Doppelbelastung Frauen an der Spitze

Frauen an der Spitze: Wie die Frontfrauen von BabyOne und Seidensticker die Corona-Krise und die Doppelbelastung mit Job und Familie meistern

Eines vorweg: Frauen in Chefetagen von deutschen Familienunternehmen sind rar gesät. Erst vor wenigen Tagen schreckte die aktuelle Studie der Allbright-Stiftung auf, die dieses schon lange gehegte „Gefühl“ leider bestätigte: Gerade einmal sieben Prozent der Geschäftsführungen in deutschen Familienunternehmen sind in Frauenhand. Wir haben mit zwei Pionierinnen aus diesem Bereich Dr. Anna Weber, Geschäftsführerin des Familienunternehmens BabyOne und Dr. Silvia Bentzinger, Geschäftsführerin der Seidensticker Group gesprochen. Sie geben Einblick in ihre Arbeit an der Spitze eines Familienunternehmens, teilen ihre Erfahrungen in der Corona-Krise und berichten, wie sie diese trotz Doppelbelastung als CEO und Mutter von zwei Kindern gemanagt haben.

Stellt euch das mal vor: In der Führung der 100 größten Familienunternehmen in Deutschland gibt es mehr „Thomasse“ und „Michaels“ als Frauen insgesamt! Von 436 Führungspositionen sind nur 30 weiblich besetzt, was einen Frauenanteil von mageren sieben Prozent ausmacht. Bei den 30 Dax-Unternehmen sind es immerhin 15 Prozent… Nur 29 der 100 größten Familienunternehmen Deutschlands haben überhaupt eine Frau in der Geschäftsführung… Das ist das ernüchternde Ergebnis der vor wenigen Tagen veröffentlichten Studie der Allbright-Stiftung*. Dabei ist es in vielen Studien längst bewiesen, dass mehr Diversität in Unternehmen kein „nice-to-have“ mehr ist, sondern klare wirtschaftliche Vorteile bringt. Anna Weber und Silvia Bentzinger stehen an der Spitze eines deutschen Familienunternehmens und sind damit Pionierinnen, von denen wir in Zukunft hoffentlich noch mehr sehen werden.

Dr. Anna Weber, CEO der BabyOne GmbH
Dr. Anna Weber hat die Geschäftsführung von BabyOne von ihren Eltern übernommen
BabyOne: Teamarbeit in der engsten Familie

Anna Weber ist jung, dynamisch und der Prototyp einer Unternehmerin, die Zukunft aktiv gestalten möchte. Die BWLerin hat zwei kleine Kinder und ist vor drei Jahren ins elterlichen Unternehmen BabyOne eingestiegen, ein Franchise-Unternehmen mit 104 stationären Fachmärkten und einer starken Multichannel-Strategie. Gemeinsam mit ihrem Bruder Jan Weischer hat sie inzwischen die Geschäftsführung übernommen, Ende des Jahres werden die Eltern das operative Geschäft ganz verlassen. Die Corona-Krise war für BabyOne eine schwere Zeit, da das Unternehmen 90 Prozent seines Umsatzes über die stationären Geschäfte erwirtschaftet. Sie berichtet: „Viereinhalb Wochen Lockdown waren eine ausgemachte Katastrophe für uns und unsere Liquiditätsplanungen wurden sehr belastet.“ In der Krise, wo wichtige Entscheidungen ad hoc getroffen werden mussten, wurden Managementfähigkeiten auf eine harte Probe gestellt, Improvisation stand auf der Tagesordnung. „Mein Bruder, meine Eltern und ich waren quasi rund um die Uhr im Office“, erinnert sich Anna Weber und ergänzt: „Die Krise war auch emotional herausfordernd. Als am 16. März unser komplettes Team mit ihrem Rechner unter dem Arm unsere Zentrale in Richtung Homeoffice verlassen hat, sah das schon sehr nach Endzeitstimmung aus.“

Dr. Silvia Bentzinger, CEO Seidensticker Group
Dr. Silvia Bentzinger, ist seit Januar 2020 CEO der Seidensticker Group
Jede Menge Überstunden im Führungsteam bei Seidensticker

Silvia Bentzinger Karriere bei Seidensticker verlief sehr stringent. Sie ist kein Mitglied der Inhaber-Familie sondern kam vor ca. 11 Jahren als Externe zum Unternehmen. Seit dieser Zeit und aufgrund der guten Zusammenarbeit mit Team und Vorgesetzten wurden ihre Verantwortungsbereiche kontinuierlich erweitert. Seit Januar 2020 ist die ursprüngliche Rechtswissenschaftlerin CEO der Marke Seidensticker – und musste sich dann gleich in einer extremen Ausnahmesituation beweisen: „Auch ich muss sagen, dass ich noch nie so viel gearbeitet habe wie in der Corona-Zeit“, resümiert Silvia Bentzinger. Während in der Presse von Entschleunigung gesprochen wurde, sah der Tag im Krisenmodus bei ihr gänzlich anders aus. Es war eine harte Zeit für Seidensticker, 36 Filialen waren geschlossen, die Mitarbeiter in Kurzarbeit. Auch die Wholesalepartner hatten geschlossen, der Markenumsatz brach zu 80 Prozent weg. „Zum Glück konnten wir 20 Prozent unserer Umsätze online generieren, aber der Bedarf an Hemden und Blusen in Zeiten des Homeoffice war natürlich deutlich geringer als normalerweise“.

Doppelbelastung: Ohne Hilfe und viel Organisation wäre es nicht gegangen

Gleichzeitig für Job und Familie da zu sein, war für beide sehr schwierig: „Mein Mann musste wie ich sehr viel arbeiten, doch wir haben zwei Schulkinder, die zuhause betreut werden mussten“, erklärt Silvia Bentzinger. „Es war und ist mein großes Glück, dass sich meine Eltern in der Krise um die Kinder kümmern konnten. Sie sind für die Wochen des Homeschoolings bei uns eingezogen, zusätzlich hatten wir zwei bis drei ältere Schüler an der Hand, die beim digitalen Unterricht helfen konnten“. Anna Weber konnte sich auf ihren Mann verlassen, der sich wegen der geschlossenen Kitas um den gemeinsamen Nachwuchs kümmerte: „Für ihn war es klar, dass meine Präsenz im Office existenziell war, und da hat er die Kinderbetreuung zuhause alleine übernommen“. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mit Betreuungsproblemen wurden und werden bei beiden Firmen problemlos für das Homeoffice freigestellt. „Dafür haben wir großes Verständnis und glücklicherweise war unsere IT-Infrastruktur damals sehr schnell homeoffice-fähig“, erklärt Silvia Bentzinger. Auch heute noch kann jeder, der lieber von zuhause arbeiten möchte, dies tun. „Jeder Prozess muss heute bei uns auch digital funktionieren – oder hybrid mit einem Teil des Teams im Office und einem zuhause“, bestätigt Anna Weber.

Positive Seiten von der Krise

Dennoch gehen beide Frauen auch mit positiven Erfahrungen aus dem Lockdown: „Der Zusammenhalt im Team war enorm“, erklärt Anna Weber im Rückblick. „Wir haben diese Wochen genutzt, um unsere Multi-Channelstrategie weiter zu forcieren und stellten in wenigen Tagen Dinge auf die Beine, für die wir normalerweise wahrscheinlich Monate gebraucht hätten“. Auch die enge Zusammenarbeit mit unseren Franchisepartnern hat geholfen, die Krise gut zu überstehen: „Ich bin froh, dass wir kein Einzelplayer sind, der Verbund mit unseren Franchisenehmern ist uns sehr wichtig“, sagt Anna Weber. Silvia Bentzinger machte ähnliche Erfahrungen: „Diese Zeit hatte sehr viel Dynamik und es war schön zu sehen, wie eng wir im gesamten Team zusammengestanden sind. Es ist auch so viel Gutes daraus entstanden!“ So schaffte es Seidensticker z.B. binnen weniger Tage, die gesamte Produktion komplett auf Mund-Nasen-Schutzmasken umzustellen. Auch Digitalisierungsprojekte wurden angegangen: „Wir haben im Lockdown den kompletten Wholesale-Prozess digitalisiert und sind damit sehr viel flexibler für die Zukunft. Wir können Kollektionen virtuell zeigen und den Verkaufs- und Übergabeprozess digital und standortunabhängig abbilden. Das war ein großer Schritt für uns und wir sind alle total begeistert.“ Reiseaufwände können nun gespart und Nachhaltigkeitsziele leichter erreicht werden.

Optimismus überwiegt

Insgesamt sind sowohl Anna Weber als auch Silvia Bentzinger optimistisch, was die Zukunft und den weiteren Krisenverlauf angeht: „Wir planen mit 20 Prozent weniger Umsatz in diesem Jahr. Die Frequenz auf der Fläche ist immer noch niedrig – auch wenn die Conversion am Ende gut ist.“  Seidensticker will das B2C-Geschäft weiter pushen und mit Direct-to-Consumer, Wholesale und Produktion für andere Marken weiterhin auf Diversifikation der Geschäftsmodelle setzen. Bei BabyOne sei jetzt, wo die Märkte wieder offen haben,  der Umsatz wieder auf Vorjahresniveau - trotz Corona, erklärt Anna Weber. Schließlich bestehe im Segment Erstausstattung für Babys ein echter Bedarf bei den Konsumenten, den man auch schlecht verschieben könne. Trotzdem sei auch hier die Frequenz zurückgegangen. „Leute, die einfach ein bisschen bummeln möchten, sehen wir aktuell nicht im Laden. Stattdessen kommen unsere Kunden sehr gezielt und wissen genau, was sie wollen“, erläutert Anna Weber. Positiv sei, dass Online sich dank Corona nun als eigener Vertriebskanal fest etabliert hat. Jetzt gilt es, die hohe Beratungskompetenz im Laden auch digital abbilden zu können. Im Lockdown wurden bereits erste Test mit einer digitalen Terminvereinbarung für Beratungsgespräche, Life-Chats, Instagram Shopping und Facetime-Beratung gefahren. Anna Weber bringt es auf den Punkt: „Ohne die Krise wären wir sicher noch nicht soweit – und unsere Kunden bestimmt auch nicht!“

Der Talk fand im Rahmen der Initiative „Händler helfen Händlern“ statt. Das komplette Gespräch kann online unter: https://neovaude.live/haendlerhelfenhaendlern/ angesehen werden

* Die Allbright-Stiftung wurde 2011 vom schwedischen Unternehmer Sven Hagströmer in Stockholm gegründet und ist seit 2016 auch in Deutschland aktiv. Sie setzt sich für mehr Diversität (und damit mehr Frauen) in Führungspositionen ein und gibt regelmäßig Studien heraus um die Öffentlichkeit für dieses Thema zu sensibilisieren.

Weiterführende Links:

Allbright Studie: www.allbright-stiftung.de

Seidensticker Corporate: https://corporate.seidensticker.com

BabyOne: www.babyone.de

Händler helfen Händler: www.haendler-helfen-haendlern.com

 

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München nach dem Lockdown durch Corona

City nach dem Lockdown:
E-Commerce als Bollwerk gegen Frequenzrückgang?

Die Münchener Traditionshändler Ludwig Beck und Sporthaus Schuster geben Einblick über die aktuelle Lage in der City nach dem Lockdown. Konsumzurückhaltung, wenig Einkaufserlebnis und fehlende Touristen prägen derzeit das Bild in den Läden. Die Erfolgsgeschichte schreibt ein anderer Geschäftsbereich: Der E-Commerce verzeichnet bei beiden Handelshäusern enormen Zuwachs, der jedoch die Umsatzeinbußen bei weitem nicht kompensieren kann. Auf welche Szenarien die Unternehmen sich in den nächsten Monaten einstellen und welche Handlungsperspektiven es für den Handel in den Innenstädten gibt, diskutierte meine Kollegin Vera Vaubel mit den beiden E-Commerce-Chefs Fabian Göhler und Konstantin Rentrop im Digital-Talk der Initiative „Händler helfen Händlern“. 

Zunächst hatte die Corona-Krise etwas beruhigend Egalisierendes: Denn egal, ob in Münchens 1A-Lage oder am Stadtrand, die Umsätze des stationären Handels auf der Fläche waren ab Mitte März überall gleich Null. Alle Ladentüren waren geschlossen, die Verbindung zum Kunden gekappt. Was im Lockdown aber sehr wohl einen Unterschied machte, war das Vorhandensein eines Online-Shops, eine enge Bindung zum Kunden und die Bereitschaft, sich schnell der Situation anzupassen und das Bestmögliche daraus zu machen. Auch für die Münchener Traditionshäuser Ludwig Beck und Sporthaus Schuster waren die Tage rund um den 16. März eine Katastrophe. Doch man entschied sich, nach vorne zu schauen und war mehr als glücklich, das Thema Online-Shop und Digitalisierung von internen Prozessen schon vor Jahren angegangen zu sein.

USP aus der Fläche digital abbilden: Kundenberatung per Telefon

„Der totale Shutdown war für uns zunächst wirklich dramatisch“, erinnert sich Konstantin Rentrop, E-E-Commerce- und Marketingleiter beim Sporthaus Schuster. „Zwar hatten wir schon Tage zuvor verschiedene mögliche Szenarien durchgespielt und Vorbereitungen getroffen, einen Lockdown der gesamten Münchener Innenstadt konnten wir uns aber nicht wirklich vorstellen!“ Da Radläden in Bayern geöffnet bleiben durften, verlagerte das Team vom Sporthaus schnellstmöglich das gesamte Radsortiment auf eine Etage und nutzte die erweiterte Fläche, um zum einen dem Abstandsgebot Rechnung zu tragen und zum anderen, das Sortiment bestmöglich darzustellen.

Konstantin Rentrop, Sporthaus Schuster
Konstantin Rentrop, Sporthaus Schuster

Da viele Kunden aus Vorsicht aber nicht mehr in die Stadt und in den Laden kommen wollten, mussten wir versuchen, unseren Beratungsservice digital abzubilden“, erläutert Konstantin Rentrop.

„Wir haben das erreicht, indem wir z.B. die Namen und Telefonnummern unserer Abteilungsleiter über Social Media und auf unserer Website öffentlich gemacht haben. Auch Logistikfragen konnten Kunden direkt mit unseren Mitarbeitern besprechen.“ Der Service Call & Reserve, also die telefonische Reservierung von Produkten zur Anprobe bzw. Abholung im Laden wurde eingerichtet. Dennoch blieben die Online-Umsätze im März unter denen des Vorjahrs, die Kauflust war den Kunden angesichts der dramatischen Bilder aus dem Fernsehen und einer ungewissen Zukunft vergangen.

Immenser Umsatzzuwachs im Online-Geschäft

Nach der anfänglichen Kaufzurückhaltung kam im April die Lust der Menschen auf Sport zurück und Sporthaus Schuster verzeichnete in seinem Onlineshop eine Verdoppelung seines Online-Umsatzes. Auch bei Ludwig Beck wuchs das Online-Geschäft stark an, allerdings bereits im März. Seitdem kann das Kaufhaus eine Umsatzsteigerung im E-Shop von rund 100 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum verbuchen. Fabian Göhler, Bereichsleiter E-Commerce, Marketing & PR bei der Ludwig Beck AG erinnert sich: „Man sieht sich diese Entwicklung an und traut dem zunächst nicht so recht. Tatsache aber ist, dass sich dieser Umsatzzuwachs von Anfang an durchgezogen hat. Dagegen kann man jedes Weihnachtsgeschäft vergessen!“ Fabian Göhler sieht die Ursache dieser Entwicklung zum einen in der Tatsache, dass das gestiegene Bedürfnis nach Hygiene und Händewaschen dem Online-Sortiment von Ludwig Beck sehr zugute kam, aber auch in dem Geschäftsmodell, das das Kaufhaus der Sinne im E-Shop verfolgt:

Fabian Göhler, Kaufhaus Ludwig Beck
Fabian Göhler, Kaufhaus Ludwig Beck

„Ich bin ein großer Fan von Nischen im Internet. Wir haben uns schon vor Jahren dazu entschieden, lediglich mit unserem sehr exklusiven Beauty- und Kosmetiksortiment online zu gehen. Dafür sind wir bekannt und profitieren heute von einer sehr hohen Kundenbindung. Das hat uns in der Krise sicher auch in die Hände gespielt.“ Beide Unternehmen sind heute froh, sich schon seit Jahren intensiv mit dem E-Commerce auseinanderzusetzen und klare Online-Konzepte zu verfolgen.

„Die Corona-Krise ist wahrscheinlich der erfolgreichste Werbefeldzug für den E-Commerce“, resümiert Fabian Göhler von Ludwig Beck.

Dass Online- und Offline-Kanäle sich gegenseitig kannibalisieren würden, bewertet Fabian Göhler dagegen als Quatsch. „Interne Studien und die Auswertung unserer Konversionsraten haben ergeben, dass sich viele unserer Kunden im Laden inspirieren lassen um dann gezielt online zu kaufen“.

Kundenloyalität als Umsatzgarant in Krisenzeiten 

Mit dem veränderten Kaufkanal hat sich durch die Krise auch die Kundenansprache stark verändert. Bedürfnisse mussten neu erkannt, Themen gefunden und inhaltlich neu erarbeitet werden. „Wir haben im Lockdown immens viel unternommen, dieser Umsatzzuwachs war kein Selbstläufer“, erklärt Fabian Göhler. „Wir haben zu Beginn z.B. viele Handseifen und -Creme Kampagnen durchgeführt. Auch Schminktipps speziell für Augen für Trägerinnen von Gesichtsmasken kamen bei unseren Kunden sehr gut an.“ Es zeigte sich, dass sich das Sporthaus Schuster in der Krise vor allem auf seine Münchner Stammkundschaft verlassen konnte. „Wir haben während des Lockdowns gesehen, dass die Online-Konversion von unseren Münchener Kunden sehr viel höher war, als aus den restlichen deutschen Gebieten“, erklärt Konstantin Rentrop. Nette Kundenmails und Bewertungen bestätigten zudem, dass Kunden ihren Münchener Sporthändler mit einem Online-Kauf aktiv unterstützen wollten. Auf das Vertrauen und die Treue seiner Kunden setzt auch Fabian Göhler - vor allem jetzt nach der Wiedereröffnung von Ludwig Beck. Denn das „Kaufhaus der Sinne“ hat vor allem im Kosmetikbereich sehr viele Auflagen zu erfüllen: „Wir haben in unserer Beauty-Abteilung beispielsweise keine offenen Tester mehr. Düfte, Konsistenten und Farben sind aktuell leider nicht mehr sinnlich erlebbar. Auch dürfen wir unsere Kundinnen nicht mehr schminken.“ Damit wird der Produktkauf in diesem Bereich noch einmal mehr zum „Akt des Vertrauens“ und Beratung erhält eine noch wichtigere Funktion. Was allerdings auch problematisch ist, denn - so Fabian Göhler: „Ein so großes und nun wiedereröffnetes Haus erfordert einen gewissen Personalstamm, der bei niedriger Kundenfrequenz auch eine Last darstellt.“

Inspirativer Einkauf aktuell schwierig, Bike, Running und Fitness läuft sehr gut

Shopping in Corona-Zeiten hat an Leichtigkeit verloren und sich im Vergleich zu früher stark verändert. Zählte das Sporthaus Schuster Anfang des Jahres sehr viele Kunden, die sich im Laden einfach inspirieren lassen wollten, kommen sie heute mit einem sehr konkreten Bedürfnis ins Geschäft.

Die Fokussierung unserer Kunden auf konkrete Bedürfnisse beschert uns zwar eine sehr hohe Konversionsrate, doch die Frequenz in der Fläche ist noch sehr niedrig,“ bestätigt Konstantin Rentrop.

Auch urbane Outdoormode, die nicht direkt zum Sport getragen wird, verkauft sich aktuell schlecht. Sportbekleidung rund um die Sportarten Radfahren, Running und Fitness dagegen funktionieren laut Rentrop sensationell gut. Der Fashionbereich bei Ludwig Beck dagegen leidet aktuell sehr unter Corona. Das liegt auch daran, dass mit den verbotenen Festen und Feierlichkeiten einfach die Anlässe fehlen, um sich neu einzukleiden. Auch die ausbleibenden Touristen in München machen sich im Kaufhaus der Sinne stark bemerkbar: „Ein Drittel unseres Umsatzes erwirtschaften wir normalerweise mit Urlaubern“, erklärt Fabian Göhler.

Krise gemeinsam mit Lieferanten meistern, nicht über Rabatte

Um den Warendruck im Unternehmen zu mildern, hat das Sporthaus Schuster viele Gespräche mit Lieferanten geführt. So konnten Kollektionen z.T. auf das nächste Jahr verschoben oder ein späterer Liefertermin vereinbart werden. Dass der Händler mit vielen Lieferanten schon seit Jahrzehnten zusammenarbeitet, sieht Konstantin Rentrop als klaren Vorteil: „Eine vertrauensvolle und über Jahre gewachsene Händler-Lieferanten-Beziehung hilft sehr in Krisenzeiten.“ Beim Kaufhaus Beck sah die Situation zu Beginn der Krise vor allem im Kosmetikbereich etwas anders aus, denn mit dem unerwarteten Umsatzzuwachs im E-Shop stand plötzlich die Beschaffung zusätzlicher Ware im Vordergrund: „Wir beziehen unsere Produkte aus der ganzen Welt, von Australien bis nach Amerika“, gibt Fabian Göhler zu Bedenken. „Angesichts der eingeschränkten Verkehrsflüsse und der unklaren Produktionskapazitäten überall im Ausland, bestand hier eine große Unsicherheit.“ Auch Logistik und Fulfilment sicherzustellen war, war zu Beginn der Krise eine große Herausforderung. Einig waren sich Fabian Göhler und Konstantin Rentrop, als es auf das Thema Rabatte zu sprechen kam.

Fabian Göhler erklärt: „Natürlich ist die Verlockung aktuell groß, hohe Rabatte einzuräumen. Doch ich warne, dies mit Bedacht zu tun, denn Umsätze allein über Rabatte zu machen, ist oft der Anfang vom Ende.“

Sinkende Frequenzen und neuen Aufbrüche

Was genau die Zukunft bringt, das wissen die Traditionshändler Ludwig Beck und Sporthaus Schuster natürlich auch nicht. Doch sie haben Erwartungen: Konstantin Rentrop rechnet in Zukunft mit weiter sinkenden Frequenzen auf der Fläche, schon in den letzten zwei bis drei Jahren sei diese um 30 Prozent zurückgegangen. Auch bezüglich der Kaufkanäle erwartet er eine weitere Verschiebung hin zum Online-Shop, denn „volle Innenstädte und enge Weihnachtsmärkte“ kann er sich für 2020 nur schwer vorstellen. Dass die Krise für viele Unternehmen existenzbedrohend ist und gleichzeitig eventuelle Schieflagen öffentlich macht, davon sind sowohl Konstantin Rentrop als auch Fabian Göhler überzeugt. Aber sie wird auch neue Chancen bringen! „Kümmert euch um euer Geschäftsmodell!“ mahnt Fabian Göhler alle von der Krise betroffenen Händler in Deutschland, die den digitalen Kanal bislang eher vernachlässigt haben. Schnellschüsse, bei denen komplette Online-Shops binnen drei Wochen aus dem Boden gestampft werden, sieht er daher eher kritisch. „Es ist essenziell, vorab genau zu überlegen, WAS man online anbieten möchte, für WEN und WARUM.“ Gerade erst hat Ludwig Beck einen Online-Shop für den chinesischen Markt gelauncht – mitten in der Corona-Krise. Trotzdem wird das Unternehmen den Forecast für das 1. Halbjahr 2020 erreichen – auch dank der präzisen Vorarbeit. „Den Schritt nach Asien haben wir penibel vorbereitet und wir sind sehr stolz darauf, dass wir aus unserem Lager in Nürnberg 100 Prozent der chinesischen Bestellungen in sechs bis acht Tagen ausliefern konnten!“

Weiterführende Links:

Link zum Digital-Talk: https://neovaude.live/haendlerhelfenhaendlern-2020-05-19/

Initiative Händler helfen Händlern: https://www.haendler-helfen-haendlern.com

Kaufhaus Ludwig Beck: https://kaufhaus.ludwigbeck.de/

Sporthaus Schuster: https://www.sport-schuster.de/

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nachhaltiger Konsum mit Miet-Commerce

Weniger Zeug durch Miet-Commerce – eine Chance für nachhaltigeren Konsum

Mit dem Wunsch nach nachhaltigeren Konsummodellen hat sich auch das Motto „Nutzen statt Besitzen“ immer mehr verbreitet. Allerdings fliegt das Thema bei den meisten noch immer unter dem Radar. Obwohl große Marken wie Tchibo, Otto oder Vaude Mietmodelle für Teile ihres Sortiments anbieten, sind die Angebote wenig bekannt. Dabei belastet viele Menschen diese Anhäufung von Besitz immer mehr und „Mieten statt Kaufen“ könnte eine gute Lösung sein. Ich stelle euch heute einige interessante Modelle im Miet-Commerce und ihre Protagonisten vor. Ich war überrascht, wie viele Möglichkeiten der Miet-Commerce heute schon bietet.

Mieten als Geschäftsmodell im Handel ist eigentlich ein alter Hut. Waren es zu Beginn vor allem die Leih-Ski im Winterurlaub oder die Baumärkte, die mit dem Verleih von Maschinen oder Handwerkszeug auf sich aufmerksam machten, treten immer mehr Branchen ins Rampenlicht, die man für Miet-Commerce-Modelle zunächst nicht wirklich auf dem Schirm hatte. Gepusht wurde dieser Ansatz besonders durch den Wunsch nach nachhaltigeren Konsummodellen. Schließlich werden Produkte oft nur selten genutzt und sie dann mit einem anderen Nutzer zu teilen, leuchtet wirklich ein. Unter dem Motto „Nutzen statt Besitzen“ entwickeln sich inzwischen viele Initiativen und zahlreiche Start-ups sprießen aus dem Boden. Auch einige etablierte Hersteller und Händler haben bereits eigene Miet-Commerce-Modelle.

Unown: Bekleidung mieten als Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit im Fashionkonsum

Das Hamburger Start-up Unown machte erstmals im Herbst 2019 mit einem Miet-Modell für nachhaltige Mode auf sich aufmerksam. Das Ziel: Ein profitables Geschäft entwickeln und gleichzeitig Teil der Lösung für drängende gesellschaftliche und ökologische Probleme sein. Laut Greenpeace werden 40 Prozent in unserem Kleiderschrank selten oder nie getragen. Dem gegenüber stehen rund 60 neue Teile, die eine Frau durchschnittlich im Jahr neu anschafft – um den Kleiderschrank weiter vollzustopfen. Das Tragische daran: Der Besitz belastet immer mehr Konsumenten und Lösungsansätze sind dementsprechend hochwillkommen. Schon 2018 gaben 20 Prozent der Deutschen an, Bekleidung auch mieten zu wollen. Heute dürfte die Bereitschaft dazu eher gestiegen sein – passend zum Trend des Re-Commerce, also dem Handel von Second Hand Ware, der im letzten Jahr einen gewaltigen Zuwachs hinlegen konnte. Rund 200 Teile von über 20 Marken gibt es aktuell im Unown-Shop, die entweder einzeln geleast oder als Abo-Modell in verschiedenen Umfängen, z.B. drei Teile im Monat zum Preis von 69,- Euro temporär erstanden werden können. Die typische Kundin ist 25-45 Jahre alt, lebt eher in urbanen Gebieten und gibt durchschnittlich 150-200 Euro für Kleidung im Monat aus. 20 Prozent der Kleidung wird laut Co-Gründerin und Co-CEO Tina Spiessmacher von den Kundinnen am Ende gekauft. Sie bestätigt: „Befragungen unserer Kundinnen ergaben, dass sie durch unser Leasing-Modell tatsächlich weniger neue Teile kaufen.“ Bei Unown wechselt ein Teil durchschnittlich sechs- bis achtmal die Besitzerin bis es aus dem Loop herausgenommen wird – entweder weil es gekauft oder z.B. an den Hersteller retourniert wird. Besonders gut funktioniert bei Unown Mode, die Statement-Charakter hat aber auch im Business-Umfeld tragbar ist. Probleme mit beschädigter Ware gab es bislang übrigens kaum. Die Kleider sind versichert, die Reinigung ist kostenlos:

„Hier hatten wir zu Beginn ein bisschen Sorge, doch tatsächlich behandeln unsere Kundinnen die Ware sehr sorgsam. Um für die nächste Wachstumsphase gut aufgestellt zu sein, arbeiten wir gerade intensiv an der Ausweitung des Sortiments und daran, unser digitales Produkt-Tracking weiter zu verbessern,“ erklärt Tina Spiessmacher.

Unown-Fashion
Shop von Unown-Fashion
Von der internen Mitarbeiter-Ausleihe zum professionellen Miet-System

Der Outdoor-Spezialist Vaude startete sein Miet-System „IRentit“ by Vaude im Jahr 2016 und hat dort Zelte, Isoliermatten, Rucksäcke und Fahrradtaschen im Sortiment. „Unser Verleih-Modell wurde durch unseren firmeninternen Ausleihpool inspiriert, über den sich unsere Mitarbeiter schon seit vielen Jahren für private Zwecke Ausrüstung ausleihen konnten“, erklärt Benedikt Tröster, Pressechef bei Vaude. Um Erfahrungen zu sammeln, gab es das Mietsystem zunächst nur in den stationären Stores des Herstellers, seit 2017 ist auch der Online-Verleih möglich. Der Service wird von Kunden inzwischen gut angenommen. Allerdings verzichtet Vaude nach eigenen Angaben derzeit auf eine starke Bewerbung von IRentit, um die internen Kapazitäten nicht zu überlasten. Die größte Herausforderung bei dem Modell besteht laut Benedikt Tröster im Handling. Neben der Logistik sind vor allem die manuelle Wartung und ggf. Reinigung der Produkte sehr zeitaufwendig. Daneben erfordert das System eine IT-Lösung, bzw. Abbildung in einem ERP-System, was für Unternehmen unter Umständen hohe Anfangsinvestitionen erfordert, aber auch eine spätere Skalierung ermöglicht. „Bislang werden Zelte am meisten nachgefragt“, erklärt Benedikt Tröster und ergänzt, „vermutlich, weil dies sehr hochpreisige Ausrüstungsgegenstände sind, die in der Regel nur selten im Jahr genutzt werden.“  Aber auch wasserdicht verschweißte Radtaschen werden nachgefragt, natürlich mit einem saisonalen Peak zu Ferienzeiten.

iRentit by Vaude
iRentit by Vaude
Möbel zum Mieten? Ikea will in der Schweiz starten

Der schwedische Möbelriese Ikea beispielsweise verkündete bereits im September 2018, künftig Mietmöbel anzubieten. Auftaktmarkt für die neue Leih-Welt soll zunächst die Schweiz sein und das Büro-Sortiment umfassen. Losgehen sollte es eigentlich noch im Juni dieses Jahres, ob dieser Termin aber gehalten werden kann, ist angesichts der Corona-Krise ungewiss. Ikea Österreich Chef Alpaslan Deliloglu verkündete noch Anfang Februar, dass spätestens Ende 2021 auch in Österreich Möbel zum Mieten angeboten werden sollen. Der Grund: Das Möbelhaus will nachhaltiger werden. Beim Berliner Start-up Lyght Living rund um die Gründerinnen Laura Seiler und Nadine Deuring kann man bereits seit April letzten Jahres Möbel mieten. Ihr Konzept „Furniture as a service“ richtet sich in erster Linie an Menschen, die öfter umziehen. Rund 200 Produkte von über 50 Marken aus den Bereichen Wohnen, Essen, Schlafen, Arbeiten, Lampen & Dekoration sowie Outdoor bietet der Shop aktuell zur Miete an.

Erst Kinderkleidung dann Sportgeräte – Tchibo Share will weiter wachsen

Bereits viel Erfahrung gesammelt hat das Miet-Business von Tchibo. Schon 2017 startete Tchibo als erstes großes Handelsunternehmen das Pilotprojekt ‚Tchibo Share‘ in Kooperation mit dem Magdeburger Unternehmen kilenda. Tchibo Share bietet nachhaltig produzierte Baby-, Kinder- und Damen-Kleidung zur Miete an und das Modell scheint zu funktionieren. Laut Unternehmen haben sich sowohl Warenkorbgröße und Conversion Rate zufriedenstellend entwickelt, so dass das Modell weiter ausgebaut werden soll. Inzwischen können Tchibo Share Kunden neben Bekleidung auch Sportgeräte und Möbel mieten. Bei Sportgeräten wird vor allem das Argument des Ausprobierens ins Feld geführt um Kunden zum „Kauf“ zu locken. Ist man also unsicher, ob der Tchibo Schlingentrainer für einen Kaufpreis von 29,90 Euro gefällt, kann man ihn für 4,99 Euro monatlich zunächst mieten und bei Erreichen des Kaufpreises einfach behalten – oder eben nach einem Monat zurücksenden. Tchibo Kreislauf-Expertin Sarah Herms in einem Gespräch mit fashionunited:

„Um Tchibo Share langfristig und damit nachhaltig zu betreiben, braucht es ein breites Kunden-Fundament. Je mehr wir unser Angebot verbreitern, desto mehr leihen sich unsere Kunden aus“.

Tchibo Share
Sportequipment bei Tchibo Share
Von Multimedia über Haushaltselektronik bis hin zu E-Scootern: Otto Now expandiert

Vor gut drei Jahren ist mit Otto Now auch der Versandhandelsriese Otto ins Miet-Business eingestiegen. War das Sortiment bei Otto Now zunächst auf einzelne Bereiche wie Multimedia, Haushaltselektronik und Sport beschränkt, umfasst der Kategoriebaum inzwischen auch Möbel und E-Mobility Produkte wie E-Scooter oder E-Bikes. Ganze Büroausstattungen lassen sich heute über Otto Now mieten – gerade in Zeiten von Corona-bedingtem kollektivem Home-Office und Home-Schooling eine interessante Alternative zum Kauf. Ein Apple Notebook Pro kostet hier bei drei Monaten Mietdauer 177,90 Euro pro Monat, ein 27‘‘ Full HD Monitor von HP ist schon ab monatlichen 19,90 Euro bei sechs Monaten Mietdauer erhältlich. Anstatt das Modell lange theoretisch zu konzipieren, hat es Otto Now früh als Testlauf in die Praxis gebracht, um das unmittelbare Feedback der Kunden einholen zu können. Dieser Vorgehensweise werde das Start-Up auch in Zukunft treu bleiben, bestätigt David Rahnaward, Mitbegründer von Otto Now: „Wir sind wie Forscher auf nahezu unkartographiertem Terrain. Der nächste Schritt ist für uns jetzt, dass wir mit unserem Angebot – von der Miete über die kostenlosen Services wie Lieferung, Anschluss oder Reparatur bis hin zur Abholung des Produktes – einen immer größeren Nutzerkreis von uns überzeugen.“

Otto Now
Miet-Commerce bei Otto Now
Dem Mutigen gehört die Welt – das sieht man auch in der Krise

Ob die hier dargestellten Miet- oder Leasing-Modelle tatsächlich unseren CO2-Fußabdruck auf der Welt reduzieren, will ich nicht beurteilen. Leider fehlt bei den Anbietern eine klare „Beweisführung“, inwieweit ihr Modell tatsächlich unsere Umwelt entlastet. Bei nachhaltig produzierten Produkten von wie bei unown oder Vaude ist die Glaubwürdigkeit daher höher als etwa bei konventionell produzierten Sportgeräten von Tchibo. Doch eines ist sicher: Es ist Zeit, unseren Konsum zu überdenken und verantwortungsbewusster mit Ressourcen umzugehen! Ein Trend, der nach Corona sicher fortgesetzt werden wird. Und in der Krise wird besonders deutlich: Unternehmen, die trotz widriger Umstände nicht den Kopf in den Sand stecken und bereit sind, neue Ideen auszuprobieren und mit großer Begeisterung einfach weitermachen und lernen, werden die Gewinner der Krise sein. Jetzt ist Zeit, sich über neue Business-Modelle Gedanken zu machen und mutig zu sein – dann kann man sich auch in der Krise weiterentwickeln und Positives herausziehen.

Weiterführende Links

www.unown-fashion.com

www.vaude.com

www.tchibo-share.de

www.ottonow.de

 

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Wolf Lotter

Publizist Wolf Lotter:
„Komplexität erschließen, um Vielfalt zu gewinnen.“

Was wird uns helfen, die Corona-Krise zu überwinden? Die Komplexität unserer Welt, die uns die Krise vor Augen führt, scheint unüberwindlich. Ich habe mit Journalist Wolf Lotter, dem Mitgründer der Zeitschrift „brand eins“ und Buchautor, über Wissensökonomie, Technologien und Innovationen gesprochen. Seine Botschaft: Wir müssen lernen, uns aus den vorgegebenen Strukturen zu befreien. Wir müssen von der Vorstellung abrücken, dass es in Zukunft nur eine Lösung und eine Wahrheit gibt. Ein sehr inspirierendes Gespräch über Krisenbewältigung in der heutigen Wissensgesellschaft.

Herr Lotter, Sie bezeichnen sich selbst auf ihrem Twitterprofil als Zivilkapitalist. Was genau verstehen Sie darunter?

Einen Zivilkapitalist nenne ich eine Person, die die Mittel der Marktwirtschaft nutzt, um selbstbestimmter und emanzipierter, freier leben zu können. Also nicht als abhängig Beschäftigter, wie die meisten es im Angestelltenverhältnis tun. Man kann beobachten, dass unsere Gesellschaft zunehmend eine bequeme Haltung eingenommen hat. Zuerst verlässt man sich auf seine Eltern, später auf den Chef oder das Management. Das hat nichts mehr damit zu tun, sich gesellschaftlich zu emanzipieren oder beruflich etwas voranzubringen.

 

„Wenn ich innovativ sein will, muss ich mit Widerstand rechnen.“

 

Bedeutet das Ihrer Meinung nach, dass wir in Deutschland in einer Kultur der Abhängigkeit leben und arbeiten?

Wir haben eine Kultur, in der es einfacher ist, sich bedienen zu lassen als sich durchzusetzen. Diese Nicht-Widerständigkeit wird legitimiert, indem man es Leuten leicht macht, sich nicht verändern zu wollen und andere auszunutzen. Man kann nicht über Veränderungen zum Besseren, z.B. bessere Löhne oder bessere Arbeitsbedingungen reden, wenn man nicht auch über die Machtfrage redet. Und dazu gehört immer das Selbstbewusstsein, dass man weiß, was man kann und was man tut. Nur dann funktioniert es.

Bieten die unternehmerischen Organisationsstrukturen überhaupt die Möglichkeiten, sich als Zivilkapitalist zu emanzipieren?

Der Berater Jürgen Fuchs hat einmal die Arbeitswelt mit einem Satz beschrieben: Angestellte sind Menschen, die morgens um neun Uhr angestellt und abends um fünf Uhr wieder ausgestellt werden. Wir denken in Arbeits- und Organisationsformen, die von gestern sind. Wir leben zwar in einer Netzwerkgesellschaft, wir reden gerne von Agilität, wir reden gerne von New Work, aber wir machen das alles nicht.

 

„Ändert etwas und haltet etwas aus, das ist die kulturelle Voraussetzung für Innovation.“

 

Durch die Corona-Krise wurden von heute auf morgen viele Arbeitnehmer zu Homeoffice verbannt. Glauben Sie, dass das der Beginn einer nachhaltigen Entwicklung zu neuen Arbeitsformen ist?

Solange wir immer noch nicht akzeptiert haben, dass es dort Arbeit gibt, wo der Kopf ist, sicher nicht. Der Vordenker der Wissensökonomie, Peter Drucker, hat es einmal gesagt: Das Kapital des Wissensarbeiters befindet sich im Kopf, dort findet die Produktion und die Wertschöpfung statt. Nicht in einem Büro, nicht in einer Organisation, nicht an einem Schreibtisch. Aber in der heutigen Arbeitswelt fahren wir alle zu einem bestimmten Ort, um zu arbeiten und damit befinden wir uns eigentlich noch immer in der Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts.

Ist die Krise vielleicht die große Chance, das zu verändern?

Ich bin pessimistisch, dass die Krise zu radikalen Veränderungen beitragen wird. Die Krise hat in unserer Arbeitswelt zu einer Reaktion geführt und nicht zu einem Fortschritt, weil die Unsicherheit noch verschärft worden ist und die Leute sich noch mehr darauf verlassen, was der Chef in der Organisation sagt. Verschlimmert wird das dadurch, dass die Menschen nun zwangsweise die Erfahrung mit Homeoffice und Remote Work in negativem Kontext erleben, nämlich in häuslicher Isolation und im Krisenmodus.

Sie glauben also, dass die Krise einen negativen Effekt auf die Digitalisierung der Arbeitswelt hat?

Die am besten ausgebildeten Generationen, die je in Europa am Arbeitsmarkt waren, Leute, die fast alle studiert haben, sind nicht in der Lage, sich selbst als jemanden begreifen, der für sich selbständig zuhause arbeiten kann. Man muss kritisch reflektieren, was das bedeutet: Wenn die Menschen auf sich selbst zurückgeworfen werden, ist das in eine Drohung. Und zwar aus dem Grund, dass die meisten das nicht ertragen können und darin liegt das Problem.

 

„Wenn wir damit anfangen würden, uns selbst zu akzeptieren, uns selbst wertzuschätzen, dann können wir auch eine bessere Gemeinschaft sein.“

 

Sie schreiben aktuell ein Buch über „Zusammenhänge“, das im Herbst veröffentlicht werden soll. Welche Thesen stellen sie darin auf?

Es ist die Fortführung der Thesen, die Peter Drucker aufgestellt hat. In unserem Jahrhundert wird Wissen immer individueller und feingliedriger. Das ist ein Produkt der Arbeitsteiligkeit und führt dazu, dass wir immer mehr Spezialisten haben, die sich untereinander verstehen, aber kein anderer versteht sie mehr. Um Wissen produktiv zu machen, müssen wir lernen, Zusammenhänge herzustellen. Menschen, die mehr Freiräume wollen, müssen lernen, ihr Wissen zu teilen.

„Wissen teilen“, das propagiert zurzeit jedes Managementseminar ….

Die Frage ist doch, ob das nur eine Phrase ist oder ob man wirklich in der Lage ist, das Wissen zu teilen. Wissen teilen ist im Grunde erst dann möglich, wenn man sich richtig ausdrücken kann. Wir werden erst zur Wissensgesellschaft, wenn wir Dinge verstehen und auch erklären können. Und davon sind wir weiter entfernt als je zuvor.

Wie meinen Sie das bzw. können sie das anhand eines Beispiels erläutern?

Die Informationstechnologie als Beispiel: Das ist eine einzige Blackbox, verschlossene Systeme, die keiner begreift. Die nachfolgende Generation, die sogenannten „Digital Natives“, sie können die Technologie konsumieren, sie verstehen aber nicht, was sich dahinter verbirgt, weil sie es nie gelernt haben. Ganz zu schweigen von dem kritischen Umgang mit Technologien. Die Digital Natives haben noch nicht einmal gelernt, zu entscheiden, wann sie ein- oder ausschalten sollen. Damit geht eine wichtige Kultureigenschaft verloren.

 

„Ich kenne viele Unternehmer aus der älteren Generation, die innovationsfreudiger sind als ein Rudel Studenten.“

 

Sie kritisieren also, dass wir Technologie nur konsumieren?

 Ich bin kein Gegner des Konsums und des Wachstums. Im Gegenteil, beides ist menschengerecht, um sich weiter zu entwickeln. Aber ich kritisiere – und das schon lange – dass sich die westliche Konsumgesellschaft zum Großteil nur noch in der Rolle des passiven Verbrauchers befindet, und die Betonung liegt auf NUR. Die Menschen begnügen sich damit, am Ende der Nahrungskette Dinge zu verbrauchen und halten sich dabei für revolutionär. Aber sie sind nie bereit, die Welt zu gestalten und sie verfügen nicht über die Sachkenntnis, Zusammenhänge herzustellen.

Welche Voraussetzungen müssen geschaffen werden, um Zusammenhänge herstellen zu können?

Man braucht zumindest Wissen über Ökonomie, über Technologie. Und man muss wissen, wie unternehmerische und gesellschaftliche Organisationen funktionieren. Und man braucht ein Bildungssystem, das uns etwas anderes lehrt, als sich einzufügen und unterzuordnen. Das wird schon seit Jahrzehnten gefordert. Ich versuche, in meinem Buch zu beschreiben, wie die Netzwerkökonomie funktioniert. Anders als in der Vergangenheit, als eine Regel, ein Standard, eine Norm für alle galt, betreiben wir heute Ökonomie von Fall zu Fall, von Bedarf zu Bedarf. Das heißt, wir müssen uns immer wieder auf neue Bedingungen einlassen, uns einer anderen Sprache bedienen, uns einen anderen Zugang verschaffen, in der Kommunikation emphatisch sein.

 

„Ein starkes Ich wohnt in einem starken Wir.“

 

Das klingt komplex!

Die Welt ist komplex. In der Vergangenheit hatten wir Menschen die Aufgabe, Komplexität zu reduzieren. Sei es mit Erklärungsmodellen, mit Technologien, damit die Welt uns nicht zu kompliziert erscheint. In Zukunft wird es darum gehen, Methoden und Werkzeuge zu entwickeln, die Komplexität erschließen. Und damit Vielfalt und Unterschiedlichkeit möglich machen.

Lässt sich die Komplexität unserer Welt und eine Krise, wie wir sie jetzt erleben, mit Vielfalt lösen?

Wir müssen von der Vorstellung abrücken, dass in der Wissensökonomie nur eine Lösung und eine Wahrheit gibt. In Zukunft wird es darauf ankommen, so miteinander zu kommunizieren, dass wir uns in der einen Sache einigen können. Das wird nicht einfach werden, denn wir haben lediglich gelernt, mitzumachen oder wegzugehen. Das wird gerade nach der Corona-Krise nicht mehr möglich sein. Wir müssen lernen, so miteinander zu kommunizieren, dass jeder den anderen versteht und zu akzeptieren, dass es auch andere Wahrheiten und andere Realitäten gibt, als die wir selbst antizipiert haben.

 

„Wir brauchen keine nützlichen Idioten, die dem System und der Bürokratie dienen, sondern Leute, die es unternehmerisch anpacken.“

 

Was ist Ihr Rat an die Unternehmen, vor allem an die Kleinunternehmer und Mittelständler, die von der Krise besonders stark betroffen sind?

Wenn uns die Krise etwas zeigt, dann dass wir uns nicht auf die Welt der Bürokraten und die Welt der Konzerne mit ihren Angestellten-Apparaten verlassen können. Mein Appell an die selbstbewussten Zivilgesellschafter: Emanzipiert euch! Schafft euch eigene Strukturen, organisiert euch selbst in Syndikaten oder genossenschaftsähnlichen Organisationen, macht euch gemeinsam stark und setzt eure Interessen durch. Das ist die Zukunft von Netzwerkökonomie.

"brand eins"-Mitgründer, Publizist und Buchautor Wolf Lotter (Jahrgang 1962), Fotocredit: Sarah Esther Paulus

Vielen Dank für das Gespräch, lieber Herr Lotter!

 

Weiterführende Links

Über Wolf Lotter

Wolf Lotter in der „brand eins“ über Eigensinn, 2020

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Ladentür zu

Corona-Krise – Wertverlust unverkaufter Saisonware ruinös

Corona-Krise: Durch die Schließung zehntausender Mode-Boutiquen und Sportfachgeschäften stapeln sich im stationären Handel immer größere Berge unverkaufter Ware. Sollte die Schließung über den April hinaus fortbestehen, rechnet der Handelsverband Textil nicht nur mit tausenden Insolvenzen, sondern auch mit über einer Milliarde unverkaufter Artikel. Im Digital-Talk der Initiative „Händler helfen Händlern“ sprechen Alexander Gedat, Interims-CEO bei Gerry Weber und Carsten Schmitz, CDO bei Intersport über die aktuelle Lage und mögliche Auswege aus der Krise.

Nach Berechnungen der Handelsverbände Textil (BTE), Schuhe (BDSE) und Lederwaren (BLE) werden an normalen Verkaufstagen in Deutschland im Durchschnitt täglich mehr als 10 Millionen Hosen, Shirts, Schuhe und Taschen verkauft, die nun nicht über die Ladentheke gehen. Ende März dürfte nach Schätzungen der Verbände die Summe der unverkauften, aber vom Handel bereits bezahlten Teile die 100-Millionen-Grenze überschritten haben.

Rolf Pangels, Hauptgeschäftsführer Handelsverband Textil

Verschärft werde das Problem, weil die Geschäfte in den nächsten Wochen vertragsgemäß weiterhin neue Ware geliefert bekämen - trotz geschlossener Läden. „Je länger die Schließung dauert, desto unwahrscheinlicher wird es, dass die Ware noch verkauft werden kann“, warnte Rolf Pangels, Hauptgeschäftsführer des BTE Handelsverband Textil gegenüber der dpa. Denn durch den modischen Wechsel ließen sich Hosen oder Schuhe aus der Frühjahrskollektion im Sommer kaum noch verkaufen. Allein der Wertverlust der Ware sei für viele Händler ruinös. Die Händler bräuchten deshalb neben schnellen Krediten auch finanzielle Soforthilfen: „Der Staat könnte zum Beispiel die Kosten für die bereits bezahlte Ware über einen Hilfsfonds übernehmen“, schlug Pangels vor.

Davon betroffen ist auch der Sportfachhandel. Die Genossenschaft Intersport, die in Deutschland mehr als 1500 Händler in der Verbundgruppe hat, kann das nur bestätigen: „Unsere selbständigen Kaufleute haben beschränkte Liquidität und die Sorgen sind sehr groß“, so Carsten Schmitz, CDO von Intersport. „Daher ist es gerade in dieser Situation extrem wichtig, dass wir unsere Händler engmaschig betreuen und gemeinsam in die Liquiditätsplanung gehen.“

Intersport musste in diesem Jahr schon ein extrem schlechtes Wintergeschäft hinnehmen. Durch den Shutdown bleiben die Händler jetzt auch noch auf der Frühjahrsware sitzen. „Running Artikel sind die einzigen, bei denen man die Saison vielleicht noch auf die Zeit nach dem Lockdown verlängern kann. Wir befürchten bzw. können jetzt schon durch Mid Season Sales beobachten, dass sich die größeren Onliner davon frei machen und die stationären in eine ausweglose Situation laufen.“

Priorität Eins in der Corona-Krise: Liquiditätssicherung

Seit etwa zwei Jahren bietet Intersport seinen stationären Händlern ein Ship-From-Store Modell an, der über die

Carsten Schmitz: Seit 2016 Chief Digital Officer bei Intersport

Plattform erzielte Umsatz fließt direkt dem Händler zu, der die Ware verschickt. Aktuell sind 400 Händler angeschlossen, das Onboarding-Team arbeitet gerade auf Hochtouren, allein in den letzten zwei Wochen wurden 40 neue Händler aufgenommen. „Wir tun alles dafür, um mehr Liquidität in den Handel zu spülen“, so Carsten Schmitz.

Auch die Situation in der Textilbranche ist desaströs. Der westfälische Modekonzern Gerry Weber steht nach der gerade überstandenen Insolvenz vor großen Herausforderungen. Über 300 eigene Läden und nochmal so viele Franchise-Partner sind geschlossen. „Wir gehen davon aus, dass wir 30 Prozent weniger Jahresumsatz machen als budgetiert. Das ist ein Einschnitt, der ist nicht einfach zu verkraften“, so Alexander Gedat, Aufsichtsratsvorsitzender bei Gerry Weber.

Das größte Problem sieht Gedat vor allem in der Ware in der Pipeline, zumal da es sich in der Modebranche um saisonale Artikel handelt. „Der Liquiditätsbedarf ist enorm. Wir versuchen, dass die Frühjahrs- und Sommerware später ausgeliefert wird, um die Saison zu verlängern und georderte Ware in Asien zu stornieren.“  Den Franchisenehmern wird derzeit im Warenmanagement geholfen und unterstützt, wo es geht. „Das kostet uns was, aber wir müssen helfen und partnerschaftlich mit der Situation umgehen.“

Klar ist, dass die Händler ein Finanzierungsvolumen für die Ware benötigt, die die Unternehmen jetzt auf Lager haben und nicht abverkaufen können. „Das aktuelle Schutzschirmverfahren von Galeria Karstadt-Kaufhof macht doch sehr deutlich, wie wenig nachhaltig der Handel generell finanziert ist“, so Interims-CEO Alexander Gedat. „Für staatliche Soforthilfen und Kreditprogramme muss die Politik unser Geschäft verstehen und da habe ich aktuell nicht den Eindruck, dass dem so ist.“

Intersport kämpft für seine Händlerschaft an verschiedenen Fronten, um Liquidität zu sichern. „Es ist absolut notwendig, dass wir als Verbundgruppe mit den Herstellern über Valutierung, Storno und das Verschieben von Auslieferungsterminen sprechen“, so Schmitz. Aber man müsse sowohl bei den 650 Brands und sieben Eigenmarken genau prüfen, wie die wirtschaftliche Situation der einzelnen Partnerunternehmen aussehe.

Im Hintergrund laufen auch zusätzlich Gespräche aller Genossenschaften, die über im Mittelstandsverbund organisiert sind, um Forderungen an die Regierung für die Liquiditätssicherung im Einzelhandel zu formulieren. Schmitz nennt ein Beispiel: Ein Intersporthändler mit fünf Geschäften habe ihm erzählt, dass er sich sehr über die bewilligten staatlichen Fördergelder freue. Gleichzeitig sage er, und das solle auch nicht herablassend klingen, die Gelder helfen ihm gerade genau vier Tage.

Nach dem Lockdown: Konsum ankurbeln

Gerry Weber Chef Alexander Gedat sieht auch nach der Wiedereröffnung der Läden, die für den 19. April in Aussicht gestellt ist, kein Licht

Alexander Gedat: Seit fünf Monaten Aufsichtsratsvorsitzender und Interims-CEO bei Gerry Weber

im Tunnel. Fakt ist, dass durch die Krise die Verbraucher keine Lust am Konsum haben. Das sei gerade im Textihandel deutlich zu sehen, da auch die großen Onliner wie Zalando und Amazon große Umsatzeinbrüche verzeichnen. „Wofür wir alles tun müssen, ist nach dem Lockdown wieder für Attraktivität der Einkaufsstätten zu sorgen. Die Verunsicherung bei den Menschen ist riesengroß, wir müssen erst mal wieder Vertrauen bei den Kunden aufbauen.“

Schmitz sieht hier digitale Tool als Mittel zum Zweck. „Wir haben allen unseren Händlern nochmal klar gemacht, ja, eure Tür da vorne ist zu, aber ihr seid nicht tot. Nutzt den persönlichen Kontakt zu euren Kunden über digitale Tools.“ Zum Beispiel wurde auf die Schnelle kontaktlose Lieferung möglich und ein Terminbuchungstool für telefonische Beratung ist gerade live gegangen. Intersport arbeitet mit Hochdruck an einer schnellen Umsetzung weiterer Tools, mit dem die Verbundgruppe Content für Social Media bespielen können, um beim Kunden vor Ort präsent zu sein, auch wenn die Ladentür zu ist.

Wer wird diese Krise überleben?

Alexander Gedat ist davon überzeugt, dass es die Firmen sind, die den Nerv des Endverbrauchers treffen und schnell ihr Geschäftsmodell anpassen können: „Die unprofilierte Mitte ist das Schlimmste, was man tun kann. Ein lokaler Händler kennt seine Kunden so gut und kuratiert die Ware entsprechend, das kann eine vertikalisierte Marke oder eine Online-Shop niemals leisten.“

Der Händler muss diesen Mehrwert ausspielen: Die Beziehung zum Kunden. Sich um seine Existenzsicherung zu kümmern reicht nicht aus. „Wenn die Läden wieder öffnen, wird der Wettbewerb nicht leichter, der Preiskampf wird ruinös sein“, prognostiziert Carsten Schmitz. „Man muss in einzelnen Warengruppen gut sein und eine lokale Community darum aufbauen, um vor Ort relevant zu bleiben.“  Das ist der Mehrwert des Händlers, den er gegenüber den großen Onlinern wie Zalando und Amazon sowie den großen Herstellern ausspielen kann. Händler, die das antizipieren und sich zunutze machen, werden gestärkt aus der Situation hervorgehen.

Weiterführende Links

Der Digital-Talk „Händler helfen Händlern“ in voller Länge

Forderungsliste des Handels für finanzielle Soforthilfen an die Politik

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Mann arbeitet im Homeoffice

Plötzlich Home-Office:
Was wir jetzt von Remote-Only Unternehmen lernen können

Allein gelassen im Home-Office? Viele Berufstätige sind durch die Corona-Krise nicht nur häuslich isoliert. Eine Pandemie, die die Gesellschaft und das Arbeitsleben massiv verändert. Meine Hypothese: Je länger die Corona-Krise dauert, desto mehr werden strukturelle Veränderungen in der Arbeitswelt eintreten. Man wird das Rad nicht einfach mehr zurückdrehen können. Es wird aber nur gelingen, wenn auch mit digitalen Technologien die soziale Vernetzung aufrecht erhalten bleibt. Das können wir jetzt von Remote-only Unternehmen lernen.

Die Corona-Pandemie lässt unsere Gesellschaft, die völlig auf Konsum ausgerichtet ist, gerade von 100 auf Null herunterfahren. Das Arbeitsleben verlagert sich in die eigenen vier Wände. Wo es möglich ist, schicken Unternehmen ihre Mitarbeiter ins Home-Office, um Infektionsketten zu unterbrechen. Jetzt, in der Krise, in dem das Gebot vorherrscht, sich in Selbstisolation zu begeben, wird plötzlich Home-Office zu einem Muss, um unternehmerisch das Nötigste am Laufen zu halten. Für viele Unternehmen ist das nicht nur eine technische Herausforderung, sondern auch ein soziale.

Berufstätige arbeiten im Krisenmodus und hohem Stresslevel zuhause

Die Berufstätigen, die nun ins Home-Office verbannt sind, sind nicht vorbereitet, das Umfeld ist nicht darauf ausgerichtet, auch die Räumlichkeiten nicht, von arbeitsrechtlichen Vorgaben seitens der Berufsgenossenschaft mal ganz abgesehen. Soziale Nöte werden in Kürze ans Tageslicht rücken.

Es sind zwei Personengruppen, die besonders betroffen sind: Zum einen die Mitarbeiter, die nun allein zuhause sind und arbeiten sollen. Sie sind isoliert, von der Außenwelt abgeschnitten. Sie müssen sich ab sofort selbst organisieren, was vorher der Büroalltag und die Strukturen des Unternehmens vorgegeben haben. Die zweite Gruppe sind die Familien mit ihren Kindern, die plötzlich Home-Office und Home-Schooling oder Kleinkind-Betreuung gleichzeitig unter einen Hut bekommen müssen. Es gibt keine Tagesabläufe, keine Strukturen, der Stresslevel steigt bei allen Beteiligten.

Ist sozialisiertes Arbeiten in den eigenen vier Wänden möglich?

Dies sind keine idealen Bedingungen für Unternehmen, um eine Krise zu bewältigen. Gerade in Krisenzeiten brauchen Unternehmen kreative Mitarbeiter und Leute, die vorwärts denken. Nichts ist mehr so wie es war. Viele stellt die Krise vor existenzielle Fragen: Wie kann mein Businessmodell in Zukunft aussehen? Das geht nur mit Teams, die ein positives Mindset haben. Isoliert im Home-Office ist das nur schwer möglich.

In diesem Kontext ist der soziale Austausch ein wichtiger Baustein. Unternehmen, die in der Krise auf remote umstellen, müssen sich in der Kürze der Zeit folgende Fragen stellen: Wie organisiert man sich? Wie werden Aufgaben delegiert, wie organisiert man die Teams? Welche Rolle übernehmen Führungskräfte? Wie motiviere ich die Mitarbeiter, wie kann ich dafür sorgen, dass sie sich nicht im Stich gelassen fühlen? Wie bekommen wir die Menschen, die im Büroalltag ihre sozialen Kontaktpunkte hatten, mit der digitalen Vernetzung sozialisiert?

Voraussetzung dafür ist es, von dem Mitarbeiterbild der „Human Ressource“, von dem Unternehmenskulturen und Personalmanager jahrzehntelang geprägt waren, abzurücken und auf den menschlichen, sozialen Charakter zu fokussieren.

Lernen von Remote-Only-Unternehmen

Nina Jonker-Völker, Head of Marketing beim Start-Up Frontastic arbeitet schon seit Jahren im remote-only Modus.

Es gibt einige wenige Unternehmen, deren Business-Modell und Arbeitsweise auf dem Remote-only-Modus basieren. Von denen gilt es, schnell zu lernen. Ich habe mit Nina Jonker-Völker gesprochen, sie ist Head of Marketing beim Start-Up Frontastic und verrät mir, welche Erfahrungen sie bisher mit New Work gemacht hat und was aus ihrer Sicht die Corona-Krise im Arbeitsleben der Zukunft verändern wird.

Nina, wie war die Umstellung auf Remote Work als du bei Frontastic eingestiegen bist?

Nina Jonker-Völker: Ich hatte zuvor bereits Teilerfahrung mit Remote Working, z.B. durch meine Arbeit im Außendienst, in internationalen Teams großer Konzerne, oder auch als Digital Nomad während meiner Weltreise. Mich allerdings in ein komplett digitales Team einzufügen, habe ich insbesondere in der Einarbeitung als Herausforderung empfunden. Ich musste mich zum Beispiel sehr daran gewöhnen, komplett in der Cloud zu arbeiten, alle normalen Office-Interaktionen bewusst zu virtualisieren, und nebenher mit einem ganz neuen Level an Transparenz zu arbeiten. Insgesamt habe ich etwa eine Woche gebraucht, um mich an den Remote-Native-Modus zu gewöhnen. Jetzt würde ich diese Flexibilität nicht mehr hergeben.

Wie tauschst du dich mit Kollegen aus, welche Rolle spielt die soziale Komponente?

Nina Jonker-Völker: Im "Normalen" tauschen wir uns asynchron über Slack aus. Wenn Themen, Diskussionen oder Herausforderungen über den Schriftweg nicht zu einer Lösung führen, wechseln wir in synchrone Kommunikation und nutzen Videokonferenzen. Wichtig ist dabei der Grundsatz "Video vor Audio". Wann immer es geht, sollte die Kamera an sein, denn Video transportiert so viel mehr Kommunikationsfacetten und führt dazu, dass wir uns auch in Distanz als Team verbunden fühlen. Du siehst, die soziale Komponente ist nicht zu unterschätzen! Ich würde sogar so weit gehen, dass der aktive Austausch mit Kollegen auf persönlicher, sozialer Ebene in Remote Native Firmen noch viel wichtiger ist als in Unternehmen mit physischen Büros. Soziale Kontakte sind letztlich doch das Schmiermittel, das Teams überdurchschnittlich erfolgreich macht.

Gibt es im Remote Modus so etwas wie Socialising? Wie sieht das aus? Gibt es z. B. gemeinsamen Mittagstisch über Videokonferenzen?

Nina Jonker-Völker: Ja, wir haben ganz bewusst Socialising-Momente in unseren Arbeitsalltag eingebaut. Dazu nutzen wir eine Anzahl von Tools, die uns dabei helfen, sich auch wirklich die Zeit zu nehmen, mit den Kollegen zu socialisen. Ein schönes Beispiel ist unser Virtual Coffee Klatch. Wir haben quasi den Small Talk an der Kaffeemaschine virtualisiert: Jeden Tag um 10.30h treffen sich alle Kollegen, die Lust und Zeit haben, in einer zentralen Videokonferenz und trinken gemeinsam Kaffee. Dabei versuchen wir soweit wie möglich, nicht parallel zu arbeiten, sondern uns wirklich aufeinander zu konzentrieren. Ein anderes Beispiel ist ein Chatbot, der uns zu bestimmten Zeit auffordert, persönliche Details mit unseren Kollegen zu teilen. Dinge wie "Was machst Du in Deiner Freizeit? Welche Bücher hast Du zuletzt gelesen? Welchen Sport betreibst Du? Was war am Wochenende bei Dir los?" Natürlich ist die Beantwortung der Fragen komplett freiwillig, die Antworten helfen uns aber, uns auch remote als Kollegen persönlich kennenzulernen.

Was ändert sich gerade durch die Corona-Pandemie in Bezug auf dein Homeoffice, insbesondere im Hinblick auf soziale Kontakte?

Nina Jonker-Völker: Tatsächlich sind wir wohl in der glücklichen Situation, dass sich unser Arbeitsalltag durch die Corona-Pandemie erstmal nur bedingt ändert. Als Remote-Only Unternehmen ist Home Office für uns der normale Arbeitsmodus. Trotzdem haben wir uns in Bezug auf Kunden- und Partnertermine und Hackathons natürlich erstmal dazu entschlossen, auch all diese Termine zu virtualisieren, um uns und unsere Familien zu schützen und zur Eindämmung des Virus beizutragen. Außerdem springen durch die Schließung von Schulen und Kindergärten während unserer Videokonferenzen ab und an mehr Kinder durch's Bild. Vor Corona haben wir uns außerdem regelmäßig einmal im Monat zum Co-Worken an einem Ort getroffen. Diese Termine haben wir bis auf Weiteres abgesagt und konzentrieren uns stattdessen mehr auf's virtuelle Co-Worken.

Denkst du, dass nach der Krise die Unternehmen offener sind für Konzepte wie Home-Office und Remote Work?

Nina Jonker-Völker: Ich glaube, dass uns die Krise bezüglich Home-Office zweierlei Entwicklungen bringen wird: Einerseits müssen viele Firmen, die den Auf- und Ausbau von Remote Infrastruktur bisher versäumt oder hintangestellt haben, jetzt sehr schnell nachziehen. Viele Unternehmen kommen darum jetzt auf uns zu und holen sich Tipps und Tricks, um schnell in einen guten Home-Office Modus zu finden. Diese Infrastruktur und die Erkenntnis, dass Home-Office ein völlig normaler, produktiver Zustand sein kann, werden hoffentlich nicht mehr weggehen.

Und wie schätzt du die Akzeptanz für neue Arbeitskonzepte in Zukunft ein?

Nina Jonker-Völker: Ich bin überzeugt davon, dass es Mitarbeitern in Zukunft einfacher gemacht wird, flexibel im Home-Office zu arbeiten, und dass die Kombination von Home-Office und Company-Office zukünftig reibungsloser funktionieren wird. Gleichzeitig denke ich auch, dass die erzwungene Isolation die Wertschätzung von Office Settings bei vielen Arbeitnehmern steigen lassen wird. Insofern glaube ich, dass nach der Krise Konzepte, die flexibles, ortsunabhängiges Arbeiten mit sozialem Austausch kombinieren, noch sehr viel wichtiger und erfolgreicher werden.

Vielen Dank, für den Erfahrungsaustausch, liebe Nina!

 

Weiterführende Links

Tipps von achtung!-Agenturchef Mirko Kaminski: 100 % Homeoffice – wie hält man alle beisammen? 

Kommentar von IT-Unternehmer Christian Meyer: Homeoffice - es geht nicht nur um Technik

Journalistin Simone Fasse: Warum dieses Homeoffice anders ist

Kostenloser Homeoffice-Guide von t3n zum Download: Produktiv arbeiten trotz Corona

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Initiative Händler helfen Händlern in der Corona-Krise

Corona-Krise: Pro-Bono-Initiative „Händler helfen Händlern“ gestartet

Aufgrund der Corona-Pandemie steht der Handel vor einer Existenzkrise. Führende Köpfe aus mittelständischen Handelsunternehmen haben sich jetzt zusammengetan und ehrenamtlich die Initiative „Händler helfen Händlern“ gestartet. Es wird eine LinkedIn Gruppe als Wissensplattform aufgebaut, die betroffene Unternehmer und Unternehmerinnen informiert und untereinander vernetzt.  Gemeinsam sollen viele Händler aus dem Mittelstand und größere Unternehmen als weitere Unterstützer für die Initiative gewonnen werden. Ich bin sehr stolz, selbst Teil dieser Initiative zu sein und federführend daran mit zu wirken. Perspektivisch denken und handeln ist aus meiner Sicht notwendig, um aus dieser Krise heraus zu kommen.

Die Corona-Krise stellt den Handel vor massive Herausforderungen. Unsere Konsumgesellschaft befindet sich in einer Vollbremsung, der Crash für Handelsunternehmen ist absehbar. Das trifft den Handel in seiner Grundstruktur, teilweise sogar in seiner Existenz. Nur wenn wir jetzt gemeinsam handeln, sind wir in der Lage, die Krise zu überwinden. Dazu braucht es Kreativität und Wissenstransfer der Unternehmer, egal ob aus welchem Segment sie kommen – ob stationär oder online, Mittelstand oder Konzern, Traditionsunternehmen oder Start-Up.

Aus jeder Krise entstehen Chancen

Ziel der Initiative ist es, im ersten Schritt zur Existenzsicherung Informationen rund um Hilfsprogramme und -fonds von Land, Bund, EU, Banken, KFW oder sonstigen Einrichtungen zu teilen und sich über möglichen Maßnahmen, wie z.B. Liquiditätsprogramme oder Steuererleichterungen auszutauschen. Im zweiten Schritt geht es darum, über sich hinaus zu wachsen: Die Schockstarre schnell überwinden, das Momentum nutzen, kreativ werden und Impulse für neue Businessmodelle sammeln. Es geht darum, den betroffenen Unternehmen in dieser Krise eine Zukunft zu geben. Zielgerichtet, seriös, valide und auf Augenhöhe, von Händlern für Händler.

Partner und Unterstützer der Initiative sind bislang die Händler Rose Bikes und BabyOne, Shopsoftwarehersteller Shopware und Roqqio, das IFH Köln sowie die Medienpartner Handelsblatt, Textilwirtschaft, Internet World Business, neuhandeln, Location Insider, kassenzone, K5 sowie Digitalrockstar Michael Atug.

In eigener Sache: Händler helfen Händlern

Auch changelog ist Mit-Initiator und ich bin Managerin der LinkedIn Gruppe. Unter der Federführung von  Marcus Diekmann (Rose Bikes) habe ich zusammen mit Anna Weber (BabyOne), Tim Böker (Rose Bikes), Sebastian Bomm (Rose Bikes) und Jan Weischer (BabyOne) diese Initiative ins Leben gerufen, um den Handel in diesen schwierigen Zeiten zu vernetzen. Um Perspektiven aufzuzeigen, die in dieser Phase überlebenswichtig sind.

Mehr Informationen

Händlerinitiative in der Corona-Krise

Mitglied der LinkedIn Gruppe werden

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Run auf Digital-Kompetenz

Run auf Digitalkompetenz: Sportbranche kauft digitales Know-how

Wer heute im Handel erfolgreich sein will, braucht digitales Know-how und Leute, die eine ambitionierte Digital-Strategie umsetzen können. Inhouse sind diese aber kaum zu finden und auch am Arbeitsmarkt sind sie Mangelware. Was also tun, wenn Warten keine Option ist? Statt langwierig eigene Teams aufzubauen, geeignete Ideen zu entwickeln oder das Business ganz auszulagern, ist der Kauf von Digital-Agenturen oder Start-ups eine interessante Option.

Es gibt eine ganze Reihe von Händlern, die durch den Einkauf von Digital-Expertise zum wichtigen Player im E-Commerce geworden sind: Das bekannteste Beispiel aus Deutschland ist Otto mit AboutYou. Der Onlineshop ging erst 2014 online und gehört heute zu den fünf umsatzstärksten Onlineshops für Mode. Er entstand aus der Zusammenlegung mehrerer Digital-Agenturen, nachdem die Otto Gruppe diese gekauft hatte. Auch Zalando konnte sein Wissen durch Übernahmen ausbauen - z.B. mit dem Plattformspezialist Tradebyte. Wie sieht es bei den Sportunternehmen aus?

Internationale Sportbrands kaufen digitales Know-how ein

Wer den Sportmarkt nach interessanten IT-Übernahmen absucht, stößt zunächst mal auf die Big Player: Adidas, Under Armour und Nike. Nike holte sich erst im Sommer neue Digitalkompetenz ins Haus mit der Übernahme des IT-Unternehmens Celect. Die 2013 gegründete Firma hat sich auf vorausschauende Datenanalyse für die Einzelhandelsbranche spezialisiert. Im Jahr zuvor hatte sich Nike bereits die New Yorker Digital-Agentur Zodiac und das IT-Startup Invertex aus Israel einverleibt. Under Armour und Adidas erhielten mit dem Kauf von Fitness Apps gleichzeitig IT-Knowhow und ein fertiges Produkt. 2019 investierte Adidas eine Million Euro in ein Start-up Inkubator Programm um neue Geschäftsideen für die Sportindustrie zu entwickeln. Auch beim Verkauf von SportScheck an GKK dürfte die Digitalkompetenz der Münchner eine wichtige Rolle gespielt haben.

Auch der Mittelstand zieht nach

Doch es gibt auch Mittelständler, die lieber einkaufen gehen statt Agenturen zu beauftragen. Rose Bikes aus Bocholt übernahm 2019 die preisgekrönte Essener Agentur Kommerz. Zu den 450 Mitarbeitern des traditionsreichen Versand- und Onlinehändlers mit drei stationären Geschäften kamen noch 27 Kreative hinzu, die sich voll und ganz auf Digitalisierung und E-Commerce fokussieren konnten. „Entweder suchst du 27 Leute, die zu einem Team werden müssen, oder du kaufst ein Team“, erklärt Marcus Diekmann, CCO und CDO von Rose Bikes. „Obwohl wir gerade sehr erfolgreich sind und einen guten Vorsprung haben, ist klar, dass sich der Handel immer schneller wandelt, deshalb müssen auch wir an Geschwindigkeit zulegen – und das bezogen auf unsere Evolutionsstufen, unsere Arbeitsweise und unsere Ressourcen. Aus dem Grund haben wir uns zur Verschmelzung mit Kommerz entschieden.“

Unternehmensanteile als Anreiz

Diekmann gehört selbst zur Rose Geschäftsführung und hat vorher mehrere Digitalisierungsprozesse in Unternehmen geleitet und Agenturen geführt. Seine ersten Maßnahmen bei Rose: „Als Erstes haben wir gemeinsam die typischen Drei-Jahrespläne über Bord geworfen“, so Diekmann. „Das sind viel zu lange Zeiträume.“  Stattdessen hat er mit dem Team eine sehr klare Marschroute entwickelt, die festlegt, wo Rose Ende 2020 stehen soll – in den Bereichen Brand, Produkt, Preis, Reichweite, Service, Features, Organisation, Technik und Prozesse.

Transformationsbereitschaft ist sein Dauerziel. Bei der Transaktion floss kein Geld, es wurden nur Anteile vergeben. So will Rose Unternehmergeist und Kreativität im Kommerz Management lebendig halten. Das war auch der Grund für die jüngste Gründung eines Joint Ventures in der Schweiz, das seit Dezember den schweizerischen Markt aufbauen soll. „Ich habe schon oft gesehen, wie kleine, agile Unternehmen in neue Firmen integriert wurden: Man zahlt den Inhabern Geld und nimmt ihnen die Motivation, man tötet das Unternehmertum“, so Diekmann. In Bezug auf das Wachstum scheint die Strategie aufzugehen: Für das Jahr 2018/2019 meldet Rose ein Umsatzwachstum von 20 Prozent auf 102 Millionen Euro, 2020 sollen es 125 Millionen Euro werden.

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Scale für Meter

Quantencomputer und Datensicherheit: Es steht viel auf dem Spiel.

Quantencomputer können unsere Welt simulieren, Berechnungen mit unzähligen Variablen durchführen und daraus Vorhersagen treffen, die heutige Supercomputer nicht leisten können. Noch ist es der Welt nicht gelungen, einen solchen Quantencomputer zu entwickeln, doch die größten IT-Firmen weltweit forschen daran – von den Geheimdiensten mal ganz abgesehen. Warum es ein großes Problem ist, dass wir die Daten von heute nicht vor einem Quantencomputer von morgen schützen können, erklärt Prof. Dr. Tanja Lange, Expertin für Post-Quantum Kryptographie. Im Interview erläutert sie, welche Gefahr der Quantencomputer für unsere Datensicherheit darstellt und wie ‚normale‘ Menschen üblicherweise auf ihr Forschungsgebiet „Quantenresistente Kryptografie“ reagieren.

Frau Lange, können Sie kurz erklären, womit genau Sie sich beruflich beschäftigen?

Ich arbeite als Professorin an der Eindhoven University of Technology. Mein Spezialgebiet ist die Kryptografie. Als Professorin gebe ich Vorlesungen, betreue ich Bachelor- und Masterarbeiten und betreibe ich Forschung. Kryptografie beschützt Daten, so dass kein Unbefugter sie lesen oder unbemerkt verändern kann.

Was ist ein Quantencomputer?

Ein Quantencomputer ist ein Computer, der Phänomene in der Quantenmechanik ausnutzt, um Berechnungen durchzuführen. Feynman hat Quantencomputer vorgeschlagen, um Quantenmechanik effizient zu simulieren.

Können Sie in einfachen Worten erklären, wo der Unterschied zum Supercomputer bzw. normalen Computer liegt?

Ein Quantencomputer kann nicht nur mit Bits, also 0 und 1, arbeiten, sondern auch mit Qubits, die verschiedene Zustände gleichzeitig annehmen. Dies bezeichnet man als Superposition. Ein normaler Computer kann solche Berechnungen simulieren, aber das benötigt exponentiell mehr Bits. Ein Beispiel:

"Für 4 Qubits braucht ein Computer gerade mal 16 Bits, für 32 Qubits befinden wir uns im Bereich der Gigabytes, was für Laptops kein Problem ist, aber 256 Qubits benötigen schon astronomische 2^256 Bits. Und das ist mehr als das Universum Atome hat."

Auf all diesen Qubits rechnet ein Quantencomputer gleichzeitig, wie ein großer Supercomputer, der parallel mit allen Eingabewerten rechnet. Im Gegensatz zum Supercomputer kann man aber nicht auf die Ergebnisse einzeln zugreifen: am Ende jeder Berechnung auf einem Quantencomputer steht eine Messung, die klassische Bits gemäß der Wahrscheinlichkeiten der verschiedenen Zustände ausgibt. Quantenalgorithmen müssen also so konstruiert sein, dass das gewünschte Ergebnis eine hohe Wahrscheinlichkeit hat.

Wer forscht gerade an der Entwicklung von Quantencomputern?

In den USA sind das vor allem große Firmen, wie Google, IBM, Intel und Microsoft. Diese haben die universitäre Forschung aufgekauft, z.B. hat Google eine führende Gruppe von der Universität in Santa Barbara übernommen. Es gibt auch schon Startups. In China sind es auch die großen Firmen, wie z.B. Alibaba. In Europa sehen wir noch öffentliche Forschung an Universitäten, z.B. in Delft und Kopenhagen, aber auch diese haben große Projekte mit den amerikanischen Firmen. Zusätzlich gibt es sicherlich noch Forschung in den Geheimdiensten der größeren Länder, aber Details dazu sind nicht bekannt. Die Snowden-Files zeigten einige Millionen US Dollar im 'black budget". Dieser Betrag ist nicht genug, um an der Spitze mitzuspielen. Andererseits ist diese Information von 2013 und inzwischen könnte natürlich mehr Budget vorhanden sein.

Es heißt, Google habe einen Quantencomputer entwickelt. Ist das aus Ihrer Sicht glaubwürdig? Wenn ja, welche Konsequenzen hätte das?

Google hat kürzlich über ein Experiment berichtet, in dem sie eine Berechnung auf einem Quantencomputer deutlich schneller als auf dem größten Supercomputer durchgeführt haben.

Google und IBM sind momentan führend im Bauen von Quantencomputern. Diese sind knapp größer als wir mit einem Supercomputer effizient simulieren können, aber die Berechnung, die Google durchgeführt hat, hat keinen praktischen Nutzen. IBM hat kurz nach der Google-Ankündigung gezeigt, dass der Zeitunterschied zu ihrem Supercomputer viel kleiner ist, als Google angegeben hatte. Diese Resultate sind wissenschaftlich sehr interessant haben aber noch keine direkten Konsequenzen.

Wofür braucht man diese Geräte?

Quantencomputer können unsere Welt effizient simulieren, dies ist wichtig in der Wettervorhersage und in der Entwicklung von Medikamenten oder von Düngemitteln; also generell überall, wo ein physikalisches System mit vielen Variablen beschrieben werden kann, und dann viele Wechselwirkungen berechnet werden müssen. Für die heutigen Supercomputer sind diese Systeme zu groß, so dass Berechnungen nur für vereinfachte Systeme durchgeführt werden können, wodurch die wirkliche Wirkung der Moleküle nur durch Experimente herausgefunden werden kann.

In Ihrem Vortrag auf der OOP-Konferenz sprechen Sie über Quantencomputer und Datensicherheit. Inwiefern stellt der Quantencomputer eine Gefahr für die Sicherheit unserer Daten dar?

Quantencomputer können einige mathematische Probleme deutlich schneller als unsere normalen Rechner lösen. Solche Probleme müssen eine bestimmte Struktur haben, und die wird leider in den gängigen Kryptosystemen benutzt. Das berühmteste Beispiel ist das RSA System von 1977, benannt nach seinen Erfindern Rivest, Shamir und Adleman. RSA wird noch immer überall im Internet und auf Chipkarten benutzt, aber es basiert auf einem mathematischen Problem, das Quantencomputer viel schneller lösen können als herkömmliche Rechner. Das bedeutet, dass alle Daten einem Angreifer mit einem Quantencomputer hoffnungslos ausgeliefert sind.

"Was die Situation noch viel schlimmer macht, ist, dass Geheimdienste und Kriminelle unsere Kommunikation schon seit Jahren aufzeichnen und dann in der Zukunft entschlüsseln können. Wenn die Daten dann noch geheim sein müssen, ist das ein Problem."

Der Sender hätte heute schon ein anderes System benutzen müssen. Es hilft leider nicht, die geheimen Daten später noch anders zu verschlüsseln, denn der Angreifer hat dann ja schon die anfällige Version gespeichert.

Wie begegnet die Online-Welt dieser Gefahr?

Glücklicherweise sind sich mehr und mehr Leute dieser Gefahr bewusst. Ich war sehr erfreut über die Einladung zur OOP-Konferenz, weil das zeigt, wie weit diese Gefahr bekannt ist. Die Akademie der Wissenschaften in den USA hat Ende 2018 einen langen Bericht herausgegeben, der 10 Punkte hervorhebt. Einer davon ist, dass es sehr dringend ist, sich auf diese Gefahr vorzubereiten und Abhilfe zu schaffen. Zurzeit sind viele Forscher damit beschäftigt neue Kryptosysteme zu erfinden und zu analysieren, deren Sicherheit auch Angriffen mit Quantumcomputern standhält. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen und findet sehr viel Interesse.

Ihr Thema weckt wahrscheinlich bei vielen Menschen Assoziationen zu düsteren Geheimdienst-Filmen. Ist Ihre Forschung wirklich so aufregend oder gibt es Ergebnisse, die einer gewissen Geheimhaltung unterliegen?

All meine Forschung ist öffentlich, weil ich versuche, allen Menschen eine sichere Kommunikation zu ermöglichen. Firmen halten manchmal gute Ergebnisse zurück und bei Geheimdiensten weiß man nie, auf welcher Seite sie stehen – das haben die Snowden Daten nur bestätigt. So gesehen ist das Gebiet schon anders als andere Wissenschaften.

Physikern und Mathematikern wird gemeinhin eine besonders hohe Intelligenz zugesprochen. Wie reagieren Menschen außerhalb Ihres Berufslebens, wenn Sie erzählen, dass Sie Forschung im Bereich quantenresistenter Kryptografie betreiben?

Das braucht dann meist schon eine längere Erklärung, aber Kryptografie und Sicherheit finden die meisten schon spannend.

Gibt es auch Dinge, die Sie in der Mathematik nicht verstehen?

Mathematik ist ein riesiges Gebiet und es gibt viel, was ich noch nicht kenne. Es ist auch ein aktives Forschungsgebiet mit vielen offenen Fragen, was bedeutet, dass es viele Dinge gibt, die niemand bislang versteht. Und das macht das Gebiet sehr spannend.

 

Prof. Dr. Tanja Lange
Prof. Dr. Tanja Lange, Expertin für Post-Quantum-Kryptografie

Tanja Lange ist seit 2006 Professorin an der Technischen Universiteit Eindhoven (Niederlande). Ihre Forschung überbrückt die Gebiete der algebraischen Geometrie, theoretischer Kryptographie und praxisnaher Informationssicherheit. Sie ist Expertin in Kryptographie mit Kurven und in Post-Quantum Kryptographie. Zudem ist sie Mitglied des Editorial Boards für diverse wissenschaftliche Zeitschriften und im Steering Committee für Konferenz-Serien, inklusive der Post-Quantum Cryptography Konferenzen. Sie war Koordinatorin des EU-H2020 Projekts PQCRYPTO – Post-quantum cryptography for long-term security (pqcrypto.eu.org). Sie spricht auf Konferenzen zu Kryptographie und Sicherheit und hat mehr als 70 Artikel und Bücher geschrieben, darunter ein Aufsatz in Nature zur Post-Quantum Cryptography.

 

 

 

 

Weiterführende Links:

Keynote am 5.2.2020 auf der OOP-Konferenz 2020: https://www.oop-konferenz.de

EU-H2020 Projekt PQCRYPTO pqcrypto.eu.org

 

Interne Links:

Technologie und Moral:Hippokratischer Eid für IT-Berufe?

KI und Ethik: Wissen sie, was sie tun?


Alexander Graf

Alexander Graf im Porträt:
Die fünf Learnings eines B2B-Influencers

Welche Learnings kann man von einem B2B-Influencer und Serienunternehmer wie Alexander Graf mitnehmen und für sich nutzen? 17 Jahre E-Commerce-Erfahrung hat er auf dem Buckel und sich zum führenden Experten in Sachen Digitalökonomie im Handel gemausert. Ich durfte im persönlichen Gespräch mit Alex ins Detail gehen und herausfinden, welche Faktoren ihn zu der Persönlichkeit gemacht haben, die er heute ist. Mein Fazit: Es ist die Mischung aus unternehmerischen Gespür, einem extrem guten Netzwerk und das Streben nach Hoheitswissen. Ein Porträt über den Spryker-CEO und Kassenzone-Blogger und -Podcaster.

Schon zu Schulzeiten zählt Alex zu den „Machern“. Zusammen mit seinem Schulbuddy Torben organisiert er Schüler- und Studentenparties. Schon damals ist ihm klar, dass er eine Unternehmerlaufbahn anstreben will. Richtungsweisend schlägt er den Weg ins BWL- und Informatik-Studium ein. Parallel dazu betreibt er ein Business mit Webdesign und Vermarktung rund um den Kieler Nachtclub Maxx und den heutigen Lunaclub. Rückblickend waren das wertvolle erste Schritte im Onlinebusiness Ende der 90er-Jahre, wie er es heute selbst einschätzt.

Dass er im Handel bzw. E-Commerce landet, ist eher dem Zufall geschuldet. Die Noten im Zwischenzeugnis seines BWL-Studiums reichen nicht für einen Einstieg in die Investment- und Finanzbranche, in die damals jeder Absolvent vordringen wollte, wie er heute schmunzelnd zugibt. Sein Praktika bei Otto war damals eher ein Zwischenschritt, ein Notnagel. „Dass ich fünf Jahre bei Otto hängen bleibe, war nicht der Plan. Dass es so gekommen ist, hatte auch viel mit meinem damaligen Chef Björn Schäfers, Gründer von smatch und shopping24, zu tun, der mich extrem gefördert hat und ein hervorragender Mentor war.“

Learning #1: Such dir deinen Job immer nach deinem/r Chef/in aus.

Alex steigt bei Otto im Business Development ein, damals eine Abteilung neben Shopping24. Er beobachtet den US-Markt, der zu diesem Zeitpunkt schon viel weiter ist als in Europa. Er erkennt, dass die Rolle des E-Commerce auch in Europa immer relevanter werden wird. Was sich in den USA im ersten Jahrzehnt der 2000er tut, das ist die Zukunft. Sukzessive eignet er sich Hoheitswissen im E-Commerce an. Sein Chef sieht das auch so. Oft wird er zu Rate gezogen, er bereitet Entscheidungsvorlagen für die Konzernchefs vor und wird vom Vorstand um Support in E-Commerce-Fragen gebeten.

Aus dieser Erfahrung heraus wird er vom Anreiz getrieben, immer einen Wissensvorsprung zu haben und zu halten. „Ich optimiere meine Entscheidungen dahingehend, meine Lernkurve steil zu halten. Fakt ist doch, was ich vor fünf Jahren gelernt habe, ist heute meist nicht mehr relevant. Ich möchte nie in die Situation kommen, Menschen zu sagen, dass sie von mir nichts mehr lernen können.“

Learning # 2: Halte deine Lernkurve steil, sonst ist dein Wissen wertlos.

Er hat sich nicht nur Wissen im Bereich E-Commerce aufgebaut, sondern gilt heute als Experte für Digitalökonomie und Transformation. Er sieht in Deutschland gerade bei mittelständischen Unternehmen großen Handlungsbedarf: „Die Effekte der Digitalökonomie beschleunigen sich auf der Zeitleiste potenziell. Otto hatte noch zehn Jahre Zeit, sich vom katalogbasierten Versandhandelsunternehmen zu einem plattformgetriebenen Digitalunternehmen zu transformieren. Heute bleibt einem traditionellen Unternehmen, wie z.B. aus der Versicherungswirtschaft, nicht mehr dieses Zeitfenster, das ist wesentlich kürzer.“

Was man seiner Meinung nach brauche für eine Transformation, sei eine Koalition der Willigen. Leute, die wirklich aktiv etwas verändern wollen. Oft fehle es den Mitarbeitern an Persistenz und Durchhaltevermögen. Einfach mal zwei bis drei Jahre an etwas dranbleiben, nicht gleich aufgeben, wenn es nicht auf Anhieb funktioniert.

Unternehmenskultur und Wandel

Er definiert drei Voraussetzungen für eine erfolgreiche Transformation. Zum einen keine Fünfjahrespläne mehr, immer im Set-Up „Testen, Lernen, Fehler korrigieren, Adaptieren“. Zum anderen Technologie als zentralen Wertschöpfungsfaktor anerkennen und implementieren – egal in welcher Branche. Die dritte, für ihn entscheidende Voraussetzung ist aber zielführendes Unternehmertum. „Als Führungskraft habe ich den Auftrag, dass das Unternehmen relevant bleibt. Dabei kommt dem Leadership eine neue Rolle zu: Geschäftschancen erkennen, Prozesse beschleunigen und Mitarbeiter befähigen.“

Er bringt seine Überzeugung weiter auf den Punkt: „Für mich persönlich ist es die größte Lüge, dass die digitale Transformation vom Kulturwandel abhängig sei. Dafür gibt es keinen empirischen Nachweis. Der Kulturwandel ist ein Effekt der Transformation, aber keine Ursache.“ Als Beispiel nennt er About You. Das Online-Unternehmen war anfangs ein Projekt bei Otto. Der Impact dieses Projekts hat Veränderungen im gesamten Konzern erzeugt.

Tarek Müller, Alexander Graf, Nils Seebach
"Retrobild" aus alten Zeiten: Alexander Graf mit seinen etribes-Partnern Tarek Müller (links) und Nils Seebach (im Jahr 2012)

Serienunternehmer mit Fokus

Alex hat in seiner Laufbahn schon ein Dutzend Gründungen hinter sich, u.a. die Digitalberatung etribes mit seinen Partnern Tarek Müller und Nils Seebach.  Da stellt sich die Frage, wie man da den Überblick und Fokus behalten kann. Alex sieht das ganz pragmatisch: „Das mit den Gründungen hat sich immer ergeben, es war im Fluss. Ein Stein setzt sich auf den anderen und manchmal beschleunigen sich auch einzelne Projekte gegenseitig. Und darum geht es doch als Unternehmer: Man muss Skaleneffekte erzeugen.“ Das hat er mit seinem Netzwerk geschafft. Rückblickend kann er sagen, dass durch sein Handeln und die daraus entstanden Konstellationen mittlerweile Unternehmen entstanden sind, die 1500 Mitarbeiter beschäftigen. Darauf ist er sehr stolz.

Learning # 3: Diejenigen Leute, die einfach machen, werden gewinnen.

Alex ist in erster Linie Kaufmann und Analyst. Methodische Regelwerke, die er zu Studienzeiten noch gewälzt hat, sind heutzutage hinfällig. Die Digitalökonomie hat seine eigenen Regeln. „Die Kernfrage bleibt, wie man an den initialen Kundenzugang kommt. Mit der Zeit habe ich eigene Methoden entwickelt, die dann irgendwann ihren Niederschlag in meinem Buch fanden.“

Mit seinem renommierten Kassenzone Blog und Podcast hat er sich einen Namen als Fachjournalist gemacht. Für ihn ist diese Plattform pures Gold wert. Er genießt es, zu verstehen, wie andere ticken, zu hinterfragen, wie Geschäftsmodelle funktionieren, eine faire Bühne zu schaffen, die mannigfaltige Meinungen einholt und Diskussionen zulässt. Was ihn dabei antreibt sind Neugier und Haltung.

Learning #4: Wenn dein Wettbewerber über dich redet, hast du es geschafft.

Kritiker werfen ihm dagegen fehlende Neutralität und einen Interessenskonflikt zu seinem Business mit Spryker vor. Er geht damit selbstkritisch um: „Ich gehe ganz offen mit meinen Interessen um und das wissen die Leute auch. Ich weiß, dass ich der Rolle als Journalist nicht gerecht werde – oft fehlt mir der rote Faden, greife auch gerne mal vor oder lasse die Leute nicht ausreden ... Dazu bin ich einfach selbst viel zu tief im Business und habe eigene Meinungen, die ich dann auch loswerden muss. Ich müsste mich mehr darauf konditionieren, die Rolle des Moderators zu übernehmen.“

Zu 100 Prozent vernetzt

Mit Spryker landet Alex den größten Coup seiner Karriere: 2014 erfolgt die Auskoppelung aus dem Frühphaseninvestor Project-A und die Gründung zusammen mit seinem langjährigen etribes-Partner Nils Seebach. Nur drei Jahre später sammeln die beiden eine Kapitalspritze von 22 Millionen US-Dollar von Investor One Peak Partners ein. Damit sind die Wachstumsambitionen und der Erfolgsdruck groß: 100 Prozent Wachstum pro Jahr steht auf der Agenda. Die Investoren verlangen danach. Dem E-Commerce war in den letzten Jahren ein permanenter Boom beschert. Alex muss laut seiner eigenen Überzeugung dafür Sorge tragen, dass sein Unternehmen relevant bleibt. Dafür muss er immer die Nase vorn haben. Die Dinge werden nicht einfacher, das ist ihm klar. Umso wichtiger, dass er für die Sache brennt.

Learning #5: Man muss was machen, auf das man richtig Bock hat.

Woher er die ganze Energie nimmt? Er hat ein scheinbar einfaches Erfolgsrezept: „Ich interessiere mich für alles und mache mir keine Sorgen. Ich genieße den Freiheitsgrad, in dem ich agiere. Ich habe Hobbies wie Bogenschießen, für die ich mein Zuhause, einen Hof in Schleswig-Holstein, nicht verlassen muss. Wenn es Spryker nicht gäbe, würde ich es heute gründen. Ich lebe mit dem Markt und meinem Netzwerk, das sind alles Freunde und Bekannte, also Menschen mit denen ich gerne zu tun habe.“

Weiterführende Links

Alexander Graf im OMR-Podcast-Interview

Das E-Commerce Buch

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