionen untermauerten Selbstverpflichtung an. Zudem argumentieren sie, es sei schwer für Wissenschaftler zu schwören, nur für das Wohl der Menschheit zu arbeiten, wenn sie die Ergebnisse nicht vorhersagen könnten. Noch viel weniger könnten sie im Vorhinein wissen, was jemand anderer aus ihren Forschungsergebnissen macht.

Debatte neu entbrannt

Im Zuge der rasanten technologischen Entwicklungen im Bereich Machine Learning und Künstlicher Intelligenz nimmt die Diskussion um eine ethische Selbstverpflichtung in technischen Berufen erneut Fahrt auf. Mit Bots und gefälschten Nachrichten, die Wahlen beeinflussen sowie Algorithmen, die z.B. männliche, weiße Bewerber im Auswahlprozess eines Bewerbungsverfahrens vorziehen, erkennen wir mehr und mehr, dass datengestützte automatisierte Entscheidungssysteme für einige ungewollte gesellschaftliche Entwicklungen mitverantwortlich sind.

Geschlossene Systeme sind nicht die Realität

Allerdings ist es etwas anderes, Probleme in der realen Welt zu bedenken als in geschlossenen Systemen. Das weiß auch die 35-jährige Professorin: „Mathematiker, Computeringenieure und Physiker sind so an abstrakte Probleme gewöhnt, dass sie selten darüber nachdenken, ob die Anwendung ihrer Arbeit in der Praxis ethische Regeln verletzten könnte. Ein ethisches Versprechen dagegen, würde die Wissenschaftler verpflichten, gründlich über die mögliche Nutzung ihrer Arbeit nachzudenken und sie dazu zwingen, nur solche Ansätze zu verfolgen, die der Gesellschaft zumindest keinen Schaden zufügen, sagt Fry gegenüber The Guardian.

Hannah Fry ist Professorin für Mathematik am University College London und erforscht mithilfe mathematischer Modelle Muster menschlichen Verhaltens im städtischen Raum. Sie hat mit Verwaltungen, Polizei, Gesundheitsexperten und Supermarktketten zusammengearbeitet und an wissenschaftlichen Fernsehdokumentationen und Podcasts mitgewirkt. Die Zahl der Aufrufe ihrer TED-Talks geht in die Millionen.

So mahnt Fry, dass Forscher heute Systeme bauen, die persönliche Daten sammeln und verkaufen, menschliche Schwächen ausnutzen und Entscheidungen über Leben oder Tod treffen: „In den Technologieunternehmen dieser Welt finden wir heute meist sehr junge, sehr unerfahrene und oft weiße Männer. Sie wurden nie gebeten, darüber nachzudenken, wie sich die Lebensperspektiven anderer Menschen von ihren unterscheiden, und letztendlich sind dies die Menschen, die die Zukunft für uns alle gestalten."

Soziale und gesellschaftliche Anerkennung

Lisa Herzog, Philosophieprofessorin an der TU München und freie Autorin schreibt in ihrer ZEIT-Kolumne, dass sich derzeit gerade die IT-Berufe in den Dienst einer Logik stellen, die eher dem Kapital dient als der Gesellschaft als Ganzes. Sie sieht hier noch viel Entwicklungspotenzial: „Der erste, und wichtigste Schritt wäre, die professionelle Verantwortung von Informatikern und Softwareingenieuren anzuerkennen. Dies müsste im Selbstverständnis und vor allem auch in der Ausbildung entsprechenden Niederschlag finden, zum Beispiel durch verpflichtende Kurse über Ethik und gesellschaftliche Verantwortung in den entsprechenden Studiengängen.“ Die Sozialwissenschaftlerin kann sich die Einführung einer Art hippokratischen Eid für diese Berufe durchaus vorstellen. Sie plädiert dafür, diesen durch entsprechende Strukturen sozialer Anerkennung zu ergänzen, zum Beispiel durch Auszeichnungen für gemeinwohlorientierte IT-Lösungen.

Dieser Ansicht ist auch Thomas Matzner. Der Münchner Diplom-Informatiker und Berater für Systemanalyse beschäftigt sich seit langem mit ethischen Fragestellungen in der Informatik und hat dazu an der TU München eine Ringvorlesung gehalten. „Wir müssen die Ambivalenz digitaler Technologien anerkennen und mehr Verantwortung übernehmen“, sagt Matzner gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Aber nicht nur Informatiker seien in der Pflicht, sondern auch ihre Auftraggeber und die Nutzer. „Wir brauchen einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel“, sagt er und kann der Forderung nach einem Eid für technische Berufe etwas abgewinnen. „Wenn ein Elektriker einen Kunden hat, der die Isolierung nicht zahlen will, dann lehnt er den Auftrag eben ab. Genauso müssten es Informatiker machen, wenn zum Beispiel Sicherheitslücken in einer Software absehbar sind.“

Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar geht sogar noch einen Schritt weiter. Gegenüber der Wissenschaftsorganisation Helmoltz äußert er den Vorschlag, den hippokratischen Eid auch auf andere Disziplinen auszuweiten. „Ich glaube, man muss zum Beispiel dem Ingenieur, der bei einer Automobilfirma sitzt, ein Argument geben, das ihn stärkt, wenn er in eine zweifelhafte Situation gerät. Dann kann er sagen, ich habe während meines Studiums einen Eid abgelegt, deshalb stelle ich mein Know-how nicht für fragliche Entwicklungen, wie die Abgasmanipulation, zur Verfügung.“

Symbolik und öffentliche Aufmerksamkeit

Inwieweit sich tatsächlich ein hippokratischer Eid für technische Berufe einführen und umsetzen lässt, muss die Zukunft zeigen. Als Signal mit symbolischem Charakter kann ein solches Gelöbnisses aber sicher Denkweisen verändern.

Hannah Fry verleiht dem eine Stimme. Sie ist in erster Linie Wissenschaftlerin, die aber den öffentlichen Diskurs sucht. Mit ihren TED-Talks erreicht sie Millionen von Menschen. In ihrem aktuellen Buch „Hello World“ sorgt sie für Aufklärung und nimmt uns gleichzeitig die Ängste: „Noch nie waren Menschen so wichtig wie im Zeitalter der Algorithmen", so der Schlusssatz im Buch. Mit ihrem Engagement bringt sie die Debatte weiter. Sie schafft öffentliche Aufmerksamkeit, erweitert den Horizont und das Bewusstsein dafür, die Auswirkungen digitaler Technologien auf unsere Gesellschaft kritisch zu hinterfragen. Hier stehen wir alle in der Pflicht, nicht nur der Berufsstand der Computeringenieure und der „Nerds“.

Quellen: FAZ.de, ZEIT Online, The Guardian, Helmholtz.de

 

Weiterführende Links

Hannah Fry im Februar 2020 auf der OOP in München

Aktueller Hippokratischer Eid für Mediziner in Worten

 

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Judith Williams ist ein Star des Verkaufsfernsehens, erzielt dreistellige Millionenumsätze mit ihrer Luxuskosmetiklinie und ist Investorin bei der TV-Sendung „Die Höhle der Löwen“. Als ich die Unternehmerin beim #UdZ-Regionaltreffen bei Amazon im 24. Stock des Münchener Highlight Towers treffe, kann ich mir eine Vorstellung davon machen, warum sie alles zum Verkaufsschlager macht. Das positive Lebensgefühl und die Empathie, die sie versprüht, inspiriert jeden Anwesenden im Raum. Im Interview verrät sie mir dann ihr Erfolgsrezept und wie sich Verkaufsprinzipien von Teleshopping auf den digitalen Handel übertragen lassen.

In nur einer Dekade ist die Judith Williams GmbH zur erfolgreichsten Marke im europäischen Homeshopping geworden. Wie erklärst du dir im Rückblick diesen kometenhaften Aufstieg deines Start-Ups?

Um ganz ehrlich zu sein, die wichtigsten Eigenschaften, die man als Unternehmensgründer braucht, sind Demut, Fleiß sowie der Wille, immer wieder aufzustehen und Niederlagen als Chancen zu sehen. Weil ich nicht Betriebswirtschaft studiert hatte, musste ich alles von der Pike auf lernen, aber ich glaube, auch dies war ein Grundstein für den Erfolg. Es war mein ungebändigter Wille, die Arbeitswelt positiv zu beeinflussen. Denn Bequemlichkeit ist die Eintrittskarte zur Bedeutungslosigkeit.

 

"Es ist nicht das Produkt, das du verkaufst, sondern ein Bedürfnis, das du stillst." Judith Williams

 

Bist du auf deinem Weg auch an den Punkt des Zweifelns gekommen?

Ohja, da gab es einige schlaflose Nächste. Allein wenn ich an die Kreditvergabe zur Vorfinanzierung für Wachstumsprogramme meiner Kosmetiklinie denke. Ich hatte Termine bei Banken und wusste, wenn das nicht klappt, dann steht alles auf dem Spiel. Und da hatte ich nicht nur die Verantwortung für mich selbst, sondern auch für 50 Mitarbeiter.

Vera Vaubel und Judith Williams
changelog-Autorin Vera Vaubel trifft Judith Williams zum Interview im Highlight Tower in München.

Wie bist du damit umgegangen?

Dazu vielleicht eine Vorgeschichte: In meiner persönlichen Krise, da war ich Mitte Zwanzig, als ich aufgrund der Hormonbehandlung meines Tumors meine Stimme verlor und meine Karriere als Sängerin aufgeben musste, hat mich mein Vater eines gelehrt: Kein Selbstmitleid zulassen, Demut lässt sich lernen. Nutze Krisen dazu, dich persönlich weiter zu entwickeln. Diese Erfahrung hat mir auch als Unternehmerin sehr geholfen.

Die Marke lebt von deiner Person und deiner Gabe im Fernsehen zu verkaufen, du hast deine Brand auch ins klassische Retailgeschäft gebracht. Hast du jemals darüber nachgedacht, auch digitale Verkaufskanäle zu nutzen?

Online steht definitiv auf unserer Agenda. Wir haben da einiges vor, aber leider kann ich heute dazu noch nicht mehr verraten.

Glaubst du, dass sich die Verkaufsprinzipien von Homeshopping auch auf den Online-Handel übertragen lassen? Was können Online-Shops von dir lernen?

Ich denke, es ist die Sicht der Dinge. Es ist nicht das Produkt, das du verkaufst, sondern ein Bedürfnis, das du stillst. Und jeder, der etwas verkaufen will, muss sich die Frage stellen: Wie erfüllt mein Produkt die Träume meiner Kunden? Das erreichst du mit Storytelling. Nur mit Emotionalität bleibst du relevant. Das funktioniert im Teleshopping und ich bin überzeugt auch in jedem anderen Verkaufskanal, also auch im digitalen Handel.

Was rätst du den Kandidatinnen des Start-Up Programms „Unternehmerinnen der Zukunft“, bei dem du Schirmherrin bist?

Seid mutig. Investiert in euch selbst und reflektiert. Stellt euch die Fragen "Wer bin ich?", "Wo stehe ich?", "Wo will ich hin?". Vertraut eurem Instinkt. Eure Coaches geben euch professionelle Ratschläge, aber die Entscheidung, wo euer Weg und der eures Unternehmens hinführen, die trefft ihr immer selbst. Das Erfolgsrezept liegt in jedem einzelnen von uns.

 

„Mut ist Angst in Bewegung.“ Judith Williams

 

Du bist ein Rolemodel in Sachen Vereinbarkeit von Karriere und Familie. Was muss sich deiner Meinung nach in der Gesellschaft ändern, um den Aufstieg von Frauen ins Topmanagement zu erleichtern?

Die Erwartungshaltung, dass Frauen beruflich in eine Sackgasse geraten, wenn sie eine Familie gründen, ist obsolet. Wir müssen das alte Rollenverständnis aufbrechen, und da hat jeder seinen Beitrag zu leisten. Dazu müssen in der Familie die Ehemänner genauso viel beitragen wie die Schwiegermütter. Unternehmer müssen Eltern ermöglichen, Kinder in ihre Arbeitswelt zu integrieren. Das sind jetzt nur zwei Beispiele. Es ist ein Gemeinschaftsprojekt von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Denn wir können es uns heute in Zeiten des Fachkräftemangels nicht leisten, auf Frauen in der Arbeitswelt – die ja meist gut ausgebildet und hochqualifiziert sind -  zu verzichten.

Du stehst selbst für Veränderungen ein und hast dich auf deinem Karriereweg schon oft einem Wandel unterzogen. Wie sehen deine Zukunftspläne aus?

Ich habe von so vielen Menschen gelernt und ich bin momentan an einem Punkt, wo ich mein Wissen gerne teilen und weitergeben möchte. Es ist mir eine Herzensangelegenheit, Menschen und vor allem junge Frauen zu inspirieren und in eine positive Richtung bewegen.

Vielen Dank, liebe Judith, für den offenen Dialog!

 

Weiterführende Links:

Mehr über Judith Williams

Information über das Programm Unternehmerinnen der Zukunft

 

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Raphael Gielgen, Vitra

Vitra Trendscout Raphael Gielgen: „Wir müssen wieder anfangen, Zukunft zu gestalten!“

Auf dieses Interview habe ich mich besonders gefreut, denn Raphael Gielgen ist Trendscout Future of Work beim Kult-Unternehmen Vitra und einer der interessantesten Visionäre unserer Zeit. Ich war aber auch etwas nervös, denn wie es bei den Damen und Herren dieser Berufsgruppe oft der Fall ist, muss man ganz schön schnell sein, um bei der Geschwindigkeit ihrer Gedanken Schritt halten zu können! Wer ebenfalls eine geballte Ladung Inspiration so kurz vor Ostern gebrauchen kann, der sollte jetzt weiterlesen: Denn Raphael spricht über die Trends zum Thema Arbeit und verrät eine Übung für Unternehmer, wie sie die Transformation angehen können.

Lieber Raphael, Du bist Trendscout bei Vitra. Was genau machst Du dort und warum braucht Vitra so jemanden wie Dich?

Es geht darum, „Beweger einer neuen Zeit zu finden“, neue Muster zu entdecken, die das Potential zum Trend haben. Wir leben heute in einer Welt, die uns wunderbar in Standards organisiert. Viele Menschen haben verlernt, nach rechts und nach links zu schauen, geschweige denn nach vorne. Meine Arbeit ist genau das. Mein Schwerpunkt ist die Arbeitswelt. Ich erstelle, wenn man so will, die Wetterkarte für die Piloten, aber die Flugrichtung entscheiden und fliegen müssen sie selbst.

Kannst Du uns einen wichtigen Trend zum Thema Arbeit der Zukunft nennen?

Die Fähigkeit, in dynamischen Gruppen und Formen zu arbeiten, wird für die Entwicklung einer wissensbasierten Wirtschaft immer wichtiger. Wissen muss leicht teilbar sein, denn nur so kann es schnell weitergegeben werden. Und Schnelligkeit ist ein klares Merkmal unserer Zeit, genau wie der Zustand, dass alles gleichzeitig passiert. Verbindet man das Wissen von AI-Forschern mit dem von Elektronikingenieuren, entsteht daraus ein ganz neues Produkt und ganz neues Wissen. Dynamik heißt in diesem Zusammenhang auch, bereit zu sein, stets Neues zu lernen. Ich benenne das gerne mit dem Schlüsselbegriff „Talent Transfer“. Menschen gehen heute und erst recht in der Zukunft nicht mehr in ihrem Ausbildungsberuf in Rente. Wir müssen - auch in den Unternehmen – eine Kultur des Lernens etablieren.

Und wie schafft man das?

Indem man Raum für Inspiration schafft und Arbeit sichtbar werden lässt. Viele Entwicklungen gehen heute schon in diese Richtung. Es gibt Methoden wie Scrum, Business Model Canvas oder Design Thinking. Diese bestimmen immer mehr unser Tun. Der größte Benefit dieser Form der Arbeit ist das Teilhaben.

Inwieweit beeinflusst Technologie unsere zukünftige Arbeit?

Die Software von gestern ist morgen nichts mehr wert, genau wie die Hardware. Wir denken zu wenig darüber nach, dass die digitale Welt einer Kulisse gleicht. Wie Technologie unsere Arbeit beeinflusst, das bestimmen wir, aber auch was wir mit diesen vielen Möglichkeiten machen. Am Ende kann man die Leute nur einladen, sich damit auseinanderzusetzen, daran zu wachsen – mit dem Ziel, Technologie schließlich als Werkzeug für die Entwicklung größerer Ideen und Visionen zu benutzen.

 

"Technologie ist ein Werkzeug, sehr umfangreich, aber auch schnelllebig. Die Menschen machen auch in Zukunft den Unterschied." Raphael Gielgen

 

Wie siehst Du das Spannungsfeld „digitale Welt – physische Welt“ am Arbeitsplatz? Bekommt die physische Welt mehr Bedeutung, weil wir einen Großteil unserer Zeit heute in der digitalen Welt verbringen?

Der Mensch hat eine Sehnsucht nach physischen Orten. Je mehr wir digital konsumieren, umso mehr suchen wir eine Balance. Spannend wird es, wenn die Entwicklungen der virtuellen Technologien den nächsten Sprung machen. Wenn wir Wirklichkeit und Fiktion kaum unterscheiden können. Steven Spielbergs letzter Film „Ready Player One“ gibt uns einen ersten Geschmack auf diese Zeit. Anderseits gehen die Menschen zum „Waldbaden“, suchen Kraftorte auf und zelebrieren spirituelle Rituale.

Welches Umfeld braucht der Mensch in Zukunft, um den Arbeitsanforderungen gewachsen zu sein?

Menschen können heute 100 Jahre alt werden. Das verändert unser Bewusstsein für unsere Umgebung, unsere Umwelt und unseren Arbeitsplatz. Die Kinder von heute werden morgen keinen Arbeitsplatz wollen, indem sie nur Zahnrad in einem abstrakten Gebilde sind. Als Konsequenz müssen Unternehmen das Zusammenspiel von Produktivität und Vitalität überdenken. Maßnahmen zur Erhaltung und Verbesserung der Mitarbeitergesundheit spielen in Zukunft eine immer größere Rolle. Man muss sich nur den Adidas-Neubau „Halftime“ in Herzogenaurach ansehen oder das noch im Bau befindliche Porsche-Werk für den Elekto Taycan, in dem es große hängende Gärten gibt. Diese haben einen unmittelbaren Einfluss auf das Wohlbefinden der Mitarbeiter.

Du reist viel herum und siehst viel, auch Ideen und Trends aus Ländern und Gesellschaften, die gerne als unser Zukunftsmodell verkauft werden. Was sollten wir Europäer auf jeden Fall übernehmen?

Ganz klar die Neugier! Gerade die jungen Gesellschaften in Südostasien oder in den schnell wachsenden Metropolen wie Shenzhen sind viel neugieriger als wir Europäer – was auch daran liegen mag, dass sie im Schnitt viel jünger sind als wir.

Gibt es auch Entwicklungen, die wir besser nicht adaptieren sollten?

Ich habe nichts gesehen, was grundsätzlich schlecht wäre. Natürlich kann man alles auch für weniger wünschenswerte Ziele einsetzen. Ich denke hier zum Beispiel an die militärische Nutzung von Technologie. Auch die übermäßige Nutzung von Technologie kann man kritisch sehen, aber hier ist jeder einzelne selbst gefragt, etwas dagegen zu tun.

Wenn ein Unternehmer auf Dich zukommt und um Rat bittet, wie er die Transformation angehen soll, was würdest Du ihm sagen?

Ich empfehle gerne die nachfolgende Übung: Stellen Sie sich regelmäßig zwei Fragen: Was gibt es in zehn Jahren in Ihrem Arbeitsumfeld, was es heute noch nicht gibt? Wie wird dieses „Neue“ Ihr Geschäftsmodell beeinflussen und was bedeutet das für Sie? Was gibt es in zehn Jahren nicht mehr in Ihrem Arbeitsumfeld, was es heute noch gibt? Wie wird dies Ihr Geschäftsmodell beeinflussen und was bedeutet das für Sie? Jeden einzelnen Punkt würde ich dann in eine Skizze aufnehmen und auf einem großen Plakat am Arbeitsplatz aufhängen. Was glaubst du, was für eine angeregte Diskussion mit Mitarbeitern und Kollegen daraus entsteht! Plötzlich sieht der Unternehmer eine Perspektive für die Zukunft und kann diese proaktiv gestalten. Und die Mitarbeiter wissen, warum etwas gemacht wird.

"Eigentlich ist es so einfach! Wir haben nur irgendwann aufgehört oder verlernt, in einer längeren Perspektive zu denken und Zukunft zu gestalten." Raphael Gielgen

Danke Raphael für das superinteressante Interview!

Raphael Gielgen am 24. Juni 2019 auf der TDWI München

Wer Raphael gerne live erleben möchte, kann das am 24. Juni 2019 auf der TDWI München tun. Dort wird er die Keynote halten mit dem Thema "Die Kunst, seine persönliche Zukunft ständig neu zu erfinden"! Es lohnt sich! Hier geht's zur Konferenz: www.tdwi-konferenz.de

Links:

www.Vitra.com
www.tdwi-konferenz.de


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Digitale Arbeitswelt: Angst vor dem Umbruch?

Welche Veränderungen bringt die Digitalisierung in unsere Arbeitswelt? Diese Frage diskutiert Matthias Kamp, München-Korrespondent der WirtschaftsWoche, mit Siemens-Personalvorständin Janina Kugel und Unternehmerin Sabine Herold, Chefin des Hightech-Klebstoff-Herstellers Delo im WiWo-Clubgespräch. Es ist ein Ritt durch die Themenvielfalt Diversität, Automatisierung, Qualifikation, Weiterbildung, Führungsstil. Jedem Zuhörer im Literaturhaus in München wird klar, dass wir uns in unserer modernen, hochtechnisierten Welt mehr denn je hinterfragen müssen, ob wir offen für Neues sind und uns unseren Ängsten vor Veränderungen stellen müssen.

Der Einstieg in die Diskussion hätte nicht provokanter sein können. „Brauchen wir eine Frauenquote?“, fragt Matthias Kamp seine Gesprächspartnerinnen. Beide Unternehmerinnen wollen als Führungskraft keine Quotenfrauen sein. Janina Kugel kontert: „Es geht um die Gleichstellungsquote. Ich weiß nicht, ob wir sie wirklich brauchen, aber wir brauchen die Diskussion. Denn es gibt in den Vorständen deutscher Unternehmen mehr Michaels und Thomas als Frauen.“

Vereinbarkeit von Familie und Beruf

Rollenbilder sind in der Gesellschaft noch sehr stark eingefahren. Wir sind stark konditioniert, und das von klein auf. Was wir als Kinder zuhause vorgelebt und in Schulen erzählt bekommen, prägt enorm. Selbst heute noch werden zu sehr Rollenklischees vermittelt und Mädchen nicht ausreichend an vermeintliche Männerberufe herangeführt. Janina Kugel sieht hier einen großen Hebel, Veränderungen anzustoßen. „Wir müssen insbesondere die Mädchen motivieren, in die MINT-Berufe zu gehen. Abgesehen davon, dass sich hier viel größere Chancen auftun, weil wir diese Fachkräfte dringend brauchen, sind sie auch noch viel besser bezahlt als die klassischen Frauenberufe.“

Auf dem Arbeitsmarkt hat sich dank der technologischen Möglichkeiten viel getan: Teilzeitmodelle, Home-Office, Job-Sharing. Sabine Herold kann das bestätigen: „Wir als Mittelständler bieten unseren Mitarbeitern 42 verschiedene Teilzeitmodelle. Da steckt für HR sehr viel Arbeit dahinter.“ Es muss aber auch an anderer Stelle die Voraussetzungen für Flexibilität geschaffen werden, weiß Janina Kugel, Mutter von schulpflichtigen Zwillingen, aus eigener Erfahrung. „Es fehlt in Deutschland an einer gesicherten und flexiblen Betreuungsstruktur für Kinder, auf die sich beide Elternteile in ihrem Job verlassen können.“ Auch der Wiedereinstieg von Frauen ins Berufsleben wird angesprochen. Sabine Herold appelliert vor allem auch an Quereinsteiger und ermutigt weibliche Fachkräfte, die jahrelang wegen der Familie zuhause geblieben sind: „Diese Frauen haben ein kleines Familienunternehmen geführt. Natürlich sind sie für den Wiedereinstieg qualifiziert. Sie müssen es sich nur zutrauen und es wollen.“

Die Folgen der Automatisierung

Das Gefühl, abgehängt zu sein und das Nichtwissen über neue technologische Entwicklungen bei der Arbeit bleibt kein Phänomen derjenigen, die aus dem Beruf ausgestiegen sind. Vor dieser Herausforderung steht nun jeder Wissensarbeiter in unserer Dienstleistungsgesellschaft. Die Welle der Innovation durch Künstliche Intelligenz und Machine-Learning wird die Jobs in der Administration erfassen. Repetitiven Aufgaben wie zum Beispiel die von Sachbearbeitern oder Gutachtern werden in Zukunft durch Algorithmen gelöst. Bürojobs stehen auf der schwarzen Liste, es ist eine Frage der Zeit, wann sie obsolet werden.

Janina Kugel sieht hier sehr wohl die Unternehmen in der Pflicht, Pakete zu Weiterqualifikationen für betroffene Mitarbeiter zu schnüren. Sabine Herold pflichtet ihr bei, gibt jedoch zu bedenken, dass lediglich Großkonzerne und nur wenige wirklich sehr gut aufgestellte Mittelständler dazu die nötige Infrastruktur hätten. „Solche Angebote können kleinere und mittelständische Unternehmen vor allem in ländlichen Regionen nicht leisten. Der Weiterbildungsmarkt muss hierzulande noch stark entwickelt und auch gefördert werden.“

Angst und Skepsis überwinden

Voraussetzung ist, dass Mitarbeiter auch bereit sind, den Veränderungsprozess zu gehen. In dem Zusammenhang kommen beide auf Ängste zu sprechen. Allein zu akzeptieren, dass man im Job nicht mehr gebraucht wird, sei schon kaum zu ertragen. „Man stelle sich vor, man hat eine qualifizierte Ausbildung, zwanzig Jahre in einem Unternehmen erfolgreich gearbeitet und jetzt soll man nochmal die Schulbank drücken und sich Prüfungen unterziehen, um eine Weiterqualifikation zu absolvieren? Das ist nicht einfach“, erklärt Sabine Herold. Es muss in der Unternehmenskultur verankert sein, dass ein solcher Prozess ganz normal ist. Wichtig, dass mit diesen offen umgegangen wird und gemeinsam nach Lösungen sucht.

In diesen Fragen sind Führungskräfte mehr denn je gefordert. Das alte Führungsprinzip „command and control“ hat ausgedient. Gefragt sind Gestaltungsspielräume, Crowdsourcing, agile Prozesse, innovative Methoden der Mitarbeiterführung. Nicht jede Führungskraft kommt damit zurecht, oft kommen Zweifel auf. Janina Kugel zitiert eine Führungskraft aus dem Siemens-Konzern: „Ich habe Angst davor, die Kontrolle zu verlieren, wenn all meine Mitarbeiter agil und mit Scrum arbeiten.“

Beide Managerinnen sind davon überzeugt, dass sich die Uhr nicht mehr zurückdrehen lässt. Sie appellieren an Gesprächsbereitschaft und offenen Diskurs eines jeden. Nur so lassen dich die Herausforderungen der digitalisierten Arbeitswelt bewältigen.

Foto: Thorsten Jochim


IT-Spezialistin Carolin Desirée Töpfer

Digitalisierung ist ein Konflikt der Weiterbildung

Carolin Desirée Töpfer ist Diplom-Politologin und Spezialistin für die digitale Transformation mittelständischer Unternehmen. Sie beschäftigt sich seit ihrer Teenager-Zeit mit Programmierung und Zukunftstechnologien, später dann auch mit Datenschutz und IT Sicherheit. Auf den B2B Marketing Days in Würzburg lerne ich sie persönlich kennen und merke schnell, wie sehr sie für ihre Sache brennt. Sie glaubt an die Sogwirkung von Digitalisierung und Technologie für junge Talente - Stichwörter New Work und Gamification. Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft für Veränderung in Unternehmen. Im Interview schildert sie mir ihre Sicht der Diskrepanz zwischen Technologie und Weiterbildung.

Wie kam es dazu, dass du dich für IT begeisterst?

Das habe ich wohl meinem Umfeld und einem sehr engagierten Informatiklehrer am Gymnasium zu verdanken. Wir hatten dort ein MINT-Zentrum und ich habe etwa mit 14 Jahren mit Web Design und Programmieren angefangen. Man muss sich meine Begeisterung damals als Teenager wirklich so vorstellen: Nach der Schule zuhause die Rolläden runter und viel Zeit vor dem Bildschirm! Abgesehen davon habe ich mich aber auch als Schülersprecherin engagiert und wurde FDP-Mitglied.

Was war denn dein größtes IT Projekt als Schülerin?

Ich habe eine Music-Community aufgebaut, eine Website, über die sich lokale Bands präsentieren, zusammenfinden und mit ihren Fans austauschen konnten. Das waren dann irgendwann 20 Bands, die zusammen viel einfacher Konzerte organisieren konnten. Später gab es auch Festivals und wir hatten ein Street-Team, das auf der Straße Flyer verteilt hat. Das Ding ist sukzessiv gewachsen, obwohl wir damals nur ein Gästebuch integrieren und MySpace nutzen konnte, da es die großen Social Media Plattformen so noch nicht gab. Das war eine spannende Zeit.

 

"Die Einsicht für lebenslanges Lernen wird hierzulande noch viel zu wenig propagiert und gelebt."

 

Und wie ging es dann weiter?

Eigentlich wollte ich Wirtschaftsjournalistin werden. Der beste Rat, den ich dann während eines Praktikums beim Handelsblatt Verlag bekommen habe, war, das zu studieren, was mich wirklich interessiert. Ich entschied mich für Politikwissenschaften mit VWL als Schwerpunkt und betrieb meine Technologiethemen eher nebenher als Hobby.

Wie wurde das Hobby dann doch zum Beruf?

Als ich ins Berufsleben einstieg und die ersten Erfahrungen in Unternehmen sammelte, u.a. in der Finanzbranche, musste ich feststellen, dass meine Technologie zuhause mehr state-of-the-art war als die in den Unternehmen.  Und da meine Kollegen schnell merkten, dass ich mich mit Datenbanken auskannte, sah ich mich plötzlich in der Rolle derjenigen, die die bestehende Technologie analysieren sollte, Datenprojekte übernommen hat und Briefings über Server-Latenzen erstellte.

So kam es dann auch zur deiner Gründungsidee?

Ja. Digitalisierung bedeutet eine grundlegende Veränderung – auf allen Ebenen einer Organisation. Das fällt vielen Mitarbeitern und Führungskräften so ganz ohne technische Kenntnisse besonders schwer. Ich bin in den Unternehmen, in denen ich gearbeitet habe, selbst immer wieder an Grenzen gestoßen, wenn es um digitale Zusammenarbeit und einfache Datenlösungen ging. Das war eine bittere Erfahrung. Ich hatte oft den Eindruck, wenn man als interner Mitarbeiter Probleme lösen will, läuft man gegen Betonwände. Gleichzeitig habe ich mir dann gedacht, dass bei diesen Themen ein externer Helfer die Unternehmen enorm weiterbringen würde. Genau das mache ich heute: Tech Coachings für Führungskräfte, Team Workshops und Vorträge über die verschiedenen Aspekte der Digitalen Transformation.

Inwiefern stehen sich Unternehmen selbst im Weg?

Ich empfinde es als persönlichen Vorteil, auch als Chefin ständig etwas Neues lernen und testen zu dürfen. Die Mentalität in vielen deutschen Unternehmen sieht aber ganz anders aus. Die Hierarchedenke hält an alten Strukturen fest und blockiert. Machtgefüge und Seilschaften spielen dabei eine große Rolle. Es geht oftmals darum, eine Position, in die man sich hochgearbeitet hat, zu halten. Viele Manager dürfen niemals zugeben, dass sie etwas nicht wissen. Auch meine Tech Coachings finden häufig virtuell statt oder so, dass es die Mitarbeiter meiner Klienten nicht mitbekommen.

Ist die Digitalisierung ein Generationenkonflikt?

Das habe ich am Anfang gedacht. Mittlerweile sehe ich es eher als Weiterbildungskonflikt. Ein solides Basiswissen zu digitalen Themen – und auch der Technik dahinter - gibt es in unserer Gesellschaft nicht, weil eine entsprechende Aus- und Weiterbildung nicht allen Gesellschaftsschichten und Altersgruppen gleichermaßen gewährt wird. Die Einsicht für lebenslanges Lernen und die entsprechende Verantwortung des Einzelnen und der Unternehmen, wird hierzulande noch viel zu wenig propagiert und gelebt. Das große Ganze wird oft nicht gesehen und die Zukunft hat derzeit noch einen zu niedrigen Stellenwert. Auch, weil viele aktuelle Führungskräfte die Zukunft nur noch als Rentner erleben werden.

Welche Learnings kannst du Berufseinsteigern geben?

Zum einen müssen sie sich von dem Gedanken verabschieden, viele Jahre in ein und demselben Unternehmen arbeiten zu können und dort einen quasi automatischen Karriereweg einzuschlagen. Zum anderen wäre mein Rat, den Real-Life-Check zu machen: Heuer nicht nur bei hippen Start-Ups oder erfolgreichen Konzernen an, sondern arbeite auch mal bei bodenständigen Mittelständlern. Am besten bei denen mit dem langweiligsten Produkt. Schau dir das Unternehmen von innen an und achte darauf, was nicht funktioniert. Und stell dir dann die Frage, mit welchem disruptiven Geschäftsmodell man den Laden umkrempeln könnte. So erzielst du die besten Learnings, die du in jeden anderen Job mitnehmen kannst.

 

"Händeringend gesuchte Fachkräfte können sich heutzutage ihre Arbeitgeber nach Wohlfühlkriterien aussuchen."

 

Was müssen Unternehmen jungen Talenten heutzutage bieten um attraktive Arbeitgeber zu sein?

Ich bekomme immer wieder Gegenwind, wenn ich davon spreche, dass man von überall aus arbeiten können sollte und dass Arbeit Spaß machen darf. Für viele Führungskräfte geht das nicht zusammen. Die denken, ein Mitarbeiter ist nur produktiv, wenn man ihn sehen kann und Spaß ist etwas für die Freizeit. Absolute Fehlanzeige! Wer seinen Mitarbeitern keinen Spaß und Zugang zu neuen Technologien und digitalen Tools gönnt, bekommt also zunehmend Recruiting-Probleme. Dazu gehören auch Weiterbildungen mit Gamification-Ansatz. Alles was Spaß macht, muss auch im Büro stattfinden dürfen. Dafür muss Arbeit vielerorts anders gedacht und neu organisiert werden.

Wie wird man zum attraktiven Arbeitgeber? Welche Veränderungsprozesse muss man anstoßen?

Ich glaube, man sollte Bewerber und Mitarbeiter wertschätzen und unabhängig von der Art des Jobs, dem Alter und der Erfahrung des Arbeitnehmers mit ihm sprechen, also Feedback annehmen. Anhand der IT-Infrastruktur und dem Nutzerverhalten der Mitarbeiter kann ich zum Beispiel sehr schnell erkennen, ob ein Unternehmen heute schon digital affine Bewerber glücklich machen kann. Viele bleiben da leider hinter ihren eigenen Werbe-Versprechen zurück. Technisch attraktiv zu werden kostet Zeit und Geld. Aber wenn der Großteil der Belegschaft mitzieht, geht es schneller und kostet weniger.

Welche technologischen Veränderungen erwartest du in Zukunft?

Was die Zukunft angeht, finde ich vor allem den Hardware-Bereich interessant. Da gibt es noch viele Lücken im Angebot. Wenn man mit Technologiefans spricht, die z.B. bei Chip-Herstellern oder im Datencenter-Bereich arbeiten, weiß man relativ schnell, was in zehn bis 20 Jahren Alltag sein wird. Ich bin davon überzeugt, dass es in zehn Jahren keine Smartphones mehr geben wird, sondern wir Lösungen wie Google Glass wieder auf der Straße sehen und uns mit kleinen Geräten auseinandersetzen müssen, die sich in Echtzeit mit unserem Körper bzw. unserem Gehirn vernetzen möchten. Das Internet of Things mit all seinen Mini-Computern und Sensoren bietet enorm viele tolle Möglichkeiten.

Welche Ziele setzt du dir für deine berufliche Zukunft?

Im nächsten Jahr steht der Schritt in den US Markt an. Ich habe gelernt, dass man mit Zielen vorsichtig sein muss. Gerade in meinem Fachbereich dauert es am Ende doch immer länger, als ich es mir wünschen würde. Ich hatte übrigens keinen Plan dort zu landen, wo ich heute stehe, bin aber dankbar für die Erfahrungen – die aus meiner Zeit als Arbeitnehmer und besonders die letzten knapp drei Jahre als Gründerin. Dabei wollte ich eigentlich nicht gründen, bevor ich 30 bin. Das ist im nächsten Jahr der Fall. Ich entwickle gerne Ideen, lerne dazu, probiere Dinge aus und schaue, wohin sie mich führen. Meistens vermeide ich anschließend einfach, was für mich nicht funktioniert oder wovon mein Bauchgefühl mir abrät. Bisher bin ich damit ganz gut gefahren.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Weiterführende Links:

Carolins Blog Digitalisierung-jetzt.de zählt im deutschsprachigen Raum zu den renommiertesten, wenn es um die Digitalisierung von Mittelständlern geht.


Aufmacher Job 4.0

Bereit für Job 4.0?

Die Mitte September veröffentlichte Studie des Weltwirtschaftsforums (WEF) belegt in nackten Zahlen, was wir schon lange ahnen. Die Digitalisierung verändert die Arbeitswelt radikal. Bis 2025 werden mehr Aufgaben von Robotern und Algorithmen erledigt als von Menschen. Millionen Jobs werden dadurch wegfallen. Die gute Nachricht: Noch mehr neue entstehen! Auf der Karrieremesse #hercareer in München letzte Woche diskutierten Expert*innen, welche Qualifikationen und Skills für neue digitale Berufe erforderlich sind.

Product Owner, Data Scientist, Social Media Manager, E-Commerce Specialist – mit der Digitalisierung wandeln sich heutige Job-Profile und völlig neue kommen hinzu. Die WEF-Studie prognostiziert, dass in Zukunft die  Nachfrage für eine Vielzahl von völlig neuen Fachrollen entstehen wird, die eng mit neuesten technologischen Entwicklungen verknüpft sind. Dazu zählen Berufsbezeichnungen wie zum Beispiel KI- und „Machine-Learning“-Spezialisten, Big Data-Experten, User-Experience-Designer, Robotik-Ingenieure und Blockchain-Spezialisten.

Dagmar Plieske, VP Business Intelligence & Customer Insights bei Payback weiß, dass man für die digitale Arbeitswelt nicht unbedingt IT-Spezialist oder Programmier-Nerd sein muss. „Aber eine gewisse technische Affinität und ein Interesse an digitalen Themen sind absolute Voraussetzungen.“ Oft ginge es bei den Jobs vor allem darum, ein Verständnis für die Technologien zu entwickeln und den Mehrwert für „Otto-Normalverbraucher“ zu erkennen – also eine Übersetzerrolle einzunehmen. „Die Softwareentwickler sind kreative Köpfe und wollen sich austoben, wobei die Geschäftsführung zu Recht nach dem Business Case fragt. In diesem Spannungsfeld gilt es, die richtigen Projekte und Produkte zu identifizieren. Das erfordert Fingerspitzengefühl“, so Dagmar Plieske weiter.

Fabian Dill, Gründer und Geschäftsführer der Digitalen Produktmacher bestätigt, dass bei der Entwicklung digitaler Produkte das Schnittstellenmanagement extrem wichtig ist. Dafür seien vor allem emotionale Intelligenz und Kommunikationsfähigkeiten gefragt. Qualifikationen, die sich nicht unbedingt aus Zeugnissen ablesen lassen. „Bei Einstellungsgesprächen achte ich vielmehr auf das Mind-Set des Bewerbers“, erklärt der Digitalberater. Dabei stehen innere Motivation, Anpassungsfähigkeit sowie Teamgeist im Vordergrund. In seiner Beratungsagentur gibt er den Mitarbeitern viel Freiraum für Austausch und kreative Prozesse. Das setzt aber ein hohes Maß an Selbstorganisation und Eigenverantwortung voraus. Fähigkeiten, die auch laut der WEF-Studie in Zukunft immer mehr gefragt sind.

Digitalisierung erfordert lebenslanges Lernen

Auch werden für Jobs  ganz neue Fachkenntnisse nötig sein. Kernkompetenzen vieler Berufe verschieben sich immer weiter in Richtung Technologie- und Prozess-Knowhow. So werden laut der WEF-Studie 58 Prozent aller Arbeitnehmer bis 2022 erhebliche Neu- und Weiterqualifizierungen benötigen – davon seien ganze 19 Prozent auf eine zusätzliche Ausbildung beziehungsweise Umschulung angewiesen, die zwölf Monate oder länger dauert. Zwei Drittel aller Unternehmen erwarten sogar von ihren Mitarbeitern, dass sie ihre Fähigkeiten mit den sich verändernden Jobanforderungen selbst weiterentwickeln und sich auf eigene Faust weiterbilden.

„Unternehmen werden zu lernenden Organisationen – diesen Schritt müssen auch die Mitarbeiter gehen“ ist Katja Vater, Audience Development Managerin bei der Süddeutschen Zeitung Digitale Medien, überzeugt. Es werde dafür eine hohe Bereitschaft für lebenslanges Lernen verlangt.  Wichtig sei, dass dies aus einem inneren Antrieb heraus erfolge. Es sei unmöglich, Menschen weiterbilden und –entwickeln zu wollen, die sich dem Neuen verweigern.

#DMW Podiumsdiskussion auf der HerCareer am 12.10.2018 in München. V.l.n.r: Fabian Dill, Moderatorin Simone Fasse, Dagmar Plieske, Katja Vater und Maren Martschenko.

Durch Netzwerke in Position

„Heute gibt es den klassischen Karriereweg nicht mehr“, so Maren Martschenko, Vorsitzende des Netzwerks Digital Media Women #DMW. Durch die Digitalisierung sind alte Strukturen stark im Umbruch. Alte Rollenklischees und Hierarchiedenke funktionieren nicht mehr. Auch die Unternehmen selbst müssen sich verändern. Dabei werden sich in Zukunft neue Chancen speziell für Frauen auftun, ist die Markenberaterin für Solopreneure und Start-Ups  überzeugt. In ihrer Rolle als Aktivistin für die Digital Media Women beobachtet sie derzeit eine Entwicklung, die sich positiv auf die Rolle der Frauen im Arbeitsleben auswirken kann: „Die Generation der Frauen, die heute auf den Arbeitsmarkt kommt, ist fordernder und findiger. Sie organisieren sich in Netzwerken, lösen sich aus den Klischees und werden selbst zum Vorbild. Sie erkennen die Möglichkeiten, aus einem funktionierenden Netzwerk heraus Dinge zu gestalten und zu verändern.“ Gepaart mit Neugier und Leidenschaft ein Erfolgsrezept – übrigens nicht nur für Frauen.

Weiterführende Links

WEF-Report "the future of jobs" 2018 

#DMW

 

 


Work-Life-Balance

Work, Life oder Balance?

Auf der Developer Week trafen sich letzte Woche in Nürnberg 1.700 Softwareentwickler. Im Maschinenraum der Digitalisierung ging es aber nicht nur um Coden, Ethical Hacking oder Trends wie Blockchain. Besonders gut besucht waren die Sessions, in denen Expert*innen über Softskills wie Persönlichkeitsbildung, Sozialkompetenz und Teamfähigkeiten referierten. Eine von ihnen ist Julia Schüller, Personalleiterin bei der Schiesser AG. Die HR-Trainerin stellt infrage, ob das Streben nach Work-Life-Balance im Zeitalter der Digitalisierung wirklich zum Ziel führt.

Berufs- und Privatleben in Einklang zu bringen, galt lange Zeit als Lebenselexier. Seit das Modewort  „Work-Life-Balance“ Mitte der 90er-Jahre die HR-Abteilungen umtrieb, ist im Arbeitsumfeld viel passiert: Flexibilisierung der Arbeitszeiten, Telearbeit, Kinderkrippe am Arbeitsplatz oder Home-Office, die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. „Das Wort Work-Life-Balance hält einen Wertekonflikt für uns bereit und zwar zu Lasten der Wertigkeit von Arbeiten“, ist Julia Schüller überzeugt. Allein die Begrifflichkeit gehe davon aus, dass die Beruf- und Arbeitswelt etwas anderes sei und abseits vom Leben stattfinde. Im Zeitalter der Digitalisierung und agilen Arbeitsumfeldern sei das nicht mehr zeitgemäß, ja sogar irreführend, so Schüllers These.

Für den Job brennen, ohne auszubrennen

„I love my job!“ Die Leidenschaft, die mit dem Job verbunden ist, positive Erlebnisse, Herausforderungen, Aufgaben, an denen man wächst. Erfolgserlebnisse, die man teilt. Kollegen, die auf der gleichen Wellenlänge sind. Alle diese Dinge prägen unsere Persönlichkeit. Arbeitszeit ist Lebenszeit. Umgekehrt können auch negative Einflüsse aus der Arbeit am Wohlbefinden nagen. Ein Blick in die Statistiken (Quelle: Forsa) zeigt, dass in Deutschland die Arbeit zu einem der größten Stressfaktoren (46 Prozent) zählt. Auch die ständige Erreichbarkeit macht den Deutschen zu schaffen (26 Prozent). Einige können abends oder am Wochenende nicht richtig abschalten (19 Prozent). Meist lassen die Folgen nicht lange auf sich warten. Konflikte im privaten Umfeld sind vorprogrammiert oder der Körper meldet Symptome. Noch nie war die Burn-Out Rate so hoch wie heute.

Balance der Generationen

Work-Life-Balance
Julia Schüller zeigt auf der DWX 2018 die moderne Form der Maslowschen Bedürfnispyramide

Die Digitalisierung hat die Art, wie wir Arbeit definieren und gestalten komplett verändert. Vertrauensarbeitszeit, ergebnisorientiertes Arbeiten, mehr Selbstverantwortung. Was sich im ersten Moment positiv anhört, hat seine Tücken. Muss man wirklich ständig erreichbar sein? Auch am Wochenende auf E-Mails reagieren? Im Urlaub noch schnell das Projekt abschließen? Die Übergänge sind fließend. Nicht jeder kommt damit zurecht.

Die Situation wird dadurch noch verschärft, dass sich derzeit fünf Generationen auf dem Arbeitsmarkt tummeln. Während die Generation der Babyboomer das Rad der Zeit gerne mal zurückdrehen würde, ist bei der Generation Z der Einzug der Technologien gar nicht mehr wegzudenken, sie kennen nichts anders als 24/7 online zu sein. „Die unterschiedlichen Bedürfnisse der Generationen bringt automatisch eine Kluft in die Arbeitswelt, die es zusammenzubringen gilt“, erklärt Schüller.

Impulse für fokussiertes Arbeiten

Sie kennt all diese Konflikte aus ihrem Job als Personalleiterin und Coach. Sie versucht, ihren Mitarbeitern Impulse zu geben, wie sie es aus eigener Kraft schaffen, den Balanceakt zu meistern. Ein wichtiges Hilfsmittel ist die alt bewährte to-do-Liste. „Allein die 5-Minuten Auszeit, um sich zu sammeln, gibt eine Struktur“, weiß die HR-Trainerin. Es gibt nichts Schöneres, als ein to do abzuhaken - man sieht und spürt, was man geschafft hat. Weiterer Vorteil der to-do Liste: Prioritäten sind einfacher zu erkennen und man tut sich leichter, einfach mal den Rotstift anzusetzen. Es soll auch schon vorgekommen sein, dass sich manche Dinge einfach von selbst erledigt haben.

Julia Schüller
Julia Schüller, Bereichspersonalleiterin beim Textilunternehmen Schiesser AG

Apropos Prioritäten: Schüller rät, sich jeden Tag neu zu fokussieren. Die 4x4 Methode nennt sie das und erklärt: „Setze den Fokus auf vier Themen pro Tag und lege deine volle Aufmerksamkeit auf diese Themen, ohne sich davon ablenken oder gar abbringen zu lassen.“ Die Anzahl Vier sei dabei eine empirische Größe. Das hört sich zunächst einfacher an als es tatsächlich ist. Wer hat nicht schon mal in einem Gespräch mit dem Kollegen parallel noch schnell eine E-Mail verschickt. „Am besten, man schließt mit sich selbst einen Vertrag, das auch so umzusetzen“, fügt sie schmunzelnd hinzu.

Auch das berühmte Pareto-Prinzip kann helfen. Es besagt, dass 80 Prozent der Ergebnisse mit 20 Prozent des Gesamtaufwandes erreicht werden. „Das Prinzip kann man auch nach unten weiterdenken. Was ist, wenn ich meinen Input auf vier Prozent herunterfahre, dann erreiche ich immer noch 64 Prozent Ergebnis“, erklärt Schüller. Eine gute Gedankenstütze, wenn man sich dem Druck ausgesetzt fühlt, immer 100 Prozent geben zu müssen.

Am Ende des Tages muss jeder für sich selbst herausfinden, was ihn stresst oder nicht guttut. Den idealen Weg, innere Ausgeglichenheit und Harmonie in einer immer technologisierten Welt zu finden, gibt es nicht. Fest steht: Zeit ist das kostbarste Gut, das wir haben. Es geht darum, sie zu gestalten, egal wo wir sind oder was wir gerade tun. „Carpe diem“, das hat schon der römische Dichter Horaz vor über 2000 Jahren gewusst. Das nennt man zeitgemäß.