Auf dieses Interview habe ich mich besonders gefreut, denn Raphael Gielgen ist Trendscout Future of Work beim Kult-Unternehmen Vitra und einer der interessantesten Visionäre unserer Zeit. Ich war aber auch etwas nervös, denn wie es bei den Damen und Herren dieser Berufsgruppe oft der Fall ist, muss man ganz schön schnell sein, um bei der Geschwindigkeit ihrer Gedanken Schritt halten zu können! Wer ebenfalls eine geballte Ladung Inspiration so kurz vor Ostern gebrauchen kann, der sollte jetzt weiterlesen: Denn Raphael spricht über die Trends zum Thema Arbeit und verrät eine Übung für Unternehmer, wie sie die Transformation angehen können.
Lieber Raphael, Du bist Trendscout bei Vitra. Was genau machst Du dort und warum braucht Vitra so jemanden wie Dich?
Es geht darum, „Beweger einer neuen Zeit zu finden“, neue Muster zu entdecken, die das Potential zum Trend haben. Wir leben heute in einer Welt, die uns wunderbar in Standards organisiert. Viele Menschen haben verlernt, nach rechts und nach links zu schauen, geschweige denn nach vorne. Meine Arbeit ist genau das. Mein Schwerpunkt ist die Arbeitswelt. Ich erstelle, wenn man so will, die Wetterkarte für die Piloten, aber die Flugrichtung entscheiden und fliegen müssen sie selbst.
Kannst Du uns einen wichtigen Trend zum Thema Arbeit der Zukunft nennen?
Die Fähigkeit, in dynamischen Gruppen und Formen zu arbeiten, wird für die Entwicklung einer wissensbasierten Wirtschaft immer wichtiger. Wissen muss leicht teilbar sein, denn nur so kann es schnell weitergegeben werden. Und Schnelligkeit ist ein klares Merkmal unserer Zeit, genau wie der Zustand, dass alles gleichzeitig passiert. Verbindet man das Wissen von AI-Forschern mit dem von Elektronikingenieuren, entsteht daraus ein ganz neues Produkt und ganz neues Wissen. Dynamik heißt in diesem Zusammenhang auch, bereit zu sein, stets Neues zu lernen. Ich benenne das gerne mit dem Schlüsselbegriff „Talent Transfer“. Menschen gehen heute und erst recht in der Zukunft nicht mehr in ihrem Ausbildungsberuf in Rente. Wir müssen – auch in den Unternehmen – eine Kultur des Lernens etablieren.
Und wie schafft man das?
Indem man Raum für Inspiration schafft und Arbeit sichtbar werden lässt. Viele Entwicklungen gehen heute schon in diese Richtung. Es gibt Methoden wie Scrum, Business Model Canvas oder Design Thinking. Diese bestimmen immer mehr unser Tun. Der größte Benefit dieser Form der Arbeit ist das Teilhaben.
Inwieweit beeinflusst Technologie unsere zukünftige Arbeit?
Die Software von gestern ist morgen nichts mehr wert, genau wie die Hardware. Wir denken zu wenig darüber nach, dass die digitale Welt einer Kulisse gleicht. Wie Technologie unsere Arbeit beeinflusst, das bestimmen wir, aber auch was wir mit diesen vielen Möglichkeiten machen. Am Ende kann man die Leute nur einladen, sich damit auseinanderzusetzen, daran zu wachsen – mit dem Ziel, Technologie schließlich als Werkzeug für die Entwicklung größerer Ideen und Visionen zu benutzen.
„Technologie ist ein Werkzeug, sehr umfangreich, aber auch schnelllebig. Die Menschen machen auch in Zukunft den Unterschied.“ Raphael Gielgen
Wie siehst Du das Spannungsfeld „digitale Welt – physische Welt“ am Arbeitsplatz? Bekommt die physische Welt mehr Bedeutung, weil wir einen Großteil unserer Zeit heute in der digitalen Welt verbringen?
Der Mensch hat eine Sehnsucht nach physischen Orten. Je mehr wir digital konsumieren, umso mehr suchen wir eine Balance. Spannend wird es, wenn die Entwicklungen der virtuellen Technologien den nächsten Sprung machen. Wenn wir Wirklichkeit und Fiktion kaum unterscheiden können. Steven Spielbergs letzter Film „Ready Player One“ gibt uns einen ersten Geschmack auf diese Zeit. Anderseits gehen die Menschen zum „Waldbaden“, suchen Kraftorte auf und zelebrieren spirituelle Rituale.
Welches Umfeld braucht der Mensch in Zukunft, um den Arbeitsanforderungen gewachsen zu sein?
Menschen können heute 100 Jahre alt werden. Das verändert unser Bewusstsein für unsere Umgebung, unsere Umwelt und unseren Arbeitsplatz. Die Kinder von heute werden morgen keinen Arbeitsplatz wollen, indem sie nur Zahnrad in einem abstrakten Gebilde sind. Als Konsequenz müssen Unternehmen das Zusammenspiel von Produktivität und Vitalität überdenken. Maßnahmen zur Erhaltung und Verbesserung der Mitarbeitergesundheit spielen in Zukunft eine immer größere Rolle. Man muss sich nur den Adidas-Neubau „Halftime“ in Herzogenaurach ansehen oder das noch im Bau befindliche Porsche-Werk für den Elekto Taycan, in dem es große hängende Gärten gibt. Diese haben einen unmittelbaren Einfluss auf das Wohlbefinden der Mitarbeiter.
Du reist viel herum und siehst viel, auch Ideen und Trends aus Ländern und Gesellschaften, die gerne als unser Zukunftsmodell verkauft werden. Was sollten wir Europäer auf jeden Fall übernehmen?
Ganz klar die Neugier! Gerade die jungen Gesellschaften in Südostasien oder in den schnell wachsenden Metropolen wie Shenzhen sind viel neugieriger als wir Europäer – was auch daran liegen mag, dass sie im Schnitt viel jünger sind als wir.
Gibt es auch Entwicklungen, die wir besser nicht adaptieren sollten?
Ich habe nichts gesehen, was grundsätzlich schlecht wäre. Natürlich kann man alles auch für weniger wünschenswerte Ziele einsetzen. Ich denke hier zum Beispiel an die militärische Nutzung von Technologie. Auch die übermäßige Nutzung von Technologie kann man kritisch sehen, aber hier ist jeder einzelne selbst gefragt, etwas dagegen zu tun.
Wenn ein Unternehmer auf Dich zukommt und um Rat bittet, wie er die Transformation angehen soll, was würdest Du ihm sagen?
Ich empfehle gerne die nachfolgende Übung: Stellen Sie sich regelmäßig zwei Fragen: Was gibt es in zehn Jahren in Ihrem Arbeitsumfeld, was es heute noch nicht gibt? Wie wird dieses „Neue“ Ihr Geschäftsmodell beeinflussen und was bedeutet das für Sie? Was gibt es in zehn Jahren nicht mehr in Ihrem Arbeitsumfeld, was es heute noch gibt? Wie wird dies Ihr Geschäftsmodell beeinflussen und was bedeutet das für Sie? Jeden einzelnen Punkt würde ich dann in eine Skizze aufnehmen und auf einem großen Plakat am Arbeitsplatz aufhängen. Was glaubst du, was für eine angeregte Diskussion mit Mitarbeitern und Kollegen daraus entsteht! Plötzlich sieht der Unternehmer eine Perspektive für die Zukunft und kann diese proaktiv gestalten. Und die Mitarbeiter wissen, warum etwas gemacht wird.
„Eigentlich ist es so einfach! Wir haben nur irgendwann aufgehört oder verlernt, in einer längeren Perspektive zu denken und Zukunft zu gestalten.“ Raphael Gielgen
Danke Raphael für das superinteressante Interview!
Raphael Gielgen am 24. Juni 2019 auf der TDWI München
Wer Raphael gerne live erleben möchte, kann das am 24. Juni 2019 auf der TDWI München tun. Dort wird er die Keynote halten mit dem Thema „Die Kunst, seine persönliche Zukunft ständig neu zu erfinden“! Es lohnt sich! Hier geht’s zur Konferenz: www.tdwi-konferenz.de
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