nachhaltiger Konsum mit Miet-Commerce

Weniger Zeug durch Miet-Commerce – eine Chance für nachhaltigeren Konsum

Mit dem Wunsch nach nachhaltigeren Konsummodellen hat sich auch das Motto „Nutzen statt Besitzen“ immer mehr verbreitet. Allerdings fliegt das Thema bei den meisten noch immer unter dem Radar. Obwohl große Marken wie Tchibo, Otto oder Vaude Mietmodelle für Teile ihres Sortiments anbieten, sind die Angebote wenig bekannt. Dabei belastet viele Menschen diese Anhäufung von Besitz immer mehr und „Mieten statt Kaufen“ könnte eine gute Lösung sein. Ich stelle euch heute einige interessante Modelle im Miet-Commerce und ihre Protagonisten vor. Ich war überrascht, wie viele Möglichkeiten der Miet-Commerce heute schon bietet.

Mieten als Geschäftsmodell im Handel ist eigentlich ein alter Hut. Waren es zu Beginn vor allem die Leih-Ski im Winterurlaub oder die Baumärkte, die mit dem Verleih von Maschinen oder Handwerkszeug auf sich aufmerksam machten, treten immer mehr Branchen ins Rampenlicht, die man für Miet-Commerce-Modelle zunächst nicht wirklich auf dem Schirm hatte. Gepusht wurde dieser Ansatz besonders durch den Wunsch nach nachhaltigeren Konsummodellen. Schließlich werden Produkte oft nur selten genutzt und sie dann mit einem anderen Nutzer zu teilen, leuchtet wirklich ein. Unter dem Motto „Nutzen statt Besitzen“ entwickeln sich inzwischen viele Initiativen und zahlreiche Start-ups sprießen aus dem Boden. Auch einige etablierte Hersteller und Händler haben bereits eigene Miet-Commerce-Modelle.

Unown: Bekleidung mieten als Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit im Fashionkonsum

Das Hamburger Start-up Unown machte erstmals im Herbst 2019 mit einem Miet-Modell für nachhaltige Mode auf sich aufmerksam. Das Ziel: Ein profitables Geschäft entwickeln und gleichzeitig Teil der Lösung für drängende gesellschaftliche und ökologische Probleme sein. Laut Greenpeace werden 40 Prozent in unserem Kleiderschrank selten oder nie getragen. Dem gegenüber stehen rund 60 neue Teile, die eine Frau durchschnittlich im Jahr neu anschafft – um den Kleiderschrank weiter vollzustopfen. Das Tragische daran: Der Besitz belastet immer mehr Konsumenten und Lösungsansätze sind dementsprechend hochwillkommen. Schon 2018 gaben 20 Prozent der Deutschen an, Bekleidung auch mieten zu wollen. Heute dürfte die Bereitschaft dazu eher gestiegen sein – passend zum Trend des Re-Commerce, also dem Handel von Second Hand Ware, der im letzten Jahr einen gewaltigen Zuwachs hinlegen konnte. Rund 200 Teile von über 20 Marken gibt es aktuell im Unown-Shop, die entweder einzeln geleast oder als Abo-Modell in verschiedenen Umfängen, z.B. drei Teile im Monat zum Preis von 69,- Euro temporär erstanden werden können. Die typische Kundin ist 25-45 Jahre alt, lebt eher in urbanen Gebieten und gibt durchschnittlich 150-200 Euro für Kleidung im Monat aus. 20 Prozent der Kleidung wird laut Co-Gründerin und Co-CEO Tina Spiessmacher von den Kundinnen am Ende gekauft. Sie bestätigt: „Befragungen unserer Kundinnen ergaben, dass sie durch unser Leasing-Modell tatsächlich weniger neue Teile kaufen.“ Bei Unown wechselt ein Teil durchschnittlich sechs- bis achtmal die Besitzerin bis es aus dem Loop herausgenommen wird – entweder weil es gekauft oder z.B. an den Hersteller retourniert wird. Besonders gut funktioniert bei Unown Mode, die Statement-Charakter hat aber auch im Business-Umfeld tragbar ist. Probleme mit beschädigter Ware gab es bislang übrigens kaum. Die Kleider sind versichert, die Reinigung ist kostenlos:

„Hier hatten wir zu Beginn ein bisschen Sorge, doch tatsächlich behandeln unsere Kundinnen die Ware sehr sorgsam. Um für die nächste Wachstumsphase gut aufgestellt zu sein, arbeiten wir gerade intensiv an der Ausweitung des Sortiments und daran, unser digitales Produkt-Tracking weiter zu verbessern,“ erklärt Tina Spiessmacher.

Unown-Fashion
Shop von Unown-Fashion
Von der internen Mitarbeiter-Ausleihe zum professionellen Miet-System

Der Outdoor-Spezialist Vaude startete sein Miet-System „IRentit“ by Vaude im Jahr 2016 und hat dort Zelte, Isoliermatten, Rucksäcke und Fahrradtaschen im Sortiment. „Unser Verleih-Modell wurde durch unseren firmeninternen Ausleihpool inspiriert, über den sich unsere Mitarbeiter schon seit vielen Jahren für private Zwecke Ausrüstung ausleihen konnten“, erklärt Benedikt Tröster, Pressechef bei Vaude. Um Erfahrungen zu sammeln, gab es das Mietsystem zunächst nur in den stationären Stores des Herstellers, seit 2017 ist auch der Online-Verleih möglich. Der Service wird von Kunden inzwischen gut angenommen. Allerdings verzichtet Vaude nach eigenen Angaben derzeit auf eine starke Bewerbung von IRentit, um die internen Kapazitäten nicht zu überlasten. Die größte Herausforderung bei dem Modell besteht laut Benedikt Tröster im Handling. Neben der Logistik sind vor allem die manuelle Wartung und ggf. Reinigung der Produkte sehr zeitaufwendig. Daneben erfordert das System eine IT-Lösung, bzw. Abbildung in einem ERP-System, was für Unternehmen unter Umständen hohe Anfangsinvestitionen erfordert, aber auch eine spätere Skalierung ermöglicht. „Bislang werden Zelte am meisten nachgefragt“, erklärt Benedikt Tröster und ergänzt, „vermutlich, weil dies sehr hochpreisige Ausrüstungsgegenstände sind, die in der Regel nur selten im Jahr genutzt werden.“  Aber auch wasserdicht verschweißte Radtaschen werden nachgefragt, natürlich mit einem saisonalen Peak zu Ferienzeiten.

iRentit by Vaude
iRentit by Vaude
Möbel zum Mieten? Ikea will in der Schweiz starten

Der schwedische Möbelriese Ikea beispielsweise verkündete bereits im September 2018, künftig Mietmöbel anzubieten. Auftaktmarkt für die neue Leih-Welt soll zunächst die Schweiz sein und das Büro-Sortiment umfassen. Losgehen sollte es eigentlich noch im Juni dieses Jahres, ob dieser Termin aber gehalten werden kann, ist angesichts der Corona-Krise ungewiss. Ikea Österreich Chef Alpaslan Deliloglu verkündete noch Anfang Februar, dass spätestens Ende 2021 auch in Österreich Möbel zum Mieten angeboten werden sollen. Der Grund: Das Möbelhaus will nachhaltiger werden. Beim Berliner Start-up Lyght Living rund um die Gründerinnen Laura Seiler und Nadine Deuring kann man bereits seit April letzten Jahres Möbel mieten. Ihr Konzept „Furniture as a service“ richtet sich in erster Linie an Menschen, die öfter umziehen. Rund 200 Produkte von über 50 Marken aus den Bereichen Wohnen, Essen, Schlafen, Arbeiten, Lampen & Dekoration sowie Outdoor bietet der Shop aktuell zur Miete an.

Erst Kinderkleidung dann Sportgeräte – Tchibo Share will weiter wachsen

Bereits viel Erfahrung gesammelt hat das Miet-Business von Tchibo. Schon 2017 startete Tchibo als erstes großes Handelsunternehmen das Pilotprojekt ‚Tchibo Share‘ in Kooperation mit dem Magdeburger Unternehmen kilenda. Tchibo Share bietet nachhaltig produzierte Baby-, Kinder- und Damen-Kleidung zur Miete an und das Modell scheint zu funktionieren. Laut Unternehmen haben sich sowohl Warenkorbgröße und Conversion Rate zufriedenstellend entwickelt, so dass das Modell weiter ausgebaut werden soll. Inzwischen können Tchibo Share Kunden neben Bekleidung auch Sportgeräte und Möbel mieten. Bei Sportgeräten wird vor allem das Argument des Ausprobierens ins Feld geführt um Kunden zum „Kauf“ zu locken. Ist man also unsicher, ob der Tchibo Schlingentrainer für einen Kaufpreis von 29,90 Euro gefällt, kann man ihn für 4,99 Euro monatlich zunächst mieten und bei Erreichen des Kaufpreises einfach behalten – oder eben nach einem Monat zurücksenden. Tchibo Kreislauf-Expertin Sarah Herms in einem Gespräch mit fashionunited:

„Um Tchibo Share langfristig und damit nachhaltig zu betreiben, braucht es ein breites Kunden-Fundament. Je mehr wir unser Angebot verbreitern, desto mehr leihen sich unsere Kunden aus“.

Tchibo Share
Sportequipment bei Tchibo Share
Von Multimedia über Haushaltselektronik bis hin zu E-Scootern: Otto Now expandiert

Vor gut drei Jahren ist mit Otto Now auch der Versandhandelsriese Otto ins Miet-Business eingestiegen. War das Sortiment bei Otto Now zunächst auf einzelne Bereiche wie Multimedia, Haushaltselektronik und Sport beschränkt, umfasst der Kategoriebaum inzwischen auch Möbel und E-Mobility Produkte wie E-Scooter oder E-Bikes. Ganze Büroausstattungen lassen sich heute über Otto Now mieten – gerade in Zeiten von Corona-bedingtem kollektivem Home-Office und Home-Schooling eine interessante Alternative zum Kauf. Ein Apple Notebook Pro kostet hier bei drei Monaten Mietdauer 177,90 Euro pro Monat, ein 27‘‘ Full HD Monitor von HP ist schon ab monatlichen 19,90 Euro bei sechs Monaten Mietdauer erhältlich. Anstatt das Modell lange theoretisch zu konzipieren, hat es Otto Now früh als Testlauf in die Praxis gebracht, um das unmittelbare Feedback der Kunden einholen zu können. Dieser Vorgehensweise werde das Start-Up auch in Zukunft treu bleiben, bestätigt David Rahnaward, Mitbegründer von Otto Now: „Wir sind wie Forscher auf nahezu unkartographiertem Terrain. Der nächste Schritt ist für uns jetzt, dass wir mit unserem Angebot – von der Miete über die kostenlosen Services wie Lieferung, Anschluss oder Reparatur bis hin zur Abholung des Produktes – einen immer größeren Nutzerkreis von uns überzeugen.“

Otto Now
Miet-Commerce bei Otto Now
Dem Mutigen gehört die Welt – das sieht man auch in der Krise

Ob die hier dargestellten Miet- oder Leasing-Modelle tatsächlich unseren CO2-Fußabdruck auf der Welt reduzieren, will ich nicht beurteilen. Leider fehlt bei den Anbietern eine klare „Beweisführung“, inwieweit ihr Modell tatsächlich unsere Umwelt entlastet. Bei nachhaltig produzierten Produkten von wie bei unown oder Vaude ist die Glaubwürdigkeit daher höher als etwa bei konventionell produzierten Sportgeräten von Tchibo. Doch eines ist sicher: Es ist Zeit, unseren Konsum zu überdenken und verantwortungsbewusster mit Ressourcen umzugehen! Ein Trend, der nach Corona sicher fortgesetzt werden wird. Und in der Krise wird besonders deutlich: Unternehmen, die trotz widriger Umstände nicht den Kopf in den Sand stecken und bereit sind, neue Ideen auszuprobieren und mit großer Begeisterung einfach weitermachen und lernen, werden die Gewinner der Krise sein. Jetzt ist Zeit, sich über neue Business-Modelle Gedanken zu machen und mutig zu sein – dann kann man sich auch in der Krise weiterentwickeln und Positives herausziehen.

Weiterführende Links

www.unown-fashion.com

www.vaude.com

www.tchibo-share.de

www.ottonow.de

 

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Wolf Lotter

Publizist Wolf Lotter:
„Komplexität erschließen, um Vielfalt zu gewinnen.“

Was wird uns helfen, die Corona-Krise zu überwinden? Die Komplexität unserer Welt, die uns die Krise vor Augen führt, scheint unüberwindlich. Ich habe mit Journalist Wolf Lotter, dem Mitgründer der Zeitschrift „brand eins“ und Buchautor, über Wissensökonomie, Technologien und Innovationen gesprochen. Seine Botschaft: Wir müssen lernen, uns aus den vorgegebenen Strukturen zu befreien. Wir müssen von der Vorstellung abrücken, dass es in Zukunft nur eine Lösung und eine Wahrheit gibt. Ein sehr inspirierendes Gespräch über Krisenbewältigung in der heutigen Wissensgesellschaft.

Herr Lotter, Sie bezeichnen sich selbst auf ihrem Twitterprofil als Zivilkapitalist. Was genau verstehen Sie darunter?

Einen Zivilkapitalist nenne ich eine Person, die die Mittel der Marktwirtschaft nutzt, um selbstbestimmter und emanzipierter, freier leben zu können. Also nicht als abhängig Beschäftigter, wie die meisten es im Angestelltenverhältnis tun. Man kann beobachten, dass unsere Gesellschaft zunehmend eine bequeme Haltung eingenommen hat. Zuerst verlässt man sich auf seine Eltern, später auf den Chef oder das Management. Das hat nichts mehr damit zu tun, sich gesellschaftlich zu emanzipieren oder beruflich etwas voranzubringen.

 

„Wenn ich innovativ sein will, muss ich mit Widerstand rechnen.“

 

Bedeutet das Ihrer Meinung nach, dass wir in Deutschland in einer Kultur der Abhängigkeit leben und arbeiten?

Wir haben eine Kultur, in der es einfacher ist, sich bedienen zu lassen als sich durchzusetzen. Diese Nicht-Widerständigkeit wird legitimiert, indem man es Leuten leicht macht, sich nicht verändern zu wollen und andere auszunutzen. Man kann nicht über Veränderungen zum Besseren, z.B. bessere Löhne oder bessere Arbeitsbedingungen reden, wenn man nicht auch über die Machtfrage redet. Und dazu gehört immer das Selbstbewusstsein, dass man weiß, was man kann und was man tut. Nur dann funktioniert es.

Bieten die unternehmerischen Organisationsstrukturen überhaupt die Möglichkeiten, sich als Zivilkapitalist zu emanzipieren?

Der Berater Jürgen Fuchs hat einmal die Arbeitswelt mit einem Satz beschrieben: Angestellte sind Menschen, die morgens um neun Uhr angestellt und abends um fünf Uhr wieder ausgestellt werden. Wir denken in Arbeits- und Organisationsformen, die von gestern sind. Wir leben zwar in einer Netzwerkgesellschaft, wir reden gerne von Agilität, wir reden gerne von New Work, aber wir machen das alles nicht.

 

„Ändert etwas und haltet etwas aus, das ist die kulturelle Voraussetzung für Innovation.“

 

Durch die Corona-Krise wurden von heute auf morgen viele Arbeitnehmer zu Homeoffice verbannt. Glauben Sie, dass das der Beginn einer nachhaltigen Entwicklung zu neuen Arbeitsformen ist?

Solange wir immer noch nicht akzeptiert haben, dass es dort Arbeit gibt, wo der Kopf ist, sicher nicht. Der Vordenker der Wissensökonomie, Peter Drucker, hat es einmal gesagt: Das Kapital des Wissensarbeiters befindet sich im Kopf, dort findet die Produktion und die Wertschöpfung statt. Nicht in einem Büro, nicht in einer Organisation, nicht an einem Schreibtisch. Aber in der heutigen Arbeitswelt fahren wir alle zu einem bestimmten Ort, um zu arbeiten und damit befinden wir uns eigentlich noch immer in der Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts.

Ist die Krise vielleicht die große Chance, das zu verändern?

Ich bin pessimistisch, dass die Krise zu radikalen Veränderungen beitragen wird. Die Krise hat in unserer Arbeitswelt zu einer Reaktion geführt und nicht zu einem Fortschritt, weil die Unsicherheit noch verschärft worden ist und die Leute sich noch mehr darauf verlassen, was der Chef in der Organisation sagt. Verschlimmert wird das dadurch, dass die Menschen nun zwangsweise die Erfahrung mit Homeoffice und Remote Work in negativem Kontext erleben, nämlich in häuslicher Isolation und im Krisenmodus.

Sie glauben also, dass die Krise einen negativen Effekt auf die Digitalisierung der Arbeitswelt hat?

Die am besten ausgebildeten Generationen, die je in Europa am Arbeitsmarkt waren, Leute, die fast alle studiert haben, sind nicht in der Lage, sich selbst als jemanden begreifen, der für sich selbständig zuhause arbeiten kann. Man muss kritisch reflektieren, was das bedeutet: Wenn die Menschen auf sich selbst zurückgeworfen werden, ist das in eine Drohung. Und zwar aus dem Grund, dass die meisten das nicht ertragen können und darin liegt das Problem.

 

„Wenn wir damit anfangen würden, uns selbst zu akzeptieren, uns selbst wertzuschätzen, dann können wir auch eine bessere Gemeinschaft sein.“

 

Sie schreiben aktuell ein Buch über „Zusammenhänge“, das im Herbst veröffentlicht werden soll. Welche Thesen stellen sie darin auf?

Es ist die Fortführung der Thesen, die Peter Drucker aufgestellt hat. In unserem Jahrhundert wird Wissen immer individueller und feingliedriger. Das ist ein Produkt der Arbeitsteiligkeit und führt dazu, dass wir immer mehr Spezialisten haben, die sich untereinander verstehen, aber kein anderer versteht sie mehr. Um Wissen produktiv zu machen, müssen wir lernen, Zusammenhänge herzustellen. Menschen, die mehr Freiräume wollen, müssen lernen, ihr Wissen zu teilen.

„Wissen teilen“, das propagiert zurzeit jedes Managementseminar ….

Die Frage ist doch, ob das nur eine Phrase ist oder ob man wirklich in der Lage ist, das Wissen zu teilen. Wissen teilen ist im Grunde erst dann möglich, wenn man sich richtig ausdrücken kann. Wir werden erst zur Wissensgesellschaft, wenn wir Dinge verstehen und auch erklären können. Und davon sind wir weiter entfernt als je zuvor.

Wie meinen Sie das bzw. können sie das anhand eines Beispiels erläutern?

Die Informationstechnologie als Beispiel: Das ist eine einzige Blackbox, verschlossene Systeme, die keiner begreift. Die nachfolgende Generation, die sogenannten „Digital Natives“, sie können die Technologie konsumieren, sie verstehen aber nicht, was sich dahinter verbirgt, weil sie es nie gelernt haben. Ganz zu schweigen von dem kritischen Umgang mit Technologien. Die Digital Natives haben noch nicht einmal gelernt, zu entscheiden, wann sie ein- oder ausschalten sollen. Damit geht eine wichtige Kultureigenschaft verloren.

 

„Ich kenne viele Unternehmer aus der älteren Generation, die innovationsfreudiger sind als ein Rudel Studenten.“

 

Sie kritisieren also, dass wir Technologie nur konsumieren?

 Ich bin kein Gegner des Konsums und des Wachstums. Im Gegenteil, beides ist menschengerecht, um sich weiter zu entwickeln. Aber ich kritisiere – und das schon lange – dass sich die westliche Konsumgesellschaft zum Großteil nur noch in der Rolle des passiven Verbrauchers befindet, und die Betonung liegt auf NUR. Die Menschen begnügen sich damit, am Ende der Nahrungskette Dinge zu verbrauchen und halten sich dabei für revolutionär. Aber sie sind nie bereit, die Welt zu gestalten und sie verfügen nicht über die Sachkenntnis, Zusammenhänge herzustellen.

Welche Voraussetzungen müssen geschaffen werden, um Zusammenhänge herstellen zu können?

Man braucht zumindest Wissen über Ökonomie, über Technologie. Und man muss wissen, wie unternehmerische und gesellschaftliche Organisationen funktionieren. Und man braucht ein Bildungssystem, das uns etwas anderes lehrt, als sich einzufügen und unterzuordnen. Das wird schon seit Jahrzehnten gefordert. Ich versuche, in meinem Buch zu beschreiben, wie die Netzwerkökonomie funktioniert. Anders als in der Vergangenheit, als eine Regel, ein Standard, eine Norm für alle galt, betreiben wir heute Ökonomie von Fall zu Fall, von Bedarf zu Bedarf. Das heißt, wir müssen uns immer wieder auf neue Bedingungen einlassen, uns einer anderen Sprache bedienen, uns einen anderen Zugang verschaffen, in der Kommunikation emphatisch sein.

 

„Ein starkes Ich wohnt in einem starken Wir.“

 

Das klingt komplex!

Die Welt ist komplex. In der Vergangenheit hatten wir Menschen die Aufgabe, Komplexität zu reduzieren. Sei es mit Erklärungsmodellen, mit Technologien, damit die Welt uns nicht zu kompliziert erscheint. In Zukunft wird es darum gehen, Methoden und Werkzeuge zu entwickeln, die Komplexität erschließen. Und damit Vielfalt und Unterschiedlichkeit möglich machen.

Lässt sich die Komplexität unserer Welt und eine Krise, wie wir sie jetzt erleben, mit Vielfalt lösen?

Wir müssen von der Vorstellung abrücken, dass in der Wissensökonomie nur eine Lösung und eine Wahrheit gibt. In Zukunft wird es darauf ankommen, so miteinander zu kommunizieren, dass wir uns in der einen Sache einigen können. Das wird nicht einfach werden, denn wir haben lediglich gelernt, mitzumachen oder wegzugehen. Das wird gerade nach der Corona-Krise nicht mehr möglich sein. Wir müssen lernen, so miteinander zu kommunizieren, dass jeder den anderen versteht und zu akzeptieren, dass es auch andere Wahrheiten und andere Realitäten gibt, als die wir selbst antizipiert haben.

 

„Wir brauchen keine nützlichen Idioten, die dem System und der Bürokratie dienen, sondern Leute, die es unternehmerisch anpacken.“

 

Was ist Ihr Rat an die Unternehmen, vor allem an die Kleinunternehmer und Mittelständler, die von der Krise besonders stark betroffen sind?

Wenn uns die Krise etwas zeigt, dann dass wir uns nicht auf die Welt der Bürokraten und die Welt der Konzerne mit ihren Angestellten-Apparaten verlassen können. Mein Appell an die selbstbewussten Zivilgesellschafter: Emanzipiert euch! Schafft euch eigene Strukturen, organisiert euch selbst in Syndikaten oder genossenschaftsähnlichen Organisationen, macht euch gemeinsam stark und setzt eure Interessen durch. Das ist die Zukunft von Netzwerkökonomie.

"brand eins"-Mitgründer, Publizist und Buchautor Wolf Lotter (Jahrgang 1962), Fotocredit: Sarah Esther Paulus

Vielen Dank für das Gespräch, lieber Herr Lotter!

 

Weiterführende Links

Über Wolf Lotter

Wolf Lotter in der „brand eins“ über Eigensinn, 2020

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Scale für Meter

Quantencomputer und Datensicherheit: Es steht viel auf dem Spiel.

Quantencomputer können unsere Welt simulieren, Berechnungen mit unzähligen Variablen durchführen und daraus Vorhersagen treffen, die heutige Supercomputer nicht leisten können. Noch ist es der Welt nicht gelungen, einen solchen Quantencomputer zu entwickeln, doch die größten IT-Firmen weltweit forschen daran – von den Geheimdiensten mal ganz abgesehen. Warum es ein großes Problem ist, dass wir die Daten von heute nicht vor einem Quantencomputer von morgen schützen können, erklärt Prof. Dr. Tanja Lange, Expertin für Post-Quantum Kryptographie. Im Interview erläutert sie, welche Gefahr der Quantencomputer für unsere Datensicherheit darstellt und wie ‚normale‘ Menschen üblicherweise auf ihr Forschungsgebiet „Quantenresistente Kryptografie“ reagieren.

Frau Lange, können Sie kurz erklären, womit genau Sie sich beruflich beschäftigen?

Ich arbeite als Professorin an der Eindhoven University of Technology. Mein Spezialgebiet ist die Kryptografie. Als Professorin gebe ich Vorlesungen, betreue ich Bachelor- und Masterarbeiten und betreibe ich Forschung. Kryptografie beschützt Daten, so dass kein Unbefugter sie lesen oder unbemerkt verändern kann.

Was ist ein Quantencomputer?

Ein Quantencomputer ist ein Computer, der Phänomene in der Quantenmechanik ausnutzt, um Berechnungen durchzuführen. Feynman hat Quantencomputer vorgeschlagen, um Quantenmechanik effizient zu simulieren.

Können Sie in einfachen Worten erklären, wo der Unterschied zum Supercomputer bzw. normalen Computer liegt?

Ein Quantencomputer kann nicht nur mit Bits, also 0 und 1, arbeiten, sondern auch mit Qubits, die verschiedene Zustände gleichzeitig annehmen. Dies bezeichnet man als Superposition. Ein normaler Computer kann solche Berechnungen simulieren, aber das benötigt exponentiell mehr Bits. Ein Beispiel:

"Für 4 Qubits braucht ein Computer gerade mal 16 Bits, für 32 Qubits befinden wir uns im Bereich der Gigabytes, was für Laptops kein Problem ist, aber 256 Qubits benötigen schon astronomische 2^256 Bits. Und das ist mehr als das Universum Atome hat."

Auf all diesen Qubits rechnet ein Quantencomputer gleichzeitig, wie ein großer Supercomputer, der parallel mit allen Eingabewerten rechnet. Im Gegensatz zum Supercomputer kann man aber nicht auf die Ergebnisse einzeln zugreifen: am Ende jeder Berechnung auf einem Quantencomputer steht eine Messung, die klassische Bits gemäß der Wahrscheinlichkeiten der verschiedenen Zustände ausgibt. Quantenalgorithmen müssen also so konstruiert sein, dass das gewünschte Ergebnis eine hohe Wahrscheinlichkeit hat.

Wer forscht gerade an der Entwicklung von Quantencomputern?

In den USA sind das vor allem große Firmen, wie Google, IBM, Intel und Microsoft. Diese haben die universitäre Forschung aufgekauft, z.B. hat Google eine führende Gruppe von der Universität in Santa Barbara übernommen. Es gibt auch schon Startups. In China sind es auch die großen Firmen, wie z.B. Alibaba. In Europa sehen wir noch öffentliche Forschung an Universitäten, z.B. in Delft und Kopenhagen, aber auch diese haben große Projekte mit den amerikanischen Firmen. Zusätzlich gibt es sicherlich noch Forschung in den Geheimdiensten der größeren Länder, aber Details dazu sind nicht bekannt. Die Snowden-Files zeigten einige Millionen US Dollar im 'black budget". Dieser Betrag ist nicht genug, um an der Spitze mitzuspielen. Andererseits ist diese Information von 2013 und inzwischen könnte natürlich mehr Budget vorhanden sein.

Es heißt, Google habe einen Quantencomputer entwickelt. Ist das aus Ihrer Sicht glaubwürdig? Wenn ja, welche Konsequenzen hätte das?

Google hat kürzlich über ein Experiment berichtet, in dem sie eine Berechnung auf einem Quantencomputer deutlich schneller als auf dem größten Supercomputer durchgeführt haben.

Google und IBM sind momentan führend im Bauen von Quantencomputern. Diese sind knapp größer als wir mit einem Supercomputer effizient simulieren können, aber die Berechnung, die Google durchgeführt hat, hat keinen praktischen Nutzen. IBM hat kurz nach der Google-Ankündigung gezeigt, dass der Zeitunterschied zu ihrem Supercomputer viel kleiner ist, als Google angegeben hatte. Diese Resultate sind wissenschaftlich sehr interessant haben aber noch keine direkten Konsequenzen.

Wofür braucht man diese Geräte?

Quantencomputer können unsere Welt effizient simulieren, dies ist wichtig in der Wettervorhersage und in der Entwicklung von Medikamenten oder von Düngemitteln; also generell überall, wo ein physikalisches System mit vielen Variablen beschrieben werden kann, und dann viele Wechselwirkungen berechnet werden müssen. Für die heutigen Supercomputer sind diese Systeme zu groß, so dass Berechnungen nur für vereinfachte Systeme durchgeführt werden können, wodurch die wirkliche Wirkung der Moleküle nur durch Experimente herausgefunden werden kann.

In Ihrem Vortrag auf der OOP-Konferenz sprechen Sie über Quantencomputer und Datensicherheit. Inwiefern stellt der Quantencomputer eine Gefahr für die Sicherheit unserer Daten dar?

Quantencomputer können einige mathematische Probleme deutlich schneller als unsere normalen Rechner lösen. Solche Probleme müssen eine bestimmte Struktur haben, und die wird leider in den gängigen Kryptosystemen benutzt. Das berühmteste Beispiel ist das RSA System von 1977, benannt nach seinen Erfindern Rivest, Shamir und Adleman. RSA wird noch immer überall im Internet und auf Chipkarten benutzt, aber es basiert auf einem mathematischen Problem, das Quantencomputer viel schneller lösen können als herkömmliche Rechner. Das bedeutet, dass alle Daten einem Angreifer mit einem Quantencomputer hoffnungslos ausgeliefert sind.

"Was die Situation noch viel schlimmer macht, ist, dass Geheimdienste und Kriminelle unsere Kommunikation schon seit Jahren aufzeichnen und dann in der Zukunft entschlüsseln können. Wenn die Daten dann noch geheim sein müssen, ist das ein Problem."

Der Sender hätte heute schon ein anderes System benutzen müssen. Es hilft leider nicht, die geheimen Daten später noch anders zu verschlüsseln, denn der Angreifer hat dann ja schon die anfällige Version gespeichert.

Wie begegnet die Online-Welt dieser Gefahr?

Glücklicherweise sind sich mehr und mehr Leute dieser Gefahr bewusst. Ich war sehr erfreut über die Einladung zur OOP-Konferenz, weil das zeigt, wie weit diese Gefahr bekannt ist. Die Akademie der Wissenschaften in den USA hat Ende 2018 einen langen Bericht herausgegeben, der 10 Punkte hervorhebt. Einer davon ist, dass es sehr dringend ist, sich auf diese Gefahr vorzubereiten und Abhilfe zu schaffen. Zurzeit sind viele Forscher damit beschäftigt neue Kryptosysteme zu erfinden und zu analysieren, deren Sicherheit auch Angriffen mit Quantumcomputern standhält. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen und findet sehr viel Interesse.

Ihr Thema weckt wahrscheinlich bei vielen Menschen Assoziationen zu düsteren Geheimdienst-Filmen. Ist Ihre Forschung wirklich so aufregend oder gibt es Ergebnisse, die einer gewissen Geheimhaltung unterliegen?

All meine Forschung ist öffentlich, weil ich versuche, allen Menschen eine sichere Kommunikation zu ermöglichen. Firmen halten manchmal gute Ergebnisse zurück und bei Geheimdiensten weiß man nie, auf welcher Seite sie stehen – das haben die Snowden Daten nur bestätigt. So gesehen ist das Gebiet schon anders als andere Wissenschaften.

Physikern und Mathematikern wird gemeinhin eine besonders hohe Intelligenz zugesprochen. Wie reagieren Menschen außerhalb Ihres Berufslebens, wenn Sie erzählen, dass Sie Forschung im Bereich quantenresistenter Kryptografie betreiben?

Das braucht dann meist schon eine längere Erklärung, aber Kryptografie und Sicherheit finden die meisten schon spannend.

Gibt es auch Dinge, die Sie in der Mathematik nicht verstehen?

Mathematik ist ein riesiges Gebiet und es gibt viel, was ich noch nicht kenne. Es ist auch ein aktives Forschungsgebiet mit vielen offenen Fragen, was bedeutet, dass es viele Dinge gibt, die niemand bislang versteht. Und das macht das Gebiet sehr spannend.

 

Prof. Dr. Tanja Lange
Prof. Dr. Tanja Lange, Expertin für Post-Quantum-Kryptografie

Tanja Lange ist seit 2006 Professorin an der Technischen Universiteit Eindhoven (Niederlande). Ihre Forschung überbrückt die Gebiete der algebraischen Geometrie, theoretischer Kryptographie und praxisnaher Informationssicherheit. Sie ist Expertin in Kryptographie mit Kurven und in Post-Quantum Kryptographie. Zudem ist sie Mitglied des Editorial Boards für diverse wissenschaftliche Zeitschriften und im Steering Committee für Konferenz-Serien, inklusive der Post-Quantum Cryptography Konferenzen. Sie war Koordinatorin des EU-H2020 Projekts PQCRYPTO – Post-quantum cryptography for long-term security (pqcrypto.eu.org). Sie spricht auf Konferenzen zu Kryptographie und Sicherheit und hat mehr als 70 Artikel und Bücher geschrieben, darunter ein Aufsatz in Nature zur Post-Quantum Cryptography.

 

 

 

 

Weiterführende Links:

Keynote am 5.2.2020 auf der OOP-Konferenz 2020: https://www.oop-konferenz.de

EU-H2020 Projekt PQCRYPTO pqcrypto.eu.org

 

Interne Links:

Technologie und Moral:Hippokratischer Eid für IT-Berufe?

KI und Ethik: Wissen sie, was sie tun?


Dr. Anita Sengupta, Mitbegründerin, Airspace Experience Technologies (ASX), USA. Forschungsprofessorin für Raumfahrttechnik, Universität von Südkalifornien

Mobilität und Verkehr:
Wie Raumfahrttechnologie den CO2-Fußabdruck reduzieren wird

Wie kann Raumfahrttechnologie unseren CO2-Ausstoß reduzieren? Die Amerikanerin Dr. Anita Sengupta, die als Luft- und Raumfahrtingenieurin viele Jahre bei der NASA tätig war, hat sich als Chefentwicklerin des sogenannten Hyperloops einen Namen gemacht. Im Jahr 2019 wurde sie Mitgründerin und Chief Product Officer von Airspace Experience Technologies (ASX) - ein Start-Up, das ein hybridelektrisches, vertikal startendes und landendes städtisches Luftmobilitätssystem entwickelt. Die Pilotin wird im Februar 2020 auf der OOP-Konferenz in München zeigen, wie Raumfahrt-Technologie in Verbindung mit Venture Capital einen umweltfreundlichen Verkehr ermöglicht. Ich durfte in einem Telefoninterview mit ihr darüber sprechen, wie sie Mobilität revolutionieren und den CO2-Fußabdruck des Flugverkehrs reduzieren will.

Können Sie kurz die Projekte skizzieren, an denen Sie als Luft- und Raumfahrtingenieurin in den letzten Jahren gearbeitet haben?

Ich habe den größten Teil meiner Karriere im Raumfahrtprogramm der NASA gearbeitet. Meine Doktorarbeit beschäftigte sich mit Plasmaantrieben, ja, das ist Raketenwissenschaft. Danach arbeitete ich an Einstiegssystemen für die Landung auf der Oberfläche anderer Planeten, insbesondere mit dem Landungssystem für den Curiosity Rover auf dem Mars, einem Venus Lander, einem Mars-Aufstiegsfahrzeug und der Orion Earth Return Capsule. Anschließend wechselte ich als Missionsleiterin zur International Space Station (ISS), um dort das Kaltatom-Labor zu entwickeln und zu leiten. Im Jahr 2017 entschied ich mich, die NASA zu verlassen, um meine Expertise der Entwicklung grüner Transportmittel zu widmen, zunächst als Führungskraft bei Virgin Hyperloop und nun als Mitbegründer eines Unternehmens für elektrische VTOL-Flugzeuge, oder besser bekannt als Lufttaxis.

Das Unternehmen Airspace Experience Technologies ASX, das Sie mitgegründet haben, will die urbane Mobilität revolutionieren. Worum geht es da genau?

ASX ist ein Start-Up, das ein emissionsfreies Flugmobilitätsfahrzeug entwickelt. Ziel ist es, den Share Ride Transport in städtischen und vorstädtischen Umgebungen, die unter Straßenüberlastung leiden, zu erleichtern. Ich persönlich sehe ein Ende des individuellen Autobesitzes zugunsten einer gemeinsamen, emissionsfreien Transportmöglichkeit am Boden und in der Luft. Die Urbane Luftmobilität (UAM) wird die Entwicklung der elektrischen Luftfahrt anstoßen, und zwar durch die Nutzung von gespeicherter Energie aus Batterien. Wenn das Netz mit grünem Strom wie Sonne oder Wind betrieben wird, wird der CO2-Fußabdruck deutlich reduziert. Was als nächstes kommt, sind mit Wasserstoff-Brennstoffzellen betriebene Regionalflugzeuge und schließlich Langstrecken-Jet-Flugzeuge, die auf Wasserstoff beruhen.

 

“Einer der effizientesten Verkehrsträger pro Passagierkilometer ist der kommerzielle Flugverkehr, der aber immer noch auf fossile Brennstoffe angewiesen ist.”

 

Der Verkehr in den europäischen Metropolregionen steht vor dem Kollaps. Inwieweit wird die Luft- und Raumfahrttechnik echte Alternativen bieten können?

Als Amerikanerin bin ich sehr beeindruckt von Europas riesigem Eisenbahnnetz, den städtischen U- und Stadtbahnsystemen und dem Drang, in nachhaltige Luftfahrttechnologien zu investieren. Ironischerweise ist eine der energieeffizientesten Reisemöglichkeiten pro Passagierkilometer der kommerzielle Flugverkehr, da er als Shared Service betrieben wird. Das Problem ist jedoch, dass der Luftverkehr immer noch auf fossile Brennstoffe angewiesen ist. Der Übergang zu einem emissionsfreien Flugverkehr wird einen Paradigmenwechsel in unserer Energiewirtschaft und unserer CO2-Bilanz ermöglichen. Massenverkehrsmittel, öffentliche Verkehrsmittel und der Verzicht auf die individuelle Autonutzung sind die Lösung.

 

“Der Flugverkehr ist bereits heute größtenteils auf den Autopiloten angewiesen. Ein kommerzieller Flug und die Autonomie in der Luft ermöglicht ein effizienteres Verkehrsmanagement. Daher ist die Ausdehnung auf die Nutzung des Luftraums in niedriger Höhe mit urbaner Luftmobilität eine natürliche Entwicklung.”

 

Weltweit gibt es etwa 140 Projekte für Lufttaxis. Was unterscheidet Ihr Projekt bei Airspace Experience Technologies von den anderen?

Wir entwickeln ein Kippflügelflugzeug, das auch konventionell starten und landen kann, wobei die bestehende Flughafeninfrastruktur maximal genutzt wird und das mit einer höheren Effizienz als ein Rotorflugzeug. Das Lufttaxi ist so konzipiert, dass es kurze Strecken innerhalb von Stadtgebieten zurücklegen kann. Wir setzen Technolgie aus dem Automotivebereich wirksam ein, um Kosten zu senken und die Massenproduktion zu erleichtern. D.h. wir nutzen Technologien, die bereits in der Elektroautoindustrie eingesetzt werden: zum Beispiel Batterien, Motoren und Steuerungssoftware. Da wir die bestehende Technologie dort einsetzen wollen, wo es sinnvoll ist, können wir die Tiefflugzeuge erschwinglicher machen und den täglichen Taxinutzern eine Fahrt via Lufttaxi ermöglichen.

Glauben Sie, dass eine Revolution im Bereich des emissionsfreien Verkehrs bevorsteht?

Ja, in den nächsten zwei bis drei Jahren werden wir die ersten kommerziellen Flüge von Lufttaxis sehen und in den nächsten fünf bis zehn Jahren eine Verlagerung auf den emissionsfreien Flugverkehr über längere Strecken.

 

“Gemeinsame Lufttaxis mit öffentliche Nahverkehr aus U- und S-Bahn sowie die Eliminierung der individuellen Autonutzung ist die Lösung.”

 

Wann werden die ASX Taxis voraussichtlich marktreif sein?

Wir planen, unsere Lufttaxis ab 2023 in der Logistik einzusetzen, zum Beispiel für den Transport von Medikamenten, Ärzten und Verbrauchsmaterial. Zwei bis drei Jahre später planen wir die Lufttaxis für den Personentransport einzusetzen.

Wie weit sind Sie in der Entwicklung der ASX Taxis fortgeschritten?

Bis heute haben wir sechs Fahrzeuge gebaut, die im Subscale-Bereich angesiedelt sind, das größte davon ist ein Drittel der Entwicklungsskala. Wir haben bisher Vertikalstart, Reiseflug und Landung unter der Softwarekontrolle unserer Vollverbund-Flugzeuge demonstriert.

Welche Technologie muss noch entwickelt werden, damit die elektrische Luftfahrt Realität wird?

Batterien mit verbesserter Energiedichte für Kurzstrecken-Lufttaxis, dicht gefolgt von Wasserstoff-Brennstoffzellen für Regionalflugzeuge.

 

“Die Geschäftsluftfahrt ist auf Nachhaltigkeit ausgerichtet, sowohl beim Treibstoff als auch bei den Plattformen. Elektroflugzeuge sind die nächste Evolution.”

 

Ist eine staatliche Regulierung notwendig für die Technik, die Flugsicherung etc.? Wäre eine Regulierung eine Hilfe oder ein Hindernis?

Eine Regulierung, die Hand in Hand mit neuer Technologie entwickelt wird, sorgt dafür, dass wir sichere, zuverlässige Transporte und nützliche Lösungen für den öffentlichen Verkehr haben. Wir alle, der öffentliche und der private Sektor, haben eine Rolle zu spielen, um sicherzustellen, dass Technologien entwickelt werden, die unseren CO2-Fußabdruck sicher und effizient reduzieren.

Wer werden die wirklichen Nutzer solcher innovativer Verkehrskonzepte sein? Sprechen wir von privilegierten Bürgern, die sich teure Verkehrsmittel leisten können?

Unser Ziel ist es, die Luftmobilität für jeden zugänglich und erschwinglich zu machen. Sie ist für den öffentlichen Verkehr gedacht, also für jeden, der ein Taxi nehmen würde.

Und das Taxi selbst, wie viel wird es kosten?

Eine Fahrt wird ähnlich teuer sein wie die mit einem herkömmlichen Taxi oder einem Uberfahrzeug, aber die Fahrzeit wird bis zu fünf mal so schnell sein.

Die ASX Lufttaxis sollen in einer späteren Entwicklungsphase autonom fliegen können. Wie bringen Sie die Menschen dazu, Ihrer Technologie zu vertrauen?

Dr. Anita Sengupta
Dr. Anita Sengupta, Mitgründerin, Airspace Experience Technologies (ASX), USA. Forschungsprofessorin für Raumfahrttechnik, Universität von Südkalifornien

Ich denke, urbane Luftmobilität (UAM) wird anfangs natürlich mit Piloten im Einsatz beginnen. Sicherheit ist das wichtigste, was wir als Ingenieure, als Führungskräfte und als Bürger beachten müssen.

Vielen Dank, für die interessanten Einblicke, Dr. Sengupta!

Weiterführende Links:

Über Dr. Anita Sengupta

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Hippokratischer Eid für IT-Berufe

 


Dr. Florian Ilgen Keynotespeaker TDWI München

„Erfolg ist der größte Feind von Veränderung“

Kann jemand, der sich Mentalist, Motivator und Psychic Entertainer nennt, etwas zum Thema Digitalisierung beitragen? Ich muss gestehen ich war skeptisch... und sehe nun klarer: Denn im Gespräch mit Dr. Florian Ilgen, promovierter Chemiker und Top 100 Redner für Unternehmen wie IBM, Rolls Royce, SAP oder Novartis, habe ich gelernt, dass mentale Agilität und Motivation SEHR viel mit Veränderung zu tun haben. Und warum es vor allem erfolgreichen Unternehmen so schwer fällt, sich auf die Digitale Transformation einzulassen.

Lieber Herr Ilgen, mit Ihren Vorträgen möchten Sie unser Bewusstsein für typische menschliche Verhaltensweisen schärfen und Wege zeigen, wie wir aus gelernten Mustern ausbrechen können. Warum ist das gerade heute so wichtig?

Wir leben in einer Zeit rasanter Veränderungen. Ob man diese Veränderung positiv oder negativ wahrnimmt, kommt auf das jeweilige Mindset an. Und genau an dieser Stelle komme ich ins Spiel, denn man kann das eigene Mindset beeinflussen und trainieren. Ich möchte Menschen zeigen, welche archaischen Muster für unsere Ängste verantwortlich sind und helfen, diese zu überwinden. Denn eines ist klar: Veränderung ist nur möglich, wenn man auch bereit ist, sich selbst zu verändern.

Warum ist es so schwer für Menschen, sich zu verändern?

Veränderung an sich ist in unserer Evolution nichts Besonderes. Es gab immer wieder Momente, in denen „Geschichte geschrieben“ wurde, wie z.B. der Buchdruck um 1450 oder die Industrielle Revolution im 19. Jahrhundert. Der Mensch ist aber ein Gewohnheitstier und wenn etwas jahrelang gut geklappt hat, ist er schwer für Neuerungen zu gewinnen. Erfolg ist sozusagen der größte Feind von Innovation bzw. Veränderung.

Wie reihen Sie die aktuelle Situation mit der Digitalisierung in die historischen Veränderungen unserer Menschheitsgeschichte ein?

Das Neue an unserer digitalen Transformation ist die Geschwindigkeit. Heute werden etablierte Systeme von jungen, agilen Unternehmen Stück für Stück demontiert und das innerhalb von wenigen Jahren. Wir haben heute – anders als noch vor 150 Jahren -  nicht mehr Jahrzehnte Zeit, um uns mit neuen Technologien, neuen Berufen, neuen Geschäftsmodellen auseinanderzusetzen. Die Digitale Transformation ist Veränderung im Hochgeschwindigkeitsanzug.

Dann sehen Sie in der Digitalisierung gar nicht so sehr eine technologische Herausforderung sondern viel mehr eine menschliche?

Genau. Die Digitalisierung ist nur auf den ersten Blick eine rein technologische Angelegenheit. Tatsächlich aber geht es um den Menschen, um seine Einstellung. Es ist der Mensch, der die Transformation anstößt, umsetzt und weiterentwickelt – oder eben nicht. Transformation findet im Kopf statt, das Produkt ist dann nur das Ergebnis.

Unternehmer beklagen oft, dass Mitarbeiter den Wandel nicht mittragen – aber auch umgekehrt. Was läuft da schief? 

Ich habe gerade erst eine Studie gelesen, die besagt, dass 1/7 aller Angestellten ihre Arbeit lieben, 1/7 haben bereits innerlich gekündigt und die restlichen 5/7 machen nur Dienst nach Vorschrift. Es geht mir um genau diese 5/7! Das ist doch ein Riesenpotenzial! Denen muss man helfen und vor allem Sinn geben.

Und wie schafft man das?

Es geht um Vertrauen! Führung muss Vorbild sein. Es ist essentiell, dass Führungspersonen die Transformation leben, sie verstanden haben und von ihr überzeugt sind. Und das müssen sie an ihre Mitarbeiter weitergeben können. Mitarbeiter brauchen eine klare Vision! WARUM soll jemand seinen Job nicht mehr so sondern anders machen? Wenn Mitarbeiter verstehen, weshalb etwas verändert wird, sind sie auch bereit, das neue Ziel zu unterstützen. Aber es müssen emotionale, sinnstiftende Ziele sein. Wenn es nur darum geht, 5 Prozent mehr Umsatz zu machen, zeigt sich kein Peak in der Motivationskurve. Wenn es aber um echten Kundennutzen geht oder z.B. um Umweltziele, sieht die Sache ganz anders aus.

Aber auch Unternehmer sind oft unsicher, welcher Weg der richtige ist...

Das stimmt. Aber ein bestimmtes Gefühl für den richtigen Weg haben die meisten! Bei diesem Szenario bekommt unsere Intuition ein sehr großes Gewicht. Mein neues Buch beschäftigt sich intensiv mit dem Thema und zeigt uns einen neuen Blick auf unsere Intuition und Wege, sie zu schärfen und erfolgreich zu nutzen - um am Ende bessere Ergebnisse zu erzielen. Interessanterweise haben sich bei meiner Forschungsarbeit zahlreiche Parallelen zu Deed Learning Mechanismen gezeigt.

Und was brauchen Mitarbeiter, um die neuen Visionen mitzutragen?

Neben der über allem stehenden Vision und dem klaren „Warum“ brauchen Mitarbeiter vor allem Entwicklungsspielräume. Wer mitdenkende Mitarbeiter haben will, muss sie auch machen lassen. Und man muss die Bedürfnisse der Mitarbeiter kennen, ernst nehmen und berücksichtigen. Daraus ergibt sich dann eine intrinsische Motivation, bei der das Glückshormon Dopamin ausgeschüttet wird. Das macht zufrieden und gleicht sogar das Stresshormon Adrenalin aus. Die Konsequenz: Wir tun mit Freude etwas Neues und haben dabei keine Angst bzw. keinen Stress.

Vielen Dank für das interessante Interview!

Weiterführende Links: 

Vorschau: Dr. Florian Ilgen auf der TDWI München

Website von Dr. Florian Ilgen

Neues Buch "Macht der Intuition" von Dr. Florian Ilgen

 

 


Raphael Gielgen, Vitra

Vitra Trendscout Raphael Gielgen: „Wir müssen wieder anfangen, Zukunft zu gestalten!“

Auf dieses Interview habe ich mich besonders gefreut, denn Raphael Gielgen ist Trendscout Future of Work beim Kult-Unternehmen Vitra und einer der interessantesten Visionäre unserer Zeit. Ich war aber auch etwas nervös, denn wie es bei den Damen und Herren dieser Berufsgruppe oft der Fall ist, muss man ganz schön schnell sein, um bei der Geschwindigkeit ihrer Gedanken Schritt halten zu können! Wer ebenfalls eine geballte Ladung Inspiration so kurz vor Ostern gebrauchen kann, der sollte jetzt weiterlesen: Denn Raphael spricht über die Trends zum Thema Arbeit und verrät eine Übung für Unternehmer, wie sie die Transformation angehen können.

Lieber Raphael, Du bist Trendscout bei Vitra. Was genau machst Du dort und warum braucht Vitra so jemanden wie Dich?

Es geht darum, „Beweger einer neuen Zeit zu finden“, neue Muster zu entdecken, die das Potential zum Trend haben. Wir leben heute in einer Welt, die uns wunderbar in Standards organisiert. Viele Menschen haben verlernt, nach rechts und nach links zu schauen, geschweige denn nach vorne. Meine Arbeit ist genau das. Mein Schwerpunkt ist die Arbeitswelt. Ich erstelle, wenn man so will, die Wetterkarte für die Piloten, aber die Flugrichtung entscheiden und fliegen müssen sie selbst.

Kannst Du uns einen wichtigen Trend zum Thema Arbeit der Zukunft nennen?

Die Fähigkeit, in dynamischen Gruppen und Formen zu arbeiten, wird für die Entwicklung einer wissensbasierten Wirtschaft immer wichtiger. Wissen muss leicht teilbar sein, denn nur so kann es schnell weitergegeben werden. Und Schnelligkeit ist ein klares Merkmal unserer Zeit, genau wie der Zustand, dass alles gleichzeitig passiert. Verbindet man das Wissen von AI-Forschern mit dem von Elektronikingenieuren, entsteht daraus ein ganz neues Produkt und ganz neues Wissen. Dynamik heißt in diesem Zusammenhang auch, bereit zu sein, stets Neues zu lernen. Ich benenne das gerne mit dem Schlüsselbegriff „Talent Transfer“. Menschen gehen heute und erst recht in der Zukunft nicht mehr in ihrem Ausbildungsberuf in Rente. Wir müssen - auch in den Unternehmen – eine Kultur des Lernens etablieren.

Und wie schafft man das?

Indem man Raum für Inspiration schafft und Arbeit sichtbar werden lässt. Viele Entwicklungen gehen heute schon in diese Richtung. Es gibt Methoden wie Scrum, Business Model Canvas oder Design Thinking. Diese bestimmen immer mehr unser Tun. Der größte Benefit dieser Form der Arbeit ist das Teilhaben.

Inwieweit beeinflusst Technologie unsere zukünftige Arbeit?

Die Software von gestern ist morgen nichts mehr wert, genau wie die Hardware. Wir denken zu wenig darüber nach, dass die digitale Welt einer Kulisse gleicht. Wie Technologie unsere Arbeit beeinflusst, das bestimmen wir, aber auch was wir mit diesen vielen Möglichkeiten machen. Am Ende kann man die Leute nur einladen, sich damit auseinanderzusetzen, daran zu wachsen – mit dem Ziel, Technologie schließlich als Werkzeug für die Entwicklung größerer Ideen und Visionen zu benutzen.

 

"Technologie ist ein Werkzeug, sehr umfangreich, aber auch schnelllebig. Die Menschen machen auch in Zukunft den Unterschied." Raphael Gielgen

 

Wie siehst Du das Spannungsfeld „digitale Welt – physische Welt“ am Arbeitsplatz? Bekommt die physische Welt mehr Bedeutung, weil wir einen Großteil unserer Zeit heute in der digitalen Welt verbringen?

Der Mensch hat eine Sehnsucht nach physischen Orten. Je mehr wir digital konsumieren, umso mehr suchen wir eine Balance. Spannend wird es, wenn die Entwicklungen der virtuellen Technologien den nächsten Sprung machen. Wenn wir Wirklichkeit und Fiktion kaum unterscheiden können. Steven Spielbergs letzter Film „Ready Player One“ gibt uns einen ersten Geschmack auf diese Zeit. Anderseits gehen die Menschen zum „Waldbaden“, suchen Kraftorte auf und zelebrieren spirituelle Rituale.

Welches Umfeld braucht der Mensch in Zukunft, um den Arbeitsanforderungen gewachsen zu sein?

Menschen können heute 100 Jahre alt werden. Das verändert unser Bewusstsein für unsere Umgebung, unsere Umwelt und unseren Arbeitsplatz. Die Kinder von heute werden morgen keinen Arbeitsplatz wollen, indem sie nur Zahnrad in einem abstrakten Gebilde sind. Als Konsequenz müssen Unternehmen das Zusammenspiel von Produktivität und Vitalität überdenken. Maßnahmen zur Erhaltung und Verbesserung der Mitarbeitergesundheit spielen in Zukunft eine immer größere Rolle. Man muss sich nur den Adidas-Neubau „Halftime“ in Herzogenaurach ansehen oder das noch im Bau befindliche Porsche-Werk für den Elekto Taycan, in dem es große hängende Gärten gibt. Diese haben einen unmittelbaren Einfluss auf das Wohlbefinden der Mitarbeiter.

Du reist viel herum und siehst viel, auch Ideen und Trends aus Ländern und Gesellschaften, die gerne als unser Zukunftsmodell verkauft werden. Was sollten wir Europäer auf jeden Fall übernehmen?

Ganz klar die Neugier! Gerade die jungen Gesellschaften in Südostasien oder in den schnell wachsenden Metropolen wie Shenzhen sind viel neugieriger als wir Europäer – was auch daran liegen mag, dass sie im Schnitt viel jünger sind als wir.

Gibt es auch Entwicklungen, die wir besser nicht adaptieren sollten?

Ich habe nichts gesehen, was grundsätzlich schlecht wäre. Natürlich kann man alles auch für weniger wünschenswerte Ziele einsetzen. Ich denke hier zum Beispiel an die militärische Nutzung von Technologie. Auch die übermäßige Nutzung von Technologie kann man kritisch sehen, aber hier ist jeder einzelne selbst gefragt, etwas dagegen zu tun.

Wenn ein Unternehmer auf Dich zukommt und um Rat bittet, wie er die Transformation angehen soll, was würdest Du ihm sagen?

Ich empfehle gerne die nachfolgende Übung: Stellen Sie sich regelmäßig zwei Fragen: Was gibt es in zehn Jahren in Ihrem Arbeitsumfeld, was es heute noch nicht gibt? Wie wird dieses „Neue“ Ihr Geschäftsmodell beeinflussen und was bedeutet das für Sie? Was gibt es in zehn Jahren nicht mehr in Ihrem Arbeitsumfeld, was es heute noch gibt? Wie wird dies Ihr Geschäftsmodell beeinflussen und was bedeutet das für Sie? Jeden einzelnen Punkt würde ich dann in eine Skizze aufnehmen und auf einem großen Plakat am Arbeitsplatz aufhängen. Was glaubst du, was für eine angeregte Diskussion mit Mitarbeitern und Kollegen daraus entsteht! Plötzlich sieht der Unternehmer eine Perspektive für die Zukunft und kann diese proaktiv gestalten. Und die Mitarbeiter wissen, warum etwas gemacht wird.

"Eigentlich ist es so einfach! Wir haben nur irgendwann aufgehört oder verlernt, in einer längeren Perspektive zu denken und Zukunft zu gestalten." Raphael Gielgen

Danke Raphael für das superinteressante Interview!

Raphael Gielgen am 24. Juni 2019 auf der TDWI München

Wer Raphael gerne live erleben möchte, kann das am 24. Juni 2019 auf der TDWI München tun. Dort wird er die Keynote halten mit dem Thema "Die Kunst, seine persönliche Zukunft ständig neu zu erfinden"! Es lohnt sich! Hier geht's zur Konferenz: www.tdwi-konferenz.de

Links:

www.Vitra.com
www.tdwi-konferenz.de


Seit über zehn Jahren lehrt und forscht sie zu sozialen Fragen der Internetökonomie und Technikgestaltung

Ethische Innovation im digitalen Zeitalter: Werte sind das neue „Bio“

Sarah Spiekermann ist Professorin an der Wirtschaftsuniversität Wien. Sie leitet dort das Institut für Wirtschaftsinformatik und Gesellschaft. Seit über zehn Jahren lehrt und forscht sie zu sozialen Fragen der Internetökonomie und Technikgestaltung. Auf der OOP Konferenz in München vergangene Woche hält sie einen Impulsvortrag über ethische Innovation. Sie ist davon überzeugt, dass sich die Frage nach digitaler Ethik nicht nur auf die derzeit diskutierten Themen wie Privacy, Security, Bias und Transparency beschränken darf. Sie fordert ein Umdenken in der System- und Softwareentwicklung, in dem Werte anstelle von Funktionalität treten. Und zeigt dies exemplarisch an einem experimentellen Case der Essenslieferplattform Foodora.

Was verstehen wir unter Innovation? Was ist Fortschritt? Welche Philosophie legen wir mit den Begrifflichkeiten zugrunde? Dazu führt Sarah Spiekermann in einen historischen Exkurs. In der Antike ist es Aristoteles, der die Welt mit seiner Erfahrungswissenschaft weiterentwickelt. Weisheit, Klugheit, emotionale Intelligenz des Menschen stehen dabei im Vordergrund. Im 12. Jahrhundert prägt der Philosoph Albertus Magnus den Begriff der Innovation mit experimenteller Wissenschaft. Es geht darum, „neue Dinge zu erfinden“. Der Spirit „neu ist gleich innovativ ist gleich gut“ macht Europa groß und reich. Erfindungen wie der Buchdruck, der Kompass, der Motor oder die Elektrizität ermöglicht den Menschen in Europa völlig neue Entwicklungspotenziale. Aus der Agrargesellschaft entwickelt sich eine Industriegesellschaft und der Fortschritt wird immer weiter vorangetrieben.

Faszination Technik veraltet

Durch den Sprung ins Informationszeitalter hat die Innovationskraft eine neue Dimension erreicht. Die Geschwindigkeit, in der technologische Entwicklungen voranschreiten, wächst exponentiell. Das hat Folgen: „In einer von der IT durchzogenen Welt ist diese Objekt unseres Designwillens. Wenn wir heute genau hinschauen, sehen wir lauter Dinge und Funktionalität. So funktionieren heute auch Unternehmen und Organisationen. Und wir Menschen arbeiten Product Roadmaps ab“, erklärt Spiekermann.

Aber die Faszination Technik schwindet. Fakt ist: Ein großer Teil der technikgetriebenen Innovation scheitert oder ist wirtschaftlich ein Flop. Laut der Langzeitstudie „Chaos Report“ der Standish Group werden nur 29 Prozent aller Softwareprojekte erfolgreich abgeschlossen. Von der Dunkelziffer abgebrochener IT-Projekten und der damit versenkten Investitionen ganz zu schweigen. Die Analysten von Vision Mobile schätzen, dass die große Mehrheit der App-Entwicklungen nicht rentabel ist. Rund 50 Prozent der iOS- und 64 Prozent der Android-Entwickler erzielen pro App weniger als 500 Dollar pro Monat. Die Umsätze mit Apps nehmen inner- und außerhalb von App Stores weiter zu, konzentrieren sich aber auf relativ wenige Anbieter. Und wie viele Start-Ups haben schon Energie in Softwareentwicklung gesteckt, die gnadenlos gescheitert sind? Vor diesem Hintergrund plädiert Sarah Spiekermann dafür, sich bei Systementwicklungen aufs Wesentliche zu konzentrieren: „Wir müssen mehr denn je die Werte hinterfragen, die durch Technik entstehen - dabei geht es nicht um Geld oder Effizienz. Sondern um Zufriedenheit, Gemeinschaft und Wissen. Nur so können wir in einer digitalisierten Welt ein gutes Leben führen.“

Experimentelles Planspiel Foodora

Wissenschaftler haben in einer aktuellen Studie die Auswirkungen von App-basierter Arbeitsorganisation vor allem für Mitarbeiter anhand von Essenslieferdiensten untersucht. Die Apps versprechen den Arbeitnehmern neue Freiheiten, üben aber gleichzeitig eine ungeahnte Kontrolle aus. Speziell das Geschäftsmodell „Essen auf Rädern“ Foodora befindet sich immer wieder hinsichtlich sozialen Umgangs mit Mitarbeitern bzw. den Fahrradkurieren in negativen Schlagzeilen.

 

https://www.youtube.com/watch?v=2mnb-p7zVvM

 

Sarah Spiekermann hat eine Gruppe von 40 Studenten in einem Planspiel vor die Aufgabe gestellt, neue Features für die Lieferplattform Foodora zu entwickeln. Das Ergebnis ist zunächst eine Liste an Funktionalitäten, die die App noch besser machen sollte. Zum Beispiel die Einführung eines Bewertungssystems für die einzelnen Fahrradkuriere, die Entwicklung einer Künstlichen Intelligenz, die auf Basis gefahrener Routen immer die schnellste Strecke für die Kuriere findet, Integration eines Fulltime GPS Tracking Systems, usw.

Wie geht ethische Innovation?

Spätestens an dieser Stelle schreitet die Universitätsprofessorin ein und schlägt eine andere Herangehensweise vor. Sie beauftragt ihre Studenten, sich bei der Aufgabenstellung mit drei philosophischen Fragen auseinanderzusetzen:

  • Wie wirkt sich die Technik langfristig auf den Charakter der betroffenen Stakeholdern, in diesem Beispiel speziell der Fahrradkuriere aus?
  • Welche menschlichen, sozialen, ökonomischen oder gesellschaftlichen Werte sind im Positiven wie im Negativen durch den neuen Dienst tangiert? Überwiegen Vor- oder Nachteile?
  • Welche persönlichen Maximen oder Wertephilosophien seht ihr durch den Service betroffen, die ihr aus eurer Sicht für so wichtig haltet, dass ihr sie gerne in unserer Gesellschaft bewahren möchtet?

Auf Basis dieser Fragen formulieren die Studenten plötzlich ganz klare Nachteile und Probleme auf der sozialen Ebene, die eine Arbeitsorganisation per App mit sich bringt. Darunter z. B. Erschöpfung der Kuriere, Machtlosigkeit gegenüber dem Tracking der App, totale Überwachung und Zeitdruck. Im Umkehrschluss entwickeln sie Ideen für ein neues Release der Foodora-App, die ganz andere Zwecke erfüllen.

Für die Kuriere konzipieren sie einen Gamification-Ansatz, das Ausliefern muss ja Spaß machen. Die Community der Kuriere soll gestärkt werden, der Teamgedanke mehr in den Vordergrund gestellt werden, z. B. gemeinsame Treffen in Leerlaufzeiten. Sportliche Ziele für Kuriere, die den Job aus Leidenschaft machen, werden mit berücksichtigt und die Ausfahrrouten entsprechend angepasst. Auch für die Stakeholder „Essensbesteller“ ergeben sich daraus innovative Ideen. So rückt die gesunde Ernährung in den Vordergrund. Wie wäre es denn, wenn man eine Ernährungsberatung mit in die App integriert oder einen Diät-Service?

Auf die Frage, ob sie die Konzeptideen ihrer Studenten bei Foodora präsentieren durfte, schüttelt Spiekermann schmunzelnd den Kopf. Die Marke Foodora wird vom deutschen Markt verschwinden. Nach einer überraschenden Übernahme im Dezember 2018 wird die Lieferplattform in Zukunft unter dem Dienst Lieferando agieren.

Wertebasiertes Design digitaler Systeme

Mit diesem Case zeigt Spiekermann, dass durch die wertebasierte Herangehensweise eine ganz andere Kultur an Innovation entsteht, nämlich die Schaffung von Werten auf gesellschaftlicher und sozialer Ebene. „Die Zukunft unserer digitalen Ethik liegt in der Wiederentdeckung unserer Werte. Wenn wir Werte beim Design unserer digitalen Technologien systematisch berücksichtigen und ihren Einsatz so planen, dass unsere Welt wieder wertvoller wird, dann sind wir auf dem richtigen Weg“, ist die Professorin überzeugt. Digitale Systeme bilden niemals die Realität ab. Egal, wie sehr man sich in Zukunft der Automatisierung verschreiben wird, bei diesem Ansatz wird immer die menschliche und soziale Komponente fehlen. Bei der Entwicklung und Ausgestaltung digitaler Systeme muss man sich daher umso mehr die Frage stellen, welche menschlichen Werte uns weiter bringen. Welche unternehmerischen, gesellschaftlichen und sozialen Probleme gibt es auf der Welt und wie kann man sie mithilfe von Technologie lösen?

Der wertorientierte Ansatz bei der Softwareentwicklung steckt heute noch in den Kinderschuhen. Sarah Spiekermann arbeitet aktiv in der IEEE, der weltweit größte technische Berufsorganisation, die sich dem Fortschritt der Technologie zum Nutzen der Menschheit verschrieben hat. Die Professorin entwickelt einen Standard, der beim Systementwurf ethische Fragen von Anfang an einbezieht. Es ist eine Methodik, um ethische Bedenken der User zu Beginn eines System- und Software-Lebenszyklus zu identifizieren, zu analysieren und in Einklang zu bringen.

 

 »Fortschritt braucht Weisheit und Mut – Maschinen fehlt beides.«
Sarah Spiekermann

 

Der Standard IEEE P7000 ermöglicht eine pragmatische Anwendung von wertebasierter Design-Methodik bei der System- und Softwareentwicklung. Ingenieuren und Technologen wird ein implementierbarer Prozess zur Verfügung gestellt, der Innovationsmanagementprozesse, Systemdesign-Ansätze und Software-Engineering-Methoden aufeinander abstimmt. Ziel dabei ist es, das ethische Risiko für ihre Organisationen, Stakeholder und Endbenutzer zu minimieren. Dieser Ansatz erfordert jedoch ein Umdenken in Unternehmen und Organisationen. Es bedarf in den Köpfen ein anderes Bewusstsein für den Begriff der Innovation und eine neue Form des Innovationsdenkens. „Wenn dieses Umdenken nicht passiert, schaffen wir mit unserem vermeintlichen Fortschritt nur Rückschritt“, ist Spiekermann überzeugt.

 

Weiterführende Links

Bericht über Gig Economy bei Foodora und Deliveroo auf heise online

Standard IEEE P7000

Prof. Dr. Sarah Spiekermann

 

 

 


Monokultur Gruppendenken 2018

Diversität als Ressource

Das Frauennetzwerk Media Women Connect und Medientage 2018. Emotionen kochen hoch, die Kluft kann kaum größer sein. Auf der einen Seite das Manifest der Media Women Connect, das u.a. eine Verpflichtung des Veranstalters für einen Anteil von  50 Prozent Frauen auf den Bühnen der Medientage im Jahr 2021 fordert. Auf der anderen Seite die These von Medientage-Chef Stefan Sutor, die Innovationspodien liebend gerne mit mehr Frauen besetzen zu wollen, wenn es denn Expertinnen in dem Bereich gäbe. Ein sachlicher Diskurs auf der Bühne kaum möglich. Prof. Dr. Isabell M. Welpe von der TU München nähert sich den Themen Diversität und Disruption aus einer verhaltenswissenschaftlichen Perspektive.

„Wie viele Manager und Risikokapitalgeber behaupten von sich, sie würden so gerne Frauen fördern und deren Geschäftsideen finanzieren, wenn sie nur welche fänden? Sie geben den Frauen die Schuld. Andersherum würde ein Schuh draus: Frauen wären als Gründerinnen und Führungspersönlichkeiten sichtbarer und viel erfolgreicher, wenn sie im gleichen Maße finanziert würden. Es ist ein hässlicher Kreislauf: Die eine Seite sagt, sie könne keine guten Frauen finden, die andere Seite sagt, die Anstrengung sei es nicht wert.“

So spricht jemand, die es am eigenen Leib erfahren hat. Vivian Ming, Tech-Unternehmerin aus den USA, die sich einer Geschlechtsumwandlung unterzogen hat und erfahren muss,  dass sie als Frau anders behandelt wird als seinerzeit als Mann. Isabell Welpe zitiert Vivian Ming in ihrer Keynote auf den Medientagen, um aufzuzeigen, in welchem Teufelskreis wir uns in der Diversitätsfrage befinden. Und das in einer Epoche des Fachkräftemangels, in der die deutsche Wirtschaft es sich eigentlich nicht leisten kann, auf den Impact und die personellen Ressourcen von Frauen in Führungspositionen zu verzichten.

Veränderung und Geschwindigkeit

Das alt bekannte lineare Wachstum wird im Informationszeitalter vom exponentiellen Wachstum abgelöst. Noch befinden wir uns in der Ära des Datensammelns. Erfolg werden diejenigen haben, die den größten Datensatz zum Trainieren von Künstlicher Intelligenz haben. Blockchain wird das Internet revolutionieren und das Netz demokratisieren. Wir stehen gerade erst am Anfang dieser Entwicklung. Nie war die die Chancen für neue Geschäftsmodelle so groß. Die Kehrseite der Medaille: Noch nie war das Risiko so groß, dass unternehmerisches Handeln in kürzester Zeit obsolet wird, da es von einem neuen Geschäftsmodell abgelöst wird.

Die Halbwertszeit eines Unternehmens betrug im Jahr 1984 noch 30 Jahre, heute liegt sie bei fünf Jahren, so die IBM Leadership Survey. Was das für Management und Führungskräfte bedeutet, bezeichnet Isabell Welpe als Wildwasserbahnfahrt. Führungskräfte müssen sich jeden Tag neu die Existenzfrage stellen. Charles Darwin wusste schon damals: Nur die Spezies wird überleben, die bereit ist, sich zu verändern. Heute muss man im wirtschaftlichen Kontext wohl noch den Zeitfaktor einkalkulieren. Nur diejenigen Unternehmen überleben, die sich am schnellsten den Veränderungen anpassen.

Männliche Monokultur in den Chefetagen

Isabell Welpe nennt Ansatzpunkte, wie Unternehmen sich den disruptiven Veränderungen stellen können. Es gilt, die Pain Points zu finden. Die liegen da, wo man angreifbar ist. Um das herauszufinden, muss man seine eigenen Schwachpunkte  erkennen. Hilfreich,  sein unternehmerisches Handeln jeden Tag aufs Neue zu hinterfragen. Das verlangt nicht nur Mut, sondern fordert unabhängige Denkweisen und andere Perspektiven. Dazu bedarf es Menschen, die anders denken, anders ticken als man selbst.

Wie sehen aber derzeit die Chefetagen der deutschen Wirtschaftsunternehmen aus?  Eine Studie der Albright Stiftung belegt, dass lediglich 12 Prozent der Vorstandsmitglieder der 30 Dax-Konzerne weiblich sind (Stand: April). Deutschland befinde sich damit auf einer Stufe wie Indien und die Türkei mit einem Frauenanteil von jeweils rund 10 Prozent in der Führungsetage. Nicht nur traditionelle deutsche Industrieunternehmen bleiben männerdominiert, auch vermeintlich hippe und moderne Arbeitgeber aus der Medien- und Digitalbranche wie Rocket Internet und Zalando setzen nicht auf Frauen in Führungspositionen.

In der Diversität liegt die Chance

Die männerdominierte Monokultur in deutschen Unternehmen hat eine vermeintlich einfache gesellschaftliche Ursache, so Isabell Welpe. Menschen, die sich ähnlich sind, sind sich sympathisch und bilden Interessensgruppen. Auch das Festhalten am Gewohnten bremst die Entwicklung des Frauenanteils in deutschen Konzernen. Zur Bewältigung der Aufgaben von Digitalisierung und disruptivem Wandel ist diese Monokultur jedoch kontraproduktiv.

Die Problematik: In Zeiten der Unsicherheiten und Veränderungen verfallen Menschen den gelernten Verhaltensmustern und denken in Stereotypen. Sie sind unbewusst voreingenommen und das führt unbeabsichtigt zu Diskriminierungen, die schwer greifbar sind. Stereotypen hindern daran, Kreativität und Proaktivität unabhängig von allen soziodemografischen Merkmalen zuzulassen. Wichtig aber wäre, die (Geschlechter)stereotypen  zu überwinden und  Diversität als Ressource frei zu setzen. Das kann nur durch einen gesellschaftspolitischen Diskurs und gemeinsame Maßnahmen Medien, Bildung. Wissenschaft und Wirtschaft erfolgen.

 

Weiterführende Links

Interview Vivian Ming in der FAZ

Manifest der Media Women Connect

Konferenz zu Unconscious Bias und Stereotypen an der Technischen Universität München.

 

 


Li-Fi: Daten werden über Licht übertragen

Li-Fi: Das Internet des Lichts kommt

Eine schottische Schule ist gerade der Nabel der Internetwelt! Denn dort haben sich vor wenigen Tagen Schüler als erste in der Welt über Licht mit dem Internet verbunden. Auch im Handel gibt es erste Pilotprojekte, bei denen mithilfe des „Internet des Lichts“ Kundendaten gesammelt und -interaktionen gestartet werden können. Dem neuen Stern am Internethimmel Li-Fi (Light Fidelity) wird von Analysten ein kometenhafter Aufstieg prophezeit.

Jetzt gibt es also das Internet des Lichts. Was für ein poetischer Name für eine Technologie! Die Zeiten von WI-FI scheinen gezählt. Denn das inzwischen allgegenwärtige und Funk-basierte Wireless Local Area Network WLAN, das oft (nicht ganz korrekt) synonym mit Wi-Fi verwendet wird, soll durch Li-Fi, eine neuartige Technologie, die Daten über Lichtwellen übertragen kann, regelrecht überholt werden. Ende August hat die Tech-Firma pureLiFi an der Kyle Academy-Sekundarschule in Ayr, Schottland, erstmals ein LiFi-Netzwerk aktiviert, das LED-Glühbirnen verwendet, um drahtlose Internetverbindungen herzustellen. Entwickelt wurde Li-Fi in 16 Jahren Forschungsarbeit von Harald Haas, Professor für Mobile Kommunikation an der Uni Bremen und an der School of Engineering der Universität Edinburgh.

Wachstumsmarkt Li-Fi

Analysten trauen dem neuen Trend einiges zu: Market Research Future (MRFR) bewertet den globalen Markt für Li-Fi bis 2023 mit rund 51 Milliarden US Dollar. Bei einer erwarteten jährlichen Wachstumsrate (CAGR) von 70 Prozent wird der Markt im Prognosezeitraum (2017-2023) geradezu explodieren. Die Financial Times berichtete erst kürzlich über die jüngste Partnerschaft zwischen O2 und pureLiFi, um die Einführung von 5G in Großbritannien voranzutreiben. Auch die Beleuchtungsindustrie hat das Potenzial von Li-Fi inzwischen erkannt und setzt zum Sprung in die digitale Welt an. Ihre Produkte wie Lampen und Glühbirnen sollen zukünftig eine Schlüsselfunktion in der digitalen Kommunikation übernehmen. So hat der niederländische Konzern Philips Lightingerst vor kurzem bekannt gegeben, eine französische Investorengruppe mit Li-Fi auszustatten. Die Arbeitsplätze dort können künftig über LED-Lichtstrahlen mit Breitband versorgt werden und dabei eine 30 Mb/s schnelle Verbindung im Downstream nutzen. Die speziellen LED-Leuchten haben ein Modem integriert, das die Lichtwellen so moduliert, dass sie Breitband-Internet auf dem beleuchteten Arbeitsplatz zur Verfügung stellen. Da das vom Licht verwendete Spektrum laut Philips 10.000 mal so groß ist wie bei herkömmlichen WLAN-Funktechnologien, hat das Netz auch keine Probleme mit einer hohen Anzahl von Clients.

Internet dockt an Licht-Infrastruktur an

Beim Internet des Lichts nutzt man quasi die vorhandene Infrastruktur von Beleuchtung für das Internet – Strom ist dort per se vorhanden und auf den Lampen selbst ist ein kleiner Sensor schnell montiert. Die Daten werden dann entweder über das vorhandene Kabelnetz oder über die Lichtwellen übertragen. Und: diese Symbiose aus Licht und Sensoren kann natürlich auch außerhalb von Räumen genutzt werden. Sensoren in Parkhaus- oder Straßenlaternen könnten melden, wo ein freier Parkplatz ist und dies an Navigationsgeräte weitergeben. In Kombination mit Bluetooth-Technologie und einer App lässt sich Licht aber auch im stationären Handel gezielt nutzen, um auf der Fläche und standortbezogen gezielte Kundenansprachen zu realisieren.

Li-Fi Pilotprojekt im Einzelhandel

Die Zumtobel Group Services (ZGS), einer der führenden Lichtspezialisten aus Österreich, hat das gerade zusammen mit dem französischen Einzelhändler E.Leclerc Langon in Frankreich getestet. In einem Pilotprojekt sollte herausgefunden werden, welchen Mehrwert Lichtkonzepte gekoppelt an das Internet der Dinge (IoT) für den Einzelhandel haben. Für das Projekt installierte ZGS Bluetooth-Beacons in den vorhandenen Leuchten des Händlers und verband sie über eine Lokalisierungsplattform. Letztere wurde mit dem E.Leclerc-Kundenbindungsprogramm verknüpft und hatte zum Ziel, das Wissen über Kunden zu erweitern, um dadurch in Zukunft noch besser auf ihre Bedürfnisse eingehen zu können. Über die App sollten Push-Nachrichten zu standortgebundenen Angeboten an Kunden übermittelt werden. Zum Beispiel, um bei der Produktsuche zu helfen, fehlende Produkte anzuzeigen oder einfach nachzufragen. Sobald ein Kunde also einen bestimmten Bereich betrat, machte sein Smartphone via Push-Nachricht in Echtzeit auf Sonderangebote vor Ort aufmerksam.

Erste Ergebnisse aus dem Anfang Dezember 2017 gestarteten Test liegen bereits vor. Im Vergleich zu den Nicht-App-Nutzern konnten durchweg höhere Verkäufe umgesetzt werden. Denn die Anzeige von Produktempfehlungen und Sonderangeboten auf dem Smartphone der Kunden führte bei E.Leclerc Langon zu einer deutlichen Verkaufssteigerung von bis zu 42 Prozent. Zudem ermöglichte die App eine intensivere Kundeninteraktion, zum Beispiel bei der Produktsuche bzw. bei der Meldung fehlender Produkte. Die Filiale kann diese Interaktion mit dem Kunden nun nutzen, um Rückschlüsse auf die Performance der Filiale und das Kaufverhalten des Kunden zu ziehen. Kunden können zusätzlich Feedback über ihre Einkaufserfahrungen direkt über die App an die Filiale weitergeben.

Wo Licht ist, ist auch Schatten

Bei aller Begeisterung für die neue Technologie gibt es aber auch „Schattenseiten“ – und die muss man in diesem Falle durchaus wörtlich verstehen: So kann Licht eben nicht durch Gegenstände scheinen und wenn ein Benutzer beispielsweise mit dem Rücken zu einer Li-Fi-Lampe sitzt, kann der Sensor das Licht bzw. die Daten nicht mehr empfangen – ganz ähnlich wie bei der Fernbedienung am Fernseher. Hinzu kommt, dass künstliches Licht ja nicht immer überall erforderlich ist – zum Beispiel wenn es natürlicherweise schon ausreichend hell ist. Im wachsenden Internet der Dinge soll Li-Fi aber bald zum Alltag gehören – zumindest als sinnvolle Ergänzung zu funkbasiertem Internet.

Weiterführende Links:

Philips Lighting News über das Internet des Lichts

Pressemeldung von pureLiFi

Zumtobel Pilotprojekt mit E.Leclerc


Saturn Express Innsbruck

Kassenloses Bezahlen: Wirklich ein Vorteil für die Kunden?

Erst vor wenigen Tagen verkündete Walmart völlig überraschend, sein kassenloses Testprogramm “Scan&Go” einzustellen. Dabei hatte der Discount-Riese erst Anfang des Jahres bekannt gegeben, kassenloses Bezahlen auf 100 Filialen in 33 Staaten der USA ausweiten zu wollen. Der Grund: Es sei zu umständlich für den Kunden. Auch MediaMarktSaturn experimentiert seit März mit dem kassenlosen Kaufprozess in einer Filiale in Innsbruck – mit ungewissem Ausgang. Was sind die Learnings aus beiden Fällen?

Neue POS-Modelle händeringend gesucht

Anfang März avancierte Innsbruck, genauer gesagt ein Shop von MediaMarktSaturn in einem Einkaufszentrum in Innsbruck, zum Star der europäischen Handelsszene: Denn ausgerechnet dort eröffnete der Elektroriese einen Saturn Express Shop, den ersten kassenlosen Store in Europa. Das Medienecho war riesig! Nicht nur europäische Pressevertreter berichteten darüber, sogar die malaysische Tageszeitung „The Star“ informierte ihre Leser über die Neueröffnung. Der Informationsbedarf über innovative Technologien wie kassenloses Bezahlen für den Handel scheint enorm, ebenso die Verunsicherung darüber, wie der POS der Zukunft denn aussehen soll.

Saturn Express App
Über die Saturn Express App scannt der Kunde den Preis des Produkts und bezahlt per PayPal oder Kreditkarte. Quelle: MediaMarktSaturn Österreich

Saturn Express in Innsbruck: schnell testen, schnell lernen

Florian Gietl, CEO MediaMarktSaturn Österreich brachte es bei der Eröffnung in Innsbruck auf den Punkt: „Wir werden in den nächsten Wochen sehen, wie der Shop sich entwickelt. Wir wissen es ja selbst nicht genau und deswegen probieren wir es aus.“ Nur vier Monate habe es von der Idee bis zur Umsetzung des Pop-up Stores in Innsbruck gebraucht – bemerkenswert für einen Branchenriesen, den manche gerne mit einem Tanker vergleichen. Auch Martin Wild, Innovationschef der Unternehmensgruppe, kritisierte bei mehreren Anlässen immer wieder, dass der deutsche Handel einfach zu wenig risikobereit sei. Neue Ideen müssten über zig Abteilungen hinweg bis in kleinste Detail besprochen werden bis der Markt neue Erkenntnisse liefert und man wieder von vorne beginnen müsse. Und mal ehrlich: Wenn man etwas nicht machen will, scheint es immer viel mehr Gründe zu geben, die gegen etwas sprechen, als Gründe, es zu tun.

Das Dilemma: Innovationen sind riskant

Doch was ist, wenn sich die Innovation – schließlich als Verbesserung gedacht – dann als Irrtum erweist und die Kunden sie nicht annehmen? Sie sogar testen und dann für unbrauchbar erachten, wie im Falle Walmart? Dann hat man viel Geld investiert, möglicherweise Kunden verärgert und sich zudem noch das eigene Image als Innovationstreiber befleckt. Der zurückhaltende Umgang mit neuen Ideen am POS ist also durchaus verständlich. Dennoch gibt es keine Alternative. Denn „Late Mover im Handel zu sein, ist schwer zu überleben“, ist Martin Wild überzeugt.

Bei Walmart war der entscheidende Faktor für das Aus des kassenlosen Bezahlens, dass zu viele Kunden den Kaufprozess im Laden zu umständlich fanden. Vor allem, wenn es darum ging, Waren wie frisches Obst und Gemüse zu verpacken, zu wiegen und dann zu scannen. Viele Kunden fühlten sich überfordert oder sahen einfach keinen Nutzen für sich. Der propagierte Zeitvorteil blieb demnach aus. Durchaus denkbar, wenn man sich vorstellt, dass die „alte“ Schlange vor der Kasse bei “Scan&Go” nun wahrscheinlich einfach durch die „neue“ Schlange an der Gemüsewaage ersetzt wurde.

Saturn Express setzt auf „To-go-Sortimente“

Einfach die Kasse im Laden abbauen und schon winkt die rosige Zukunft funktioniert also nicht. Das wäre wohl auch viel zu einfach. MediaMarktSaturn geht hier einen etwas differenzierteren Weg: Anstatt kassenloses Bezahlen über alle Sortimente hinweg anzubieten, hat der Pop-up-Store in Innsbruck ganz bewusst nur ein sehr kleines und ausgewähltes Sortiment in den Regalen – bietet darüber hinaus als verlängerte Ladentheke aber auch einen Webshop-Zugang über einen großen Touchscreen. Erhältlich sind wenig beratungsintensive Zubehörprodukte wie Ladekabel, Handyhüllen oder Lautsprecherboxen. Zudem will der typische Saturn Express Kunde wahrscheinlich nicht mit einem Einkaufswagen voll Produkte auschecken. Diese Tatsache scheint dem Elektroladen in die Hände zu spielen, denn mengenmäßig große Warenkörbe selbst auszuchecken, dürfte tatsächlich nicht besonders praktisch sein.

Selbsttest: Ich könnte auf eine Kasse verzichten

Und da Innsbruck in Sachen Einkaufen ja sonst nicht unbedingt zu den zukunftsweisendsten Pflastern dieser Welt zählt und ich zufällig dort wohne, habe ich einen Selbsttest in Sachen kassenloses Bezahlen gemacht. Von außen extrem unauffällig, bin ich tatsächlich sogar erst einmal am Saturn Express Shop vorbei gelaufen, bis ich ihn im Einkaufscenter Sillpark in Innsbruck endlich entdeckt hatte. Und auf den ersten Blick fällt auch gar nicht auf, dass die Kasse fehlt. Zwei freundliche Verkäufer erklären mir die Vorgehensweise und ich installiere direkt im Laden die Saturn Express App auf mein Smartphone. Ich öffne sie und scanne damit den am Produkt angebrachten Barcode ein. Ich wähle aus, ob ich per PayPal oder Kreditkarte zahlen möchte, bestätige den Kauf und kann wieder gehen. Die Rechnung bekomme ich prompt per Mail zugeschickt. Alles zusammen dauert keine zwei Minuten. Ohne den Download der App sogar nur Sekunden. Alles supereinfach und bequem – auch wenn ich nicht verhindern kann, mich beim Passieren der Alarmanlage beim Hinausgehen ein bisschen unwohl zu fühlen.

Das Learning: Es kommt darauf an...

„Die Digitalisierung eröffnet den Menschen neue Möglichkeiten und verändert damit ihr Einkaufsverhalten“, erläuterte Florian Gietl der Tiroler Tageszeitung die aktuelle Situation im Handel. „Konsumenten schätzen das rasche und einfache Onlineshopping genauso wie die persönliche Beratung im Geschäft. Saturn Express will hier die Brücke schlagen!“ Und genau darin liegt vielleicht das Learning aus Saturn Express und Walmart “Scan&Go”: Unser Kaufverhalten ist inzwischen so differenziert und wir als Käufer so auf Prozessoptimierung fixiert, dass eine Universallösung für den Check-out im Geschäft nicht mehr möglich sein kann.  Es wird in Zukunft wahrscheinlich mehr um das gezielte „sowohl als auch“ als um das gieskannenmäßige „entweder oder“ gehen.

Und selbst wenn man sich vorstellt, dass der kassenlose Laden sortiment- und prozessoptimiert bald zur Gewohnheit werden sollte: Wie viele Apps will der Konsument auf sein Handy laden? Und was ist mit Shops, in denen er nicht ständig einkaufen geht? Vieles ist noch unklar, doch das Pilotprojekt „kassenloser Pop-up Store Saturn Express in Innsbruck“ wird in diesen Tagen auslaufen, weitere Standorte seien zunächst nicht geplant. Wie ich schon sagte – der Ausgang ist ungewiss.