Corona-Krise: Durch die Schließung zehntausender Mode-Boutiquen und Sportfachgeschäften stapeln sich im stationären Handel immer größere Berge unverkaufter Ware. Sollte die Schließung über den April hinaus fortbestehen, rechnet der Handelsverband Textil nicht nur mit tausenden Insolvenzen, sondern auch mit über einer Milliarde unverkaufter Artikel. Im Digital-Talk der Initiative „Händler helfen Händlern“ sprechen Alexander Gedat, Interims-CEO bei Gerry Weber und Carsten Schmitz, CDO bei Intersport über die aktuelle Lage und mögliche Auswege aus der Krise.
Nach Berechnungen der Handelsverbände Textil (BTE), Schuhe (BDSE) und Lederwaren (BLE) werden an normalen Verkaufstagen in Deutschland im Durchschnitt täglich mehr als 10 Millionen Hosen, Shirts, Schuhe und Taschen verkauft, die nun nicht über die Ladentheke gehen. Ende März dürfte nach Schätzungen der Verbände die Summe der unverkauften, aber vom Handel bereits bezahlten Teile die 100-Millionen-Grenze überschritten haben.
Verschärft werde das Problem, weil die Geschäfte in den nächsten Wochen vertragsgemäß weiterhin neue Ware geliefert bekämen – trotz geschlossener Läden. „Je länger die Schließung dauert, desto unwahrscheinlicher wird es, dass die Ware noch verkauft werden kann“, warnte Rolf Pangels, Hauptgeschäftsführer des BTE Handelsverband Textil gegenüber der dpa. Denn durch den modischen Wechsel ließen sich Hosen oder Schuhe aus der Frühjahrskollektion im Sommer kaum noch verkaufen. Allein der Wertverlust der Ware sei für viele Händler ruinös. Die Händler bräuchten deshalb neben schnellen Krediten auch finanzielle Soforthilfen: „Der Staat könnte zum Beispiel die Kosten für die bereits bezahlte Ware über einen Hilfsfonds übernehmen“, schlug Pangels vor.
Davon betroffen ist auch der Sportfachhandel. Die Genossenschaft Intersport, die in Deutschland mehr als 1500 Händler in der Verbundgruppe hat, kann das nur bestätigen: „Unsere selbständigen Kaufleute haben beschränkte Liquidität und die Sorgen sind sehr groß“, so Carsten Schmitz, CDO von Intersport. „Daher ist es gerade in dieser Situation extrem wichtig, dass wir unsere Händler engmaschig betreuen und gemeinsam in die Liquiditätsplanung gehen.“
Intersport musste in diesem Jahr schon ein extrem schlechtes Wintergeschäft hinnehmen. Durch den Shutdown bleiben die Händler jetzt auch noch auf der Frühjahrsware sitzen. „Running Artikel sind die einzigen, bei denen man die Saison vielleicht noch auf die Zeit nach dem Lockdown verlängern kann. Wir befürchten bzw. können jetzt schon durch Mid Season Sales beobachten, dass sich die größeren Onliner davon frei machen und die stationären in eine ausweglose Situation laufen.“
Priorität Eins in der Corona-Krise: Liquiditätssicherung
Seit etwa zwei Jahren bietet Intersport seinen stationären Händlern ein Ship-From-Store Modell an, der über die
Plattform erzielte Umsatz fließt direkt dem Händler zu, der die Ware verschickt. Aktuell sind 400 Händler angeschlossen, das Onboarding-Team arbeitet gerade auf Hochtouren, allein in den letzten zwei Wochen wurden 40 neue Händler aufgenommen. „Wir tun alles dafür, um mehr Liquidität in den Handel zu spülen“, so Carsten Schmitz.
Auch die Situation in der Textilbranche ist desaströs. Der westfälische Modekonzern Gerry Weber steht nach der gerade überstandenen Insolvenz vor großen Herausforderungen. Über 300 eigene Läden und nochmal so viele Franchise-Partner sind geschlossen. „Wir gehen davon aus, dass wir 30 Prozent weniger Jahresumsatz machen als budgetiert. Das ist ein Einschnitt, der ist nicht einfach zu verkraften“, so Alexander Gedat, Aufsichtsratsvorsitzender bei Gerry Weber.
Das größte Problem sieht Gedat vor allem in der Ware in der Pipeline, zumal da es sich in der Modebranche um saisonale Artikel handelt. „Der Liquiditätsbedarf ist enorm. Wir versuchen, dass die Frühjahrs- und Sommerware später ausgeliefert wird, um die Saison zu verlängern und georderte Ware in Asien zu stornieren.“ Den Franchisenehmern wird derzeit im Warenmanagement geholfen und unterstützt, wo es geht. „Das kostet uns was, aber wir müssen helfen und partnerschaftlich mit der Situation umgehen.“
Klar ist, dass die Händler ein Finanzierungsvolumen für die Ware benötigt, die die Unternehmen jetzt auf Lager haben und nicht abverkaufen können. „Das aktuelle Schutzschirmverfahren von Galeria Karstadt-Kaufhof macht doch sehr deutlich, wie wenig nachhaltig der Handel generell finanziert ist“, so Interims-CEO Alexander Gedat. „Für staatliche Soforthilfen und Kreditprogramme muss die Politik unser Geschäft verstehen und da habe ich aktuell nicht den Eindruck, dass dem so ist.“
Intersport kämpft für seine Händlerschaft an verschiedenen Fronten, um Liquidität zu sichern. „Es ist absolut notwendig, dass wir als Verbundgruppe mit den Herstellern über Valutierung, Storno und das Verschieben von Auslieferungsterminen sprechen“, so Schmitz. Aber man müsse sowohl bei den 650 Brands und sieben Eigenmarken genau prüfen, wie die wirtschaftliche Situation der einzelnen Partnerunternehmen aussehe.
Im Hintergrund laufen auch zusätzlich Gespräche aller Genossenschaften, die über im Mittelstandsverbund organisiert sind, um Forderungen an die Regierung für die Liquiditätssicherung im Einzelhandel zu formulieren. Schmitz nennt ein Beispiel: Ein Intersporthändler mit fünf Geschäften habe ihm erzählt, dass er sich sehr über die bewilligten staatlichen Fördergelder freue. Gleichzeitig sage er, und das solle auch nicht herablassend klingen, die Gelder helfen ihm gerade genau vier Tage.
Nach dem Lockdown: Konsum ankurbeln
Gerry Weber Chef Alexander Gedat sieht auch nach der Wiedereröffnung der Läden, die für den 19. April in Aussicht gestellt ist, kein Licht
im Tunnel. Fakt ist, dass durch die Krise die Verbraucher keine Lust am Konsum haben. Das sei gerade im Textihandel deutlich zu sehen, da auch die großen Onliner wie Zalando und Amazon große Umsatzeinbrüche verzeichnen. „Wofür wir alles tun müssen, ist nach dem Lockdown wieder für Attraktivität der Einkaufsstätten zu sorgen. Die Verunsicherung bei den Menschen ist riesengroß, wir müssen erst mal wieder Vertrauen bei den Kunden aufbauen.“
Schmitz sieht hier digitale Tool als Mittel zum Zweck. „Wir haben allen unseren Händlern nochmal klar gemacht, ja, eure Tür da vorne ist zu, aber ihr seid nicht tot. Nutzt den persönlichen Kontakt zu euren Kunden über digitale Tools.“ Zum Beispiel wurde auf die Schnelle kontaktlose Lieferung möglich und ein Terminbuchungstool für telefonische Beratung ist gerade live gegangen. Intersport arbeitet mit Hochdruck an einer schnellen Umsetzung weiterer Tools, mit dem die Verbundgruppe Content für Social Media bespielen können, um beim Kunden vor Ort präsent zu sein, auch wenn die Ladentür zu ist.
Wer wird diese Krise überleben?
Alexander Gedat ist davon überzeugt, dass es die Firmen sind, die den Nerv des Endverbrauchers treffen und schnell ihr Geschäftsmodell anpassen können: „Die unprofilierte Mitte ist das Schlimmste, was man tun kann. Ein lokaler Händler kennt seine Kunden so gut und kuratiert die Ware entsprechend, das kann eine vertikalisierte Marke oder eine Online-Shop niemals leisten.“
Der Händler muss diesen Mehrwert ausspielen: Die Beziehung zum Kunden. Sich um seine Existenzsicherung zu kümmern reicht nicht aus. „Wenn die Läden wieder öffnen, wird der Wettbewerb nicht leichter, der Preiskampf wird ruinös sein“, prognostiziert Carsten Schmitz. „Man muss in einzelnen Warengruppen gut sein und eine lokale Community darum aufbauen, um vor Ort relevant zu bleiben.“ Das ist der Mehrwert des Händlers, den er gegenüber den großen Onlinern wie Zalando und Amazon sowie den großen Herstellern ausspielen kann. Händler, die das antizipieren und sich zunutze machen, werden gestärkt aus der Situation hervorgehen.
Weiterführende Links
Der Digital-Talk „Händler helfen Händlern“ in voller Länge
Forderungsliste des Handels für finanzielle Soforthilfen an die Politik
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