Die Trends im Ladenbau

Retail Design: Die Trends der Ladenbauexperten

Habt ihr euch schon mal gefragt, welches Einkaufserlebnis würdig genug ist, dass es im Gedächtnis bleibt? Gar nicht so einfach. Und schon gar nicht eindeutig. Aber genau diese Frage treibt gerade den stationären Händler um. Wie lockt man den Kunden ins Geschäft und wenn er drin ist, wie schafft man es, dass er auch wiederkommt? Die Ladenbauexperten von umdasch, atelier 522, Gruschwitz und Blocher Partners zeigen die Trends im Retail Design. Das Urteil unisono: "Mehr Gastgeber, weniger Warenrampe!"

Es gibt gleich mehrere Gretchenfragen, mit denen der stationäre Handel sich gerade herumschlagen muss: Wie schaffe ich es, dass der Kunde meinen Laden überhaupt wahrnimmt? Und: Was muss ich tun, damit er sich im Laden wohlfühlt und wiederkommt? Philipp Beck, CEO von atelier 522 beschwört dazu die Theorie der 1000 Kleinigkeiten: „Es kommt darauf an, aus der Summe vieler Kleinigkeiten ein stimmiges „großes Ganzes“ entstehen zu lassen.“

 

Das Ziel: Maximale Aufenthaltsqualität

Bei dem sehr abstrakten „großen Ganzen“ spielen auch ganz unterbewusst wahrgenommene Faktoren wie etwa die Form des Türgriffs, das Gewicht und Geräusch der Türe eine Rolle. Auch Fragen wie „Kommt der Kunde beim Eintreten in das Ladenlokal aus einer Enge ins Weite? Gibt es Intimität und Größe?“ müssen vom Händler beachtet werden, wenn er beim Ladenbesucher ein angenehmes Erlebnis hervorrufen will. „Händler müssen sich grundsätzlich fragen, ob der Laden eine Atmosphäre schafft, in der es sich lohnt, die eigene wertvolle Zeit zu verbringen,“ bringt es Philipp Beck auf den Punkt. Dabei vergleicht er den Laden gar mit anderen Erlebnisorten wie z.B. dem Theater, Restaurants oder Cafés, mit denen Geschäfte von heute um die Gunst des Besuchers buhlen müssen.

 

Überraschung als Nachfrage-Stimulation

„Das grundsätzliche Konzept des Einkaufens wird sich zwar nicht so gravierend ändern,“ ist Maik Drewitz, Shop Consult Director bei umdasch, überzeugt, „wohl aber die Warenpräsentation am POS und die Einbeziehung des Kunden in diesen“. In Zeiten des Internets müssen Händler ihren Kunden mehr Anreize bieten, um ihn ins Geschäft zu locken und müssen auch mehr tun, damit sie bleiben. Dabei darf der Handel ruhig überraschen. Denn anders als im Internet hat der stationäre Handel die Möglichkeit, den Kunden multisensual zu begeistern. Und darum geht es schließlich: Im Laden einen Mehrwert gegenüber dem Onlineshop zu schaffen. Dazu gehören auch Produkte, die es online nicht ohne weiteres gibt. Inspiration geht im Laden schließlich viel besser, denn was der Kunde nicht kennt, kann er im Internet auch nicht suchen. Dazu passend gibt Philipp Beck zu Bedenken: „Ist es heute nicht so, dass ein überraschendes Angebot erst die Nachfrage erzeugt und die Zeiten, in denen man auf eine Nachfrage reagiert bzw. dieser folgt, vorbei sind?“

 

ROI als Risiko: Zeit für neue KPIs

Die immer mehr am Erlebnis ausgerichteten Ladenlokale brauchen aber auch neue Erfolgskennzahlen. Einen deutlichen und immer wichtiger werdenden Wandel in der Beurteilung von Store-Konzepten sieht Wolfgang Gruschwitz, Geschäftsführer der Gruschwitz GmbH: „Anstelle des ‚Return on Investment’ werden Kenngrößen wie Return on Interest/Involvement oder Integration immer entscheidender“. Schließlich geht es darum, dass der Kunde zurückkommt und sich mit dem Ort/dem Laden verbunden fühlt. Wer dagegen zu sehr den klassischen ROI im Fokus habe riskiert, schnell vergleichbar und damit austauschbar zu werden. „Händler sollten mutiger bei der Umsetzung von innovativen Konzepten sein“, wünscht sich Gruschwitz. Anstatt holistisch die gesamte Customer Journey zu betrachten und das Erlebnis in den Vordergrund zu stellen, seien viele Händlerkonzepte auch heute noch zu sehr auf die Verkaufszahlen ausgerichtet.

 

Faktor Mensch: Der Schlüssel zum nachhaltigen Markenerlebnis

Beim Retail Design der Zukunft geht es um Intuition, Gefühl und Authentizität. Ganz im Sinne des „story telling“ transportieren erfolgreiche Store-Beispiele stets eine klare und unverwechselbare Botschaft. Maik Gruschwitz ist überzeugt: „Dabei spielt der Faktor Mensch als Berater und Testimonial im Laden eine der größten Rollen.“ Denn tatsächlich ist es der Verkäufer oder die Verkäuferin im Laden, die mit dem Kunden interagiert und ganz erheblich zu einem begeisternden Shoppingerlebnis beitragen kann. Hier sieht Maik Gruschwitz viel Potenzial, das in Zukunft strategisch noch besser genutzt werden muss. Jutta Blocher von Blocher Partners sieht dazu auch einen weiteren Trend: „Wir stellen fest, dass stationäre Händler sich zunehmend mit allen Möglichkeiten auseinandersetzen, um Beziehungen zum Kunden aus- und aufzubauen und bewusst mit ihm in den Dialog zu treten“.

 

Technologie gehört dazu

Als Trend im Retail Design sehen die Ladenbauer, dass stationäre Geschäfte zur Werkstatt bzw. zum Experimentierfeld umfunktioniert und Testläden für neue Konzepte üblich werden. Dazu gehört auch der sinnvolle Einsatz von Technologie. Große Videowalls mit Imagevideos, Sportereignissen, Fashionshows oder anderen passenden Bewegtbildern sind längst ein gängiges Bild, um Läden emotional aufzuladen.

Arbeitserleichterung versprechen zudem Techniken wie Digital Signages, Self Checkouts oder die Einbindung mobiler Devices. Auch künstliche Intelligenz wird den Laden der Zukunft innovativer und kreativer machen. Erste mutige Konzepte mit Virtual Reality oder Robotik lassen erahnen, wo die Reise hingehen könnte.

Einig sind sich die Ladenbauexperten darüber, dass der stationäre Handel alles andere als tot ist. Jutta Blocher bringt es auf den Punkt: „Die stationäre Präsenz ist das größte Pfund im Wettbewerb mit dem Online-Handel. Das sieht man auch daran, dass die digitalen Anbieter ebenfalls offline gehen“.

 

Weiterführende Links zu den Ladenbauexperten:

www.atelier522.com

www.blocherpartners.com

www.gruschwitz.de

www.umdasch.com

 

 

 

 


Online Marketing Rockstar Philipp Westermeyer

Digital-Rockstar Philipp Westermeyer:
„Der tatsächliche Wert der OMR sind meine Kollegen.“

Philipp Westermeyer, eine Ikone der Digitalbranche. Mit nur 39 Jahren ist der Gründer der Online Marketing Rockstars (OMR) einer der erfolgreichsten deutschen Internetunternehmer. Bei meinem Besuch in seinem Büro im Hamburger Schanzenviertel bekomme ich als erstes eine Führung durch die heiligen Hallen vom „Chef“ persönlich. Danach das Interview in einem loungigen Besprechungszimmer. Plötzlich huscht OMR-Kollege Rikkert mit einer Kamera rein: Foto-Shooting für die tägliche OMR Instagram Story. Er dokumentiert alles, was inhouse passiert und postet es auf Instagram. Ich lasse mich gerne über den neuesten Kult der Social Networks evangelisieren. „Instagram ist die aktuelle Welle“, erklärt mir Philipp in einem Nebensatz. Da müsse man leider doch dabei sein. Und was ist seine ganz persönliche Story? Ein Porträt über einen leidenschaftlichen Medienmacher.

Es ist schon immer Philipp Westermeyers Wunsch, in die Medienwelt einzusteigen. Die Erfolgsgeschichten der privaten Medienunternehmen wie der RTL Group oder der Kirchgruppe in den 90er Jahren faszinieren ihn. Er träumt von einem Job als Sportjournalist. Ein bisschen naiv, wie er heute schmunzelnd zugibt. Als Schüler jobbt er in seiner Heimatstadt Essen u.a. bei der WAZ im Lokalsport und bei Radio Essen und saugt die Funktionsweise von Medienunternehmen in seine DNA ein. Die bleibende Erkenntnis: Für ihn erstrebenswert ist vielleicht doch eher ein Job als Produzent oder als Medienmanager. Denn in dieser Position ist man vordergründig zumindest weniger abhängig.

Ein Synonym: Philipp Westermeyer und die OMR

Steile Karriere als Internetunternehmer

Nach dem Studium schafft er den Einstieg als Vorstandsassistent bei Bertelsmann. Kurze Zeit später wird er Investment Manager von Gruner + Jahr New Media Ventures. Eine gute Position, um hautnah mitzubekommen, was in der Medienbranche gerade los ist. Die Goldgräberstimmung rund um die aufsteigenden Social Web Communities ist gigantisch. Er erlebt, wie damals StudiVZ bei den Verlagen zur Übernahme feilgeboten wird, der Deal am Ende an die Holtzbrinck Gruppe geht und die Gründer sehr viel Geld bekommen. Daraufhin sucht er sein eigenes Gründungsthema und wird zunächst mit SEO-Seiten, später mit Technologien für Online-Advertising fündig.

Einige selbst getextete und für Google konzipierte SEO-Seiten später gründet er zusammen mit Tobias Schlottke und Christian Müller den Restplatzvermarkter adyard und verkauft ihn nach nur eineinhalb Jahren an die Bertelsmann-Tochter Ligatus. Wenig später starten die Drei die auf Display-Advertising und Real-Time Bidding spezialisierte Firma metrigo. Er verkauft die Gesellschaft an die Axel Springer-Tochter Zanox. Doch der Deal wird aufgrund von Differenzen um die Ausrichtung rückabgewickelt und geht an die Gründer zurück. Er startet einen zweiten Versuch und findet mit Zalando erneut einen Abnehmer.

Die Technologie Black-Box

Philipp blickt auf diese Zeit mit gemischten Gefühlen zurück. Obwohl er seine gegründeten Firmen erfolgreich auf die Straße bringt  und gut veräußern kann, empfindet er in dieser Phase ein gewisses Unwohlsein. Was ihn bei den Werbetechnologie-Firmen stört, ist, dass er selbst die Software nicht beherrscht und bei Entscheidungen über die Machbarkeit und Umsetzung von den Einschätzungen der Entwickler abhängig ist. „Es war wie eine Black-Box. Ich wollte Dinge bewegen und musste mir von den Softwareentwicklern sagen lassen, dass es nicht geht. Kein gutes Gefühl, sich so von anderen abhängig zu machen. Mich ständig absichern und mich auf die Einschätzung anderer verlassen zu müssen, das ist eigentlich so gar nicht mein Ding.“

Das mit OMR ist eine ganz andere Sache. Seine Leidenschaft zu Medien lässt in Philipp eine Idee heranreifen. 2011 debütiert OMR im klassischen Konferenzformat mit 200 Teilnehmern, acht Jahre später ist es ein internationales Festival mit 50.000 Teilnehmern und eine Organisation, die übers ganze Jahr eine treue, stets wachsende Community über den Blog, Podcasts, Reports und einer Jobbörse mit Content versorgt.

Der Weg dahin ist mit einigen „Geburtsstrapazen“ verbunden, wie er selbst zugibt. Philipp brennt für die OMR. „Bei der OMR könnte ich theoretisch jederzeit jede Aufgabe selbst übernehmen. Natürlich steckt mein Team viel tiefer im Detail und die machen einen ausgezeichneten Job. Aber ich weiß was Sache ist – bei jedem einzelnen!“ Bei anstehenden Entscheidungen kann er einschätzen, was geht und was nicht geht.

Primus inter pares

Das macht ihm die Rolle als Leitfigur einfacher und das spiegelt sich auch in seinem Führungsstil wieder. Er ist der Primus inter Pares, der Erste unter Gleichgesinnten, der das Team demokratisch führt. „Hier arbeiten meine Freunde, wir sind ein Team, ein Netzwerk. Nur weil ich Gründer und Unternehmer bin, habe ich keine andere Stellung als die anderen. Natürlich versuche ich, dem Team einen Rahmen zu geben und tue dafür mein Bestes.“ Er schätzt das als Privileg, das merkt man ihm an, auch wenn man ihm zum ersten Mal begegnet. Seine Einstellung prägt nachhaltig die Unternehmenskultur. Von seinen Mitarbeitern wird er freundschaftlich, respektvoll „Der Chef“ genannt. In der Unternehmensgeschichte gibt es bisher nur drei Kündigungen, darauf ist er sehr stolz.

Wertschätzung ist für ihn ein wichtiges Element. 75 Mitarbeiter stecken jeden Tag ihre Inspiration und ihr Engagement in die Marke OMR. „Der eigentliche Wert der OMR sind meine Kollegen.“ Auf die Frage, ob es schwierig sei, gute und passende Leute zu finden, antwortet er gelassen. „Es ist vergleichbar mit der Parkplatzsuche in Elmsbüttel (Hamburger Stadtteil, Anmerkung der Redaktion). Man findet vielleicht nicht auf Anhieb einen, schon gar nicht vor der Haustür. Aber dreht man ein paar Runden um den Block, wird einer frei. Man muss Geduld haben und sich die Zeit nehmen.“

Die Brand OMR oder Personality Westermeyer?

Sich selbst sieht Philipp mehr als Medienmacher, weniger als ein Digitalmacher – wobei das für ihn heute nicht mehr trennbar ist. Er weiß, dass ohne seine Person das Brand Building nie so gut funktioniert hätte. „Immer schon waren erfolgreiche Medienmarken stark von Personen abhängig. Ich denke da an Rudolf Augstein und Der Spiegel. Oder Thomas Gottschalk und Wetten Dass?. Oder international Henry Blodget, der für Business Insider steht.“ Er empfindet das als Stärke und Schwäche gleichzeitig.

Medienmacher, die stark personifiziert nach außen auftreten, haben einen klaren Vorteil. Sie können authentisch kommunizieren. Es ist das Phänomen des persönlichen Kontakts mit der Zielgruppe, eine Art partnerschaftlichen Auseinandersetzung. „Parasoziale Beziehung nennt man das – das habe ich im Studium gelernt“, fügt er mit einem Grinsen hinzu.

Magazinmacher in Teilzeit: Barbara Schöneberger, Guido Maria Kretschmer, Joko Winterscheidt und Jérôme Boateng. Ab Mai auch Philipp Westermeyer! (Foto: Collage: SZ/dpa(3), Getty)

Sein neuestes Projekt zahlt genau darauf ein. In Kooperation mit dem Hamburger Abendblatt wird im Mai das Personality-Magazin „Philipp“ aufgelegt. Es war die Idee des Abendblatt-Chefredakteurs Lars Haider, der ihm den Vorschlag für das Print-Pilotprojekt unterbreitet. Das Magazin soll einen ganz klaren, regionalen Fokus haben und die ganze Region Hamburg für die Themen des OMR Festivals begeistern. „Für mich persönlich hat das ehrlich gesagt eine kleine Portion an Selbstironie. Ich weiß genau, dass ich nicht prominent bin wie eine Barbara Schöneberger oder ein Jerome Boateng, die als Testimonials und journalistische Blattmacher den Verlagen zu neuen Reichweitenrekorden verhelfen sollen. Ich bin eher der Nischentyp.“

Redaktionell hat Philipp einen klaren Plan für das Magazin, das pünktlich zur Eröffnung des OMR Festivals am 7. Mai an den Hamburger Kiosken erhältlich sein wird. Dazu gehören zum Beispiel Porträts von hidden digital Champions oder eine persönliche Reportage über erfolgreiche deutsche Rapper, die Instagram-Phänomene sind.

Es ist ihm durchaus bewusst, dass es auch ein unternehmerisches Risiko birgt, die Marke OMR auf seine Person auszurichten. Daher hat er in den letzten Jahren immer darauf geachtet, dass auch sein Team mehr und mehr in der Öffentlichkeit steht. So ist das Redaktionsteam rund um Roland Eisenbrand für fast alle Inhalte  der OMR verantwortlich und werden sichtbarer. Auch OMR-Podcast-Chef und Ex-Basketball-Profi Vincent Kittmann rückt immer öfter für Interviews ins Rampenlicht.

Begeisterung für Podcasts

Medienkonsum wird sich seiner Meinung nach weiter dramatisch verändern. Organische Reichweite zu bekommen, wird immer schwieriger. Um Zielgruppen zu erreichen, muss man neue Formate testen, testen, testen. So macht er es selbst auch gerade mit Instagram. Philipp weiß, wovon er spricht. Vor vier Jahren ist er einer der First Mover in der Produktion und Vermarktung von Podcasts. Der OMR-Podcast zieht heute wöchentlich 40.000 Hörer in den Bann. Auch für externe Partner vermarktet die OMR Podcasts, zu den größten Projekten zählt der Podcast awfnr mit Joko Winterscheid und Paul Ripke.

„Wir haben das Podcast-Format frühzeitig für tolle Storys genutzt, das wissen unsere Nutzer zu schätzen.“ Mit Podcasts kann man einfach ganz nebenbei Content konsumieren. Menschen nutzen heutzutage ihre Zeitfenster ganz anders als sie es früher getan haben. Radio on-demand macht es möglich. Zu jeder Zeit an jedem Ort das hören, was man möchte und was einen interessiert.

Das Podcast-Geschäft professionalisiert sich zunehmend. Kein Wunder, das Vermarktungspotenzial ist enorm, die Content-Qualität nimmt stetig zu. Viele Publisher springen auf die Podcast-Welle auf. Jüngstes Beispiel dafür ist Ex-Handelsblatt-Herausgeber Gabor Steingart mit seinem Morning Briefing Podcast, in dem er täglich illustre Gäste aus Politik und Wirtschaft zum Weltgeschehen zu Wort kommen lässt.

"Dinner Berlin" - die Gäste: Philipp Westermeyer, Lea Lange, Cem Özdemir, Annegret Kramp-Karrenbauer, Alex Karp, Sonja Jost und Mathias Döpfner (v.l.) (Fotos: Hannes Holtermann)

Die politische Dimension des Digitalen

Auch Philipp lässt nichts anbrennen. Er startet im Januar zusammen mit Axel Springer Vorstandsvorsitzenden Mathias Döpfner den digitalen Polit-Podcast „Berlin Dinner“. Bei einem gemeinsamen Abendessen talken die beiden mit profilierten Vertretern der Digitalökonomie, Gründern und Politikern. Die Reihe soll zu unterschiedlichen Themenschwerpunkten in loser Folge ohne feste Termine stattfinden. Die Dinner Diskussion wird jeweils als Podcast und mit Videoausschnitten über digitale Kanäle und soziale Netzwerke verbreitet. Im Auftakt-Podcast diskutieren Gäste wie CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer und Grünen-Politiker Cem Özdemir über die Fragen der digitalen Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands im Vergleich zu China und den USA.

Philipp sieht sich dabei in einer gewissen Verantwortung als Medienmacher. „Im Digital- und Medienbusiness kommt man nicht mehr drum herum, auch politisch zu denken und mit zu gestalten. Allein die Fragen, die sich hinsichtlich Datenschutz und Plattformökonomie politisch stellen, darauf muss man eingehen.“

Vision und Persönliches

Ebenso sieht er seine Mission, den Mittelstand jenseits der Metropolen Berlin, Hamburg und München mit den digitalen Themen abzuholen. Er will für klassische Industrieunternehmen eine Plattform für Know-how im digitalen Business und für Weiterbildung schaffen.

Auch über Internationalisierungspläne denkt er nach. Zwei Mal wird er bereits aus dem asiatischen Raum auf eine Expansion angesprochen. „Das würde aber für mich bedeuten, viel Zeit in Asien zu verbringen. Das kann und will ich in meiner aktuellen Lebenssituation mit meiner Familie nicht. Das ist entschieden.“ Für ihn gibt es aber immer einen Weg. Er bringt einfach die Digital Leader*innen aus aller Welt auf das Festival nach Hamburg.

Interview mit OMR-Chef Philipp Westermeyer
changelog.blog Autorin Vera Vaubel im Interview mit OMR-Gründer Philipp Westermeyer in Hamburg

Weiterführende Links

OMR Festival

Dinner Berlin Podcast

 

 

 


Seit über zehn Jahren lehrt und forscht sie zu sozialen Fragen der Internetökonomie und Technikgestaltung

Ethische Innovation im digitalen Zeitalter: Werte sind das neue „Bio“

Sarah Spiekermann ist Professorin an der Wirtschaftsuniversität Wien. Sie leitet dort das Institut für Wirtschaftsinformatik und Gesellschaft. Seit über zehn Jahren lehrt und forscht sie zu sozialen Fragen der Internetökonomie und Technikgestaltung. Auf der OOP Konferenz in München vergangene Woche hält sie einen Impulsvortrag über ethische Innovation. Sie ist davon überzeugt, dass sich die Frage nach digitaler Ethik nicht nur auf die derzeit diskutierten Themen wie Privacy, Security, Bias und Transparency beschränken darf. Sie fordert ein Umdenken in der System- und Softwareentwicklung, in dem Werte anstelle von Funktionalität treten. Und zeigt dies exemplarisch an einem experimentellen Case der Essenslieferplattform Foodora.

Was verstehen wir unter Innovation? Was ist Fortschritt? Welche Philosophie legen wir mit den Begrifflichkeiten zugrunde? Dazu führt Sarah Spiekermann in einen historischen Exkurs. In der Antike ist es Aristoteles, der die Welt mit seiner Erfahrungswissenschaft weiterentwickelt. Weisheit, Klugheit, emotionale Intelligenz des Menschen stehen dabei im Vordergrund. Im 12. Jahrhundert prägt der Philosoph Albertus Magnus den Begriff der Innovation mit experimenteller Wissenschaft. Es geht darum, „neue Dinge zu erfinden“. Der Spirit „neu ist gleich innovativ ist gleich gut“ macht Europa groß und reich. Erfindungen wie der Buchdruck, der Kompass, der Motor oder die Elektrizität ermöglicht den Menschen in Europa völlig neue Entwicklungspotenziale. Aus der Agrargesellschaft entwickelt sich eine Industriegesellschaft und der Fortschritt wird immer weiter vorangetrieben.

Faszination Technik veraltet

Durch den Sprung ins Informationszeitalter hat die Innovationskraft eine neue Dimension erreicht. Die Geschwindigkeit, in der technologische Entwicklungen voranschreiten, wächst exponentiell. Das hat Folgen: „In einer von der IT durchzogenen Welt ist diese Objekt unseres Designwillens. Wenn wir heute genau hinschauen, sehen wir lauter Dinge und Funktionalität. So funktionieren heute auch Unternehmen und Organisationen. Und wir Menschen arbeiten Product Roadmaps ab“, erklärt Spiekermann.

Aber die Faszination Technik schwindet. Fakt ist: Ein großer Teil der technikgetriebenen Innovation scheitert oder ist wirtschaftlich ein Flop. Laut der Langzeitstudie „Chaos Report“ der Standish Group werden nur 29 Prozent aller Softwareprojekte erfolgreich abgeschlossen. Von der Dunkelziffer abgebrochener IT-Projekten und der damit versenkten Investitionen ganz zu schweigen. Die Analysten von Vision Mobile schätzen, dass die große Mehrheit der App-Entwicklungen nicht rentabel ist. Rund 50 Prozent der iOS- und 64 Prozent der Android-Entwickler erzielen pro App weniger als 500 Dollar pro Monat. Die Umsätze mit Apps nehmen inner- und außerhalb von App Stores weiter zu, konzentrieren sich aber auf relativ wenige Anbieter. Und wie viele Start-Ups haben schon Energie in Softwareentwicklung gesteckt, die gnadenlos gescheitert sind? Vor diesem Hintergrund plädiert Sarah Spiekermann dafür, sich bei Systementwicklungen aufs Wesentliche zu konzentrieren: „Wir müssen mehr denn je die Werte hinterfragen, die durch Technik entstehen - dabei geht es nicht um Geld oder Effizienz. Sondern um Zufriedenheit, Gemeinschaft und Wissen. Nur so können wir in einer digitalisierten Welt ein gutes Leben führen.“

Experimentelles Planspiel Foodora

Wissenschaftler haben in einer aktuellen Studie die Auswirkungen von App-basierter Arbeitsorganisation vor allem für Mitarbeiter anhand von Essenslieferdiensten untersucht. Die Apps versprechen den Arbeitnehmern neue Freiheiten, üben aber gleichzeitig eine ungeahnte Kontrolle aus. Speziell das Geschäftsmodell „Essen auf Rädern“ Foodora befindet sich immer wieder hinsichtlich sozialen Umgangs mit Mitarbeitern bzw. den Fahrradkurieren in negativen Schlagzeilen.

 

https://www.youtube.com/watch?v=2mnb-p7zVvM

 

Sarah Spiekermann hat eine Gruppe von 40 Studenten in einem Planspiel vor die Aufgabe gestellt, neue Features für die Lieferplattform Foodora zu entwickeln. Das Ergebnis ist zunächst eine Liste an Funktionalitäten, die die App noch besser machen sollte. Zum Beispiel die Einführung eines Bewertungssystems für die einzelnen Fahrradkuriere, die Entwicklung einer Künstlichen Intelligenz, die auf Basis gefahrener Routen immer die schnellste Strecke für die Kuriere findet, Integration eines Fulltime GPS Tracking Systems, usw.

Wie geht ethische Innovation?

Spätestens an dieser Stelle schreitet die Universitätsprofessorin ein und schlägt eine andere Herangehensweise vor. Sie beauftragt ihre Studenten, sich bei der Aufgabenstellung mit drei philosophischen Fragen auseinanderzusetzen:

  • Wie wirkt sich die Technik langfristig auf den Charakter der betroffenen Stakeholdern, in diesem Beispiel speziell der Fahrradkuriere aus?
  • Welche menschlichen, sozialen, ökonomischen oder gesellschaftlichen Werte sind im Positiven wie im Negativen durch den neuen Dienst tangiert? Überwiegen Vor- oder Nachteile?
  • Welche persönlichen Maximen oder Wertephilosophien seht ihr durch den Service betroffen, die ihr aus eurer Sicht für so wichtig haltet, dass ihr sie gerne in unserer Gesellschaft bewahren möchtet?

Auf Basis dieser Fragen formulieren die Studenten plötzlich ganz klare Nachteile und Probleme auf der sozialen Ebene, die eine Arbeitsorganisation per App mit sich bringt. Darunter z. B. Erschöpfung der Kuriere, Machtlosigkeit gegenüber dem Tracking der App, totale Überwachung und Zeitdruck. Im Umkehrschluss entwickeln sie Ideen für ein neues Release der Foodora-App, die ganz andere Zwecke erfüllen.

Für die Kuriere konzipieren sie einen Gamification-Ansatz, das Ausliefern muss ja Spaß machen. Die Community der Kuriere soll gestärkt werden, der Teamgedanke mehr in den Vordergrund gestellt werden, z. B. gemeinsame Treffen in Leerlaufzeiten. Sportliche Ziele für Kuriere, die den Job aus Leidenschaft machen, werden mit berücksichtigt und die Ausfahrrouten entsprechend angepasst. Auch für die Stakeholder „Essensbesteller“ ergeben sich daraus innovative Ideen. So rückt die gesunde Ernährung in den Vordergrund. Wie wäre es denn, wenn man eine Ernährungsberatung mit in die App integriert oder einen Diät-Service?

Auf die Frage, ob sie die Konzeptideen ihrer Studenten bei Foodora präsentieren durfte, schüttelt Spiekermann schmunzelnd den Kopf. Die Marke Foodora wird vom deutschen Markt verschwinden. Nach einer überraschenden Übernahme im Dezember 2018 wird die Lieferplattform in Zukunft unter dem Dienst Lieferando agieren.

Wertebasiertes Design digitaler Systeme

Mit diesem Case zeigt Spiekermann, dass durch die wertebasierte Herangehensweise eine ganz andere Kultur an Innovation entsteht, nämlich die Schaffung von Werten auf gesellschaftlicher und sozialer Ebene. „Die Zukunft unserer digitalen Ethik liegt in der Wiederentdeckung unserer Werte. Wenn wir Werte beim Design unserer digitalen Technologien systematisch berücksichtigen und ihren Einsatz so planen, dass unsere Welt wieder wertvoller wird, dann sind wir auf dem richtigen Weg“, ist die Professorin überzeugt. Digitale Systeme bilden niemals die Realität ab. Egal, wie sehr man sich in Zukunft der Automatisierung verschreiben wird, bei diesem Ansatz wird immer die menschliche und soziale Komponente fehlen. Bei der Entwicklung und Ausgestaltung digitaler Systeme muss man sich daher umso mehr die Frage stellen, welche menschlichen Werte uns weiter bringen. Welche unternehmerischen, gesellschaftlichen und sozialen Probleme gibt es auf der Welt und wie kann man sie mithilfe von Technologie lösen?

Der wertorientierte Ansatz bei der Softwareentwicklung steckt heute noch in den Kinderschuhen. Sarah Spiekermann arbeitet aktiv in der IEEE, der weltweit größte technische Berufsorganisation, die sich dem Fortschritt der Technologie zum Nutzen der Menschheit verschrieben hat. Die Professorin entwickelt einen Standard, der beim Systementwurf ethische Fragen von Anfang an einbezieht. Es ist eine Methodik, um ethische Bedenken der User zu Beginn eines System- und Software-Lebenszyklus zu identifizieren, zu analysieren und in Einklang zu bringen.

 

 »Fortschritt braucht Weisheit und Mut – Maschinen fehlt beides.«
Sarah Spiekermann

 

Der Standard IEEE P7000 ermöglicht eine pragmatische Anwendung von wertebasierter Design-Methodik bei der System- und Softwareentwicklung. Ingenieuren und Technologen wird ein implementierbarer Prozess zur Verfügung gestellt, der Innovationsmanagementprozesse, Systemdesign-Ansätze und Software-Engineering-Methoden aufeinander abstimmt. Ziel dabei ist es, das ethische Risiko für ihre Organisationen, Stakeholder und Endbenutzer zu minimieren. Dieser Ansatz erfordert jedoch ein Umdenken in Unternehmen und Organisationen. Es bedarf in den Köpfen ein anderes Bewusstsein für den Begriff der Innovation und eine neue Form des Innovationsdenkens. „Wenn dieses Umdenken nicht passiert, schaffen wir mit unserem vermeintlichen Fortschritt nur Rückschritt“, ist Spiekermann überzeugt.

 

Weiterführende Links

Bericht über Gig Economy bei Foodora und Deliveroo auf heise online

Standard IEEE P7000

Prof. Dr. Sarah Spiekermann

 

 

 


Anne Kjaer Richer, Founder ReDI School

Porträt über die „Mutmacherin des Jahres 2018“ Anne Kjaer Riechert:
Wie digitale Integration funktioniert

Anne Kjaer Riechert ist Gründerin der ReDI-School, eine Programmierschule für Flüchtlinge und Organisation für digitale Integration. Vom Handelsblatt wurde sie letzte Woche zur „Mutmacherin des Jahres 2018“ gekürt. Auf dem Charity Brunch „What’s your Jouney?“ Anfang Dezember in München stellt sie ihr neuestes Projekt vor: ReDI Women – ein spezielles Schulungsprogramm für geflüchtete Frauen, das hilft, digitale Fähigkeiten zu entwickeln, Netzwerke aufzubauen und Selbstständigkeit zu fördern. Anne liegt dieses Projekt besonders am Herzen, will es weiter ausbauen und sucht dafür finanzielle Unterstützer. Um meinem Netzwerk Annes Spirit und Antrieb näherzubringen, darf ich sie auf ihrer ganz persönlichen und wie ich finde sehr bewegenden Reise begleiten. Ein Porträt einer sehr inspirierenden Frau.

Annes Geschichte beginnt schon vor ihrer Geburt. Nämlich mit ihrer Familiengeschichte. Ihre Großeltern haben in Deutschland den ersten Weltkrieg erlebt und sich geschworen, dass so etwas nie wieder geschehen darf. Sie werden Pazifisten und Verfechter der Demokratie. Sie produzieren in ihrem Familienbetrieb, einer Druckerei in Heide, pazifistische und sozialdemokratische Bücher und Schriften. Das passt den aufstrebenden Nationalsozialisten nicht, die Großeltern werden mehrmals verhaftet, die Druckerei gerät immer mehr unter Beschuss. Bei der Machtergreifung Hitlers im Jahr 1933 treffen die Großeltern eine schwere Entscheidung, nämlich zu flüchten.

80er Jahre. Anne wächst in Dänemark auf. Ihre Eltern erzählen ihr immer wieder die Geschichte und sie verinnerlicht ein Mantra: Man muss um Werte kämpfen und dabei auch manchmal schwere Entscheidungen treffen. Als Einzelkind wächst sie in einem Umfeld auf, das sie viel an Diskussionen mit Erwachsenen teilhaben und sie immer wieder die Warum-Frage stellen lässt. Sie ist neugierig und idealistisch.

Scheitern am Business Case NGO

Sie absolviert ein Innovationsstudium an der privaten Business School Kaospilot in Dänemark. Sie wird dort inspiriert von der Methodik, Produkte und Dienstleistungen nach realen menschlichen Bedürfnissen zu gestalten und nicht nach Vorgaben von Gewinnmaximierung oder von technischer Entwicklung. Nach ihrem Studium startet sie ihr eigenes Projekt "Kids have a Dream", das Teenagern auf der ganzen Welt dabei hilft, ihre Träume für die Zukunft zu definieren und zu verfolgen. Mehr als 4000 Kinder in über 30 Ländern haben in den vergangenen zwölf Jahren teilgenommen. Sie ist jedoch nicht in der Lage, das Projekt auf ein fundiertes Geschäftsmodell zu stellen. Die Lektion, die sie daraus lernt und sie bis heute begleitet: „NGOs müssen auch Geld verdienen, um die Belegschaft zu bezahlen. Wenn nicht, ist das Projekt weder nachhaltig noch skalierbar.“

 

„ Ich habe eigentlich nie einen Job durch eine Bewerbung bekommen.
Ich wurde immer durch mein Netzwerk empfohlen oder geleitet.“

 

Als externe Beraterin arbeitet sie drei Jahre lang in Kopenhagen, u.a. für Samsung Electronics. Dort ist sie für die Entwicklung und Umsetzung einer Strategie für nachhaltige Unternehmensführung in Skandinavien verantwortlich. Sie lernt, wie man gewinnorientierte und gemeinnützige Organisationen zusammenbringt. Wie man Projekte entwickelt, die für beide Seiten von Vorteil sind. Die Arbeit im Konzern macht ihr Spaß und sie ist erfolgreich, für ihren Geschmack aber noch nicht innovativ und wirkungsvoll genug. Sie entscheidet sich für ein weiteres Studium, und bekommt bei Rotary ein Stipendiat für ein zweijähriges Master-Studium in Friedens- und Konfliktforschung in Japan.

Digitale Integration

Danach zieht sie es nach Berlin. 2013 gründet sie in Zusammenarbeit mit der Stanford University das Berlin Peace Innovation Lab. Das Netzwerk wächst innerhalb von drei Jahren zu einer Gemeinschaft von 1700 Menschen. „Wir haben einen monatlichen Co-Creation-Workshop ins Leben gerufen, um die lokalen sozialen Herausforderungen in Berlin zu diskutieren und Ideen zu erarbeiten, wie diese gelöst werden können.“ Im April 2016 sitzt sie mit 40 Teilnehmern im Berliner Rathaus zusammen, um Ideen für die Unterstützung der Asylbewerber, die zu dieser Zeit nach Deutschland kommen, zu erarbeiten. „Wir hatten viele Stakeholder am Tisch - aber die wichtigsten fehlten: Die Flüchtlinge selbst.“ Sie fängt an, die Flüchtlingslager zu besuchen, um die wirklichen Bedürfnisse richtig zu verstehen - und mit den Menschen selbst zusammenzuarbeiten, um Lösungen zu finden.

Mark Zuckerberg trifft auf Rami Rihavi aus Alappo, der von einem Virtual Reality Projekt erzählt.
Begegnung zweier Tech-Geeks: Mark Zuckerberg und Rami Rihavi aus Alappo in der ReDI School.

Anne vergisst niemals, wie sie dort Mohammed begegnet, einem Programmierer aus dem Irak. Er hat Spaß am Programmieren, würde auch gerne arbeiten. Er besitzt aber weder einen Labtop noch das Netzwerk, um einen Job zu finden. Da kommt ihr der Gedanke: Warum nicht Technologien nutzen, um soziale Probleme zu lösen? Sie schreibt auf Facebook einen Post und fragt ihre Community, wer sie dabei unterstützen könne, Menschen wie Mohammed zu helfen. Mit der positiven Resonanz hätte sie nicht gerechnet. 30 Personen wollen gleich aktiv mitarbeiten. Bieten Hilfe in Form von Sachspenden wie Labtops an, erklären sich bereit, ehrenamtlich Kurse zu geben, stellen Räumlichkeiten zur Verfügung. Oder wollen einfach einen selbstgebackenen Kuchen mitbringen.

Fit für den deutschen Arbeitsmarkt

So entsteht die Idee der "Refugee on Rails", die sich später zur ReDI School entwickelt. „Ich kann selbst nicht programmieren - daher habe ich keine Tech-Schule gegründet, um meine eigenen Fähigkeiten einzusetzen. Stattdessen ist die ReDI School eine sehr pragmatische Lösung, um den Newcomern in Deutschland, der deutschen Wirtschaft und der deutschen Gesellschaft zu helfen.“ Es kommen viele Geflüchtete nach Deutschland, die Programmier-Vorkenntnisse haben oder zumindest technikaffin sind. Anne will diesen Menschen eine Perspektive geben und die schlummernden Talente fit für den deutschen Arbeitsmarkt machen. Bedarf ist allemal da: Es gibt in Deutschland laut Bitkom über 55.000 unbesetzte IT-Jobs. Eine feste Arbeitsstelle zu haben, ist ihrer Meinung nach Grundvoraussetzung für Integration.

 

„Wir müssen eine Plattform schaffen, auf der sich die Menschen
durch ein gemeinsames Interesse leicht verbinden können: Technologie.“

 

Zunächst startet Refugee on Rails mit einer „Wir-schaffen-das-Euphorie“, aber schnell kommen Anne und ihre ehrenamtlichen Helfer an ihr Limit. Auch aus eigenen Erfahrungen in der Vergangenheit weiß sie, dass sie es nur schaffen kann, wenn sie eine gemeinnützige Organisation als Unternehmung aufbaut. In dieser Findungsphase spielen ihre Partner Weston Hankins und Ferdi van Heerden eine große Rolle. „Wir haben fünf Monate lang Konzepttests durchgeführt, bevor wir dann tatsächlich die Organisation gegründet haben. Wir hatten auch enormes Glück, von Anfang unseren ersten Unternehmenspartner Klöckner & Co an Bord gehabt zu haben, die uns monetär unterstützt haben. Ansonsten hätten wir es nicht geschafft.“

Dann kommt Mark Zuckerberg zu Besuch in die ReDI-School. Ein persönlicher Meilenstein für Anne. Denn Mark Zuckerberg trifft auf Rami Rihavi aus Alappo, der von einem Virtual Reality Projekt erzählt, das er plant, um mit seiner Mutter in Aleppo sprechen und dabei seine Heimat sehen zu können. Umgekehrt soll seine Mutter sehen, wie er lebt. Ein Milliardär trifft einen Flüchtling – so scheint es von außen. Aber innerhalb weniger Minuten entwickelt sich ein Gespräch zwischen den beiden und es sind zwei Tech-Geeks, die sich unterhalten. So schnell verschwinden vermeintliche Grenzen. Für Anne ist dies einer dieser Aha-Momente, in denen sie merkt, dass sie das Richtige tut.

Umgang mit Bürokratie und Widerstand

Angela Merkel zu Besuch in der ReDI School
Politischer Besuch in der ReDI School: Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht mit den Student*innen

Das Richtige zu tun, ist nicht immer einfach. Anne muss einige Hürden nehmen und braucht langen Atem. Für die deutsche Bürokratie hat sie fast nur ein Kopfschütteln übrig. Etwa, als sie vier geflüchtete Frauen in der ReDI School einstellen will und an der Antragsstellung beinah scheitert. Oder die Anerkennung als Weiterbildungsinstitution, mit der die ReDI School offiziell Diplome ausstellen kann: ein monatelanger Aufwand für das Team, verbunden mit hohen Kosten. Ohne Spendengelder nicht möglich. Mit welcher Leichtigkeit sie davon erzählt, lässt erahnen, dass sie niemals die Geduld verliert. Beharrlich und mit viel Durchsetzungsvermögen setzt sie ihre Arbeit fort. „Ich fange einfach mal an. Es ist ein iterativer Prozess, manche Dinge kappen auf Anhieb, manche nicht. Und daraus lerne ich.“ Sie spricht das Mysterium des Hummelflugs an. „Manchmal fühlt sich das so an. Da die Hummel ja nicht weiß, dass sie nicht fliegen kann, tut sie es einfach trotzdem", fügt sie lachend hinzu. Es ist harte Arbeit, aber das empfindet sie nicht so. Denn sie sieht etwas wachsen, was sinnstiftend für die Gesellschaft ist.

Politischen Widerstand von rechts bekommt sie glücklicherweise wenig zu spüren. Offenheit und Dialog schützt sie davor, davon ist sie überzeugt. „Unsere Türen im Berliner und Münchner Büro stehen für alle offen. Wenn jemand Fragen dazu hat, was wir tun, kann er gerne zu mir kommen und mit mir bei einem Kaffee über die Differenzen sprechen.“ Sie versteht, dass viele Menschen Ängste haben und deshalb sehr kritisch gegenüber Integration sind. Sie gibt einen Rat: „Hört auf, über Flüchtlinge zu reden, fangt an mit Flüchtlingen zu reden“. Es macht einen Riesenunterschied, wenn man die Leute, die man in die Schublade „Flüchtlinge“ gesteckt hat, persönlich kennt - und erkennt, dass es viel mehr Gemeinsamkeiten gibt als das, was sie voneinander unterscheidet.

Diversität - auch bei der ReDI School

Nach zwei Jahren Coding-Kurse für Newcomer, stellt sie fest, dass nur 10 Prozent weibliche Teilnehmerinnen in den Kursen präsent sind. Um das zu ändern, setzt sie und ihr Team Co-Creation Workshops mit Frauen verschiedener Hintergründe auf, um ein Programm zu gestalten, das den Bedürfnissen der Frauen entspricht. „Seit Anfang September läuft unser 'Digital Women Programme' in München. Anfangs haben wir mit 25 Teilnehmerinnen geplant, aber die Nachfrage ist so groß, dass wir mehr Frauen unsere Schulungen ermöglichen wollen.“ Dazu läuft eine Spendenkampagne auf der Plattform Betterplace.org

 

„Was wir für die geflüchteten Menschen tun, tun wir in Würde und Demut.“

 

Das ist nur eines der Projekte, die für 2019 auf ihrer todo-Liste stehen. Schulungsprogramme für Frauen will sie kontinuierlich ausbauen und das ReDI-Kids-Programm in Berlin weiterentwickeln: „Unsere ehemaligen Schüler sollen zu Lehrern ausgebildet werden, um sowohl deutsche als auch Migrantenkinder IT zu unterrichten. Denn digitale Bildung ist der Schlüssel – alle Gesellschaftsschichten brauchen Zugang dazu.“ Die Gründung einer ReDI School am Standort Hamburg steht ebenfalls auf ihrem Plan.

Aber auch persönlich hat Anne sich für das kommende Jahr Ziele gesetzt. Sie will eine witzige Facebook-Selbsthilfegruppe "Karma Kaolation" ins Leben rufen und alle Menschen ansprechen, die wie sie in Zukunft weniger konsumieren wollen. Zum Beispiel keine neuen Klamotten mehr kaufen. „Ich denke, hinsichtlich unseres Konsums braucht die Welt eine radikale Veränderung. Ich werde ein kleines bißchen dazu beitragen und versuchen, auch mein Verhalten zu ändern, um umweltfreundlicher zu sein.“ Sie möchte aber auch Zeit für sich selbst finden, um in der Natur Kraft zu schöpfen. Sie ist gerade dabei, mit ihrem Partner eine Farm im Wendland in Niedersachsen zu kaufen. „Ich arbeite viel, deshalb ist es schön, am Wochenende einen Ort zu finden, an dem Ruhe und Frieden herrscht. Und genug Zeit, um mit Freunden und Familie am Lagerfeuer zu sitzen und über die Dinge zu sprechen, die uns wichtig sind.“ Dinge, die die Welt ein bisschen besser machen.

 

Weiterführende Links

Spendenaufruf für das ReDI Women Programme

ReDI School

Facebook-Selbsthilfegruppe Karma Kaolation


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Digitale Arbeitswelt: Angst vor dem Umbruch?

Welche Veränderungen bringt die Digitalisierung in unsere Arbeitswelt? Diese Frage diskutiert Matthias Kamp, München-Korrespondent der WirtschaftsWoche, mit Siemens-Personalvorständin Janina Kugel und Unternehmerin Sabine Herold, Chefin des Hightech-Klebstoff-Herstellers Delo im WiWo-Clubgespräch. Es ist ein Ritt durch die Themenvielfalt Diversität, Automatisierung, Qualifikation, Weiterbildung, Führungsstil. Jedem Zuhörer im Literaturhaus in München wird klar, dass wir uns in unserer modernen, hochtechnisierten Welt mehr denn je hinterfragen müssen, ob wir offen für Neues sind und uns unseren Ängsten vor Veränderungen stellen müssen.

Der Einstieg in die Diskussion hätte nicht provokanter sein können. „Brauchen wir eine Frauenquote?“, fragt Matthias Kamp seine Gesprächspartnerinnen. Beide Unternehmerinnen wollen als Führungskraft keine Quotenfrauen sein. Janina Kugel kontert: „Es geht um die Gleichstellungsquote. Ich weiß nicht, ob wir sie wirklich brauchen, aber wir brauchen die Diskussion. Denn es gibt in den Vorständen deutscher Unternehmen mehr Michaels und Thomas als Frauen.“

Vereinbarkeit von Familie und Beruf

Rollenbilder sind in der Gesellschaft noch sehr stark eingefahren. Wir sind stark konditioniert, und das von klein auf. Was wir als Kinder zuhause vorgelebt und in Schulen erzählt bekommen, prägt enorm. Selbst heute noch werden zu sehr Rollenklischees vermittelt und Mädchen nicht ausreichend an vermeintliche Männerberufe herangeführt. Janina Kugel sieht hier einen großen Hebel, Veränderungen anzustoßen. „Wir müssen insbesondere die Mädchen motivieren, in die MINT-Berufe zu gehen. Abgesehen davon, dass sich hier viel größere Chancen auftun, weil wir diese Fachkräfte dringend brauchen, sind sie auch noch viel besser bezahlt als die klassischen Frauenberufe.“

Auf dem Arbeitsmarkt hat sich dank der technologischen Möglichkeiten viel getan: Teilzeitmodelle, Home-Office, Job-Sharing. Sabine Herold kann das bestätigen: „Wir als Mittelständler bieten unseren Mitarbeitern 42 verschiedene Teilzeitmodelle. Da steckt für HR sehr viel Arbeit dahinter.“ Es muss aber auch an anderer Stelle die Voraussetzungen für Flexibilität geschaffen werden, weiß Janina Kugel, Mutter von schulpflichtigen Zwillingen, aus eigener Erfahrung. „Es fehlt in Deutschland an einer gesicherten und flexiblen Betreuungsstruktur für Kinder, auf die sich beide Elternteile in ihrem Job verlassen können.“ Auch der Wiedereinstieg von Frauen ins Berufsleben wird angesprochen. Sabine Herold appelliert vor allem auch an Quereinsteiger und ermutigt weibliche Fachkräfte, die jahrelang wegen der Familie zuhause geblieben sind: „Diese Frauen haben ein kleines Familienunternehmen geführt. Natürlich sind sie für den Wiedereinstieg qualifiziert. Sie müssen es sich nur zutrauen und es wollen.“

Die Folgen der Automatisierung

Das Gefühl, abgehängt zu sein und das Nichtwissen über neue technologische Entwicklungen bei der Arbeit bleibt kein Phänomen derjenigen, die aus dem Beruf ausgestiegen sind. Vor dieser Herausforderung steht nun jeder Wissensarbeiter in unserer Dienstleistungsgesellschaft. Die Welle der Innovation durch Künstliche Intelligenz und Machine-Learning wird die Jobs in der Administration erfassen. Repetitiven Aufgaben wie zum Beispiel die von Sachbearbeitern oder Gutachtern werden in Zukunft durch Algorithmen gelöst. Bürojobs stehen auf der schwarzen Liste, es ist eine Frage der Zeit, wann sie obsolet werden.

Janina Kugel sieht hier sehr wohl die Unternehmen in der Pflicht, Pakete zu Weiterqualifikationen für betroffene Mitarbeiter zu schnüren. Sabine Herold pflichtet ihr bei, gibt jedoch zu bedenken, dass lediglich Großkonzerne und nur wenige wirklich sehr gut aufgestellte Mittelständler dazu die nötige Infrastruktur hätten. „Solche Angebote können kleinere und mittelständische Unternehmen vor allem in ländlichen Regionen nicht leisten. Der Weiterbildungsmarkt muss hierzulande noch stark entwickelt und auch gefördert werden.“

Angst und Skepsis überwinden

Voraussetzung ist, dass Mitarbeiter auch bereit sind, den Veränderungsprozess zu gehen. In dem Zusammenhang kommen beide auf Ängste zu sprechen. Allein zu akzeptieren, dass man im Job nicht mehr gebraucht wird, sei schon kaum zu ertragen. „Man stelle sich vor, man hat eine qualifizierte Ausbildung, zwanzig Jahre in einem Unternehmen erfolgreich gearbeitet und jetzt soll man nochmal die Schulbank drücken und sich Prüfungen unterziehen, um eine Weiterqualifikation zu absolvieren? Das ist nicht einfach“, erklärt Sabine Herold. Es muss in der Unternehmenskultur verankert sein, dass ein solcher Prozess ganz normal ist. Wichtig, dass mit diesen offen umgegangen wird und gemeinsam nach Lösungen sucht.

In diesen Fragen sind Führungskräfte mehr denn je gefordert. Das alte Führungsprinzip „command and control“ hat ausgedient. Gefragt sind Gestaltungsspielräume, Crowdsourcing, agile Prozesse, innovative Methoden der Mitarbeiterführung. Nicht jede Führungskraft kommt damit zurecht, oft kommen Zweifel auf. Janina Kugel zitiert eine Führungskraft aus dem Siemens-Konzern: „Ich habe Angst davor, die Kontrolle zu verlieren, wenn all meine Mitarbeiter agil und mit Scrum arbeiten.“

Beide Managerinnen sind davon überzeugt, dass sich die Uhr nicht mehr zurückdrehen lässt. Sie appellieren an Gesprächsbereitschaft und offenen Diskurs eines jeden. Nur so lassen dich die Herausforderungen der digitalisierten Arbeitswelt bewältigen.

Foto: Thorsten Jochim


IT-Spezialistin Carolin Desirée Töpfer

Digitalisierung ist ein Konflikt der Weiterbildung

Carolin Desirée Töpfer ist Diplom-Politologin und Spezialistin für die digitale Transformation mittelständischer Unternehmen. Sie beschäftigt sich seit ihrer Teenager-Zeit mit Programmierung und Zukunftstechnologien, später dann auch mit Datenschutz und IT Sicherheit. Auf den B2B Marketing Days in Würzburg lerne ich sie persönlich kennen und merke schnell, wie sehr sie für ihre Sache brennt. Sie glaubt an die Sogwirkung von Digitalisierung und Technologie für junge Talente - Stichwörter New Work und Gamification. Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft für Veränderung in Unternehmen. Im Interview schildert sie mir ihre Sicht der Diskrepanz zwischen Technologie und Weiterbildung.

Wie kam es dazu, dass du dich für IT begeisterst?

Das habe ich wohl meinem Umfeld und einem sehr engagierten Informatiklehrer am Gymnasium zu verdanken. Wir hatten dort ein MINT-Zentrum und ich habe etwa mit 14 Jahren mit Web Design und Programmieren angefangen. Man muss sich meine Begeisterung damals als Teenager wirklich so vorstellen: Nach der Schule zuhause die Rolläden runter und viel Zeit vor dem Bildschirm! Abgesehen davon habe ich mich aber auch als Schülersprecherin engagiert und wurde FDP-Mitglied.

Was war denn dein größtes IT Projekt als Schülerin?

Ich habe eine Music-Community aufgebaut, eine Website, über die sich lokale Bands präsentieren, zusammenfinden und mit ihren Fans austauschen konnten. Das waren dann irgendwann 20 Bands, die zusammen viel einfacher Konzerte organisieren konnten. Später gab es auch Festivals und wir hatten ein Street-Team, das auf der Straße Flyer verteilt hat. Das Ding ist sukzessiv gewachsen, obwohl wir damals nur ein Gästebuch integrieren und MySpace nutzen konnte, da es die großen Social Media Plattformen so noch nicht gab. Das war eine spannende Zeit.

 

"Die Einsicht für lebenslanges Lernen wird hierzulande noch viel zu wenig propagiert und gelebt."

 

Und wie ging es dann weiter?

Eigentlich wollte ich Wirtschaftsjournalistin werden. Der beste Rat, den ich dann während eines Praktikums beim Handelsblatt Verlag bekommen habe, war, das zu studieren, was mich wirklich interessiert. Ich entschied mich für Politikwissenschaften mit VWL als Schwerpunkt und betrieb meine Technologiethemen eher nebenher als Hobby.

Wie wurde das Hobby dann doch zum Beruf?

Als ich ins Berufsleben einstieg und die ersten Erfahrungen in Unternehmen sammelte, u.a. in der Finanzbranche, musste ich feststellen, dass meine Technologie zuhause mehr state-of-the-art war als die in den Unternehmen.  Und da meine Kollegen schnell merkten, dass ich mich mit Datenbanken auskannte, sah ich mich plötzlich in der Rolle derjenigen, die die bestehende Technologie analysieren sollte, Datenprojekte übernommen hat und Briefings über Server-Latenzen erstellte.

So kam es dann auch zur deiner Gründungsidee?

Ja. Digitalisierung bedeutet eine grundlegende Veränderung – auf allen Ebenen einer Organisation. Das fällt vielen Mitarbeitern und Führungskräften so ganz ohne technische Kenntnisse besonders schwer. Ich bin in den Unternehmen, in denen ich gearbeitet habe, selbst immer wieder an Grenzen gestoßen, wenn es um digitale Zusammenarbeit und einfache Datenlösungen ging. Das war eine bittere Erfahrung. Ich hatte oft den Eindruck, wenn man als interner Mitarbeiter Probleme lösen will, läuft man gegen Betonwände. Gleichzeitig habe ich mir dann gedacht, dass bei diesen Themen ein externer Helfer die Unternehmen enorm weiterbringen würde. Genau das mache ich heute: Tech Coachings für Führungskräfte, Team Workshops und Vorträge über die verschiedenen Aspekte der Digitalen Transformation.

Inwiefern stehen sich Unternehmen selbst im Weg?

Ich empfinde es als persönlichen Vorteil, auch als Chefin ständig etwas Neues lernen und testen zu dürfen. Die Mentalität in vielen deutschen Unternehmen sieht aber ganz anders aus. Die Hierarchedenke hält an alten Strukturen fest und blockiert. Machtgefüge und Seilschaften spielen dabei eine große Rolle. Es geht oftmals darum, eine Position, in die man sich hochgearbeitet hat, zu halten. Viele Manager dürfen niemals zugeben, dass sie etwas nicht wissen. Auch meine Tech Coachings finden häufig virtuell statt oder so, dass es die Mitarbeiter meiner Klienten nicht mitbekommen.

Ist die Digitalisierung ein Generationenkonflikt?

Das habe ich am Anfang gedacht. Mittlerweile sehe ich es eher als Weiterbildungskonflikt. Ein solides Basiswissen zu digitalen Themen – und auch der Technik dahinter - gibt es in unserer Gesellschaft nicht, weil eine entsprechende Aus- und Weiterbildung nicht allen Gesellschaftsschichten und Altersgruppen gleichermaßen gewährt wird. Die Einsicht für lebenslanges Lernen und die entsprechende Verantwortung des Einzelnen und der Unternehmen, wird hierzulande noch viel zu wenig propagiert und gelebt. Das große Ganze wird oft nicht gesehen und die Zukunft hat derzeit noch einen zu niedrigen Stellenwert. Auch, weil viele aktuelle Führungskräfte die Zukunft nur noch als Rentner erleben werden.

Welche Learnings kannst du Berufseinsteigern geben?

Zum einen müssen sie sich von dem Gedanken verabschieden, viele Jahre in ein und demselben Unternehmen arbeiten zu können und dort einen quasi automatischen Karriereweg einzuschlagen. Zum anderen wäre mein Rat, den Real-Life-Check zu machen: Heuer nicht nur bei hippen Start-Ups oder erfolgreichen Konzernen an, sondern arbeite auch mal bei bodenständigen Mittelständlern. Am besten bei denen mit dem langweiligsten Produkt. Schau dir das Unternehmen von innen an und achte darauf, was nicht funktioniert. Und stell dir dann die Frage, mit welchem disruptiven Geschäftsmodell man den Laden umkrempeln könnte. So erzielst du die besten Learnings, die du in jeden anderen Job mitnehmen kannst.

 

"Händeringend gesuchte Fachkräfte können sich heutzutage ihre Arbeitgeber nach Wohlfühlkriterien aussuchen."

 

Was müssen Unternehmen jungen Talenten heutzutage bieten um attraktive Arbeitgeber zu sein?

Ich bekomme immer wieder Gegenwind, wenn ich davon spreche, dass man von überall aus arbeiten können sollte und dass Arbeit Spaß machen darf. Für viele Führungskräfte geht das nicht zusammen. Die denken, ein Mitarbeiter ist nur produktiv, wenn man ihn sehen kann und Spaß ist etwas für die Freizeit. Absolute Fehlanzeige! Wer seinen Mitarbeitern keinen Spaß und Zugang zu neuen Technologien und digitalen Tools gönnt, bekommt also zunehmend Recruiting-Probleme. Dazu gehören auch Weiterbildungen mit Gamification-Ansatz. Alles was Spaß macht, muss auch im Büro stattfinden dürfen. Dafür muss Arbeit vielerorts anders gedacht und neu organisiert werden.

Wie wird man zum attraktiven Arbeitgeber? Welche Veränderungsprozesse muss man anstoßen?

Ich glaube, man sollte Bewerber und Mitarbeiter wertschätzen und unabhängig von der Art des Jobs, dem Alter und der Erfahrung des Arbeitnehmers mit ihm sprechen, also Feedback annehmen. Anhand der IT-Infrastruktur und dem Nutzerverhalten der Mitarbeiter kann ich zum Beispiel sehr schnell erkennen, ob ein Unternehmen heute schon digital affine Bewerber glücklich machen kann. Viele bleiben da leider hinter ihren eigenen Werbe-Versprechen zurück. Technisch attraktiv zu werden kostet Zeit und Geld. Aber wenn der Großteil der Belegschaft mitzieht, geht es schneller und kostet weniger.

Welche technologischen Veränderungen erwartest du in Zukunft?

Was die Zukunft angeht, finde ich vor allem den Hardware-Bereich interessant. Da gibt es noch viele Lücken im Angebot. Wenn man mit Technologiefans spricht, die z.B. bei Chip-Herstellern oder im Datencenter-Bereich arbeiten, weiß man relativ schnell, was in zehn bis 20 Jahren Alltag sein wird. Ich bin davon überzeugt, dass es in zehn Jahren keine Smartphones mehr geben wird, sondern wir Lösungen wie Google Glass wieder auf der Straße sehen und uns mit kleinen Geräten auseinandersetzen müssen, die sich in Echtzeit mit unserem Körper bzw. unserem Gehirn vernetzen möchten. Das Internet of Things mit all seinen Mini-Computern und Sensoren bietet enorm viele tolle Möglichkeiten.

Welche Ziele setzt du dir für deine berufliche Zukunft?

Im nächsten Jahr steht der Schritt in den US Markt an. Ich habe gelernt, dass man mit Zielen vorsichtig sein muss. Gerade in meinem Fachbereich dauert es am Ende doch immer länger, als ich es mir wünschen würde. Ich hatte übrigens keinen Plan dort zu landen, wo ich heute stehe, bin aber dankbar für die Erfahrungen – die aus meiner Zeit als Arbeitnehmer und besonders die letzten knapp drei Jahre als Gründerin. Dabei wollte ich eigentlich nicht gründen, bevor ich 30 bin. Das ist im nächsten Jahr der Fall. Ich entwickle gerne Ideen, lerne dazu, probiere Dinge aus und schaue, wohin sie mich führen. Meistens vermeide ich anschließend einfach, was für mich nicht funktioniert oder wovon mein Bauchgefühl mir abrät. Bisher bin ich damit ganz gut gefahren.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Weiterführende Links:

Carolins Blog Digitalisierung-jetzt.de zählt im deutschsprachigen Raum zu den renommiertesten, wenn es um die Digitalisierung von Mittelständlern geht.


Monokultur Gruppendenken 2018

Diversität als Ressource

Das Frauennetzwerk Media Women Connect und Medientage 2018. Emotionen kochen hoch, die Kluft kann kaum größer sein. Auf der einen Seite das Manifest der Media Women Connect, das u.a. eine Verpflichtung des Veranstalters für einen Anteil von  50 Prozent Frauen auf den Bühnen der Medientage im Jahr 2021 fordert. Auf der anderen Seite die These von Medientage-Chef Stefan Sutor, die Innovationspodien liebend gerne mit mehr Frauen besetzen zu wollen, wenn es denn Expertinnen in dem Bereich gäbe. Ein sachlicher Diskurs auf der Bühne kaum möglich. Prof. Dr. Isabell M. Welpe von der TU München nähert sich den Themen Diversität und Disruption aus einer verhaltenswissenschaftlichen Perspektive.

„Wie viele Manager und Risikokapitalgeber behaupten von sich, sie würden so gerne Frauen fördern und deren Geschäftsideen finanzieren, wenn sie nur welche fänden? Sie geben den Frauen die Schuld. Andersherum würde ein Schuh draus: Frauen wären als Gründerinnen und Führungspersönlichkeiten sichtbarer und viel erfolgreicher, wenn sie im gleichen Maße finanziert würden. Es ist ein hässlicher Kreislauf: Die eine Seite sagt, sie könne keine guten Frauen finden, die andere Seite sagt, die Anstrengung sei es nicht wert.“

So spricht jemand, die es am eigenen Leib erfahren hat. Vivian Ming, Tech-Unternehmerin aus den USA, die sich einer Geschlechtsumwandlung unterzogen hat und erfahren muss,  dass sie als Frau anders behandelt wird als seinerzeit als Mann. Isabell Welpe zitiert Vivian Ming in ihrer Keynote auf den Medientagen, um aufzuzeigen, in welchem Teufelskreis wir uns in der Diversitätsfrage befinden. Und das in einer Epoche des Fachkräftemangels, in der die deutsche Wirtschaft es sich eigentlich nicht leisten kann, auf den Impact und die personellen Ressourcen von Frauen in Führungspositionen zu verzichten.

Veränderung und Geschwindigkeit

Das alt bekannte lineare Wachstum wird im Informationszeitalter vom exponentiellen Wachstum abgelöst. Noch befinden wir uns in der Ära des Datensammelns. Erfolg werden diejenigen haben, die den größten Datensatz zum Trainieren von Künstlicher Intelligenz haben. Blockchain wird das Internet revolutionieren und das Netz demokratisieren. Wir stehen gerade erst am Anfang dieser Entwicklung. Nie war die die Chancen für neue Geschäftsmodelle so groß. Die Kehrseite der Medaille: Noch nie war das Risiko so groß, dass unternehmerisches Handeln in kürzester Zeit obsolet wird, da es von einem neuen Geschäftsmodell abgelöst wird.

Die Halbwertszeit eines Unternehmens betrug im Jahr 1984 noch 30 Jahre, heute liegt sie bei fünf Jahren, so die IBM Leadership Survey. Was das für Management und Führungskräfte bedeutet, bezeichnet Isabell Welpe als Wildwasserbahnfahrt. Führungskräfte müssen sich jeden Tag neu die Existenzfrage stellen. Charles Darwin wusste schon damals: Nur die Spezies wird überleben, die bereit ist, sich zu verändern. Heute muss man im wirtschaftlichen Kontext wohl noch den Zeitfaktor einkalkulieren. Nur diejenigen Unternehmen überleben, die sich am schnellsten den Veränderungen anpassen.

Männliche Monokultur in den Chefetagen

Isabell Welpe nennt Ansatzpunkte, wie Unternehmen sich den disruptiven Veränderungen stellen können. Es gilt, die Pain Points zu finden. Die liegen da, wo man angreifbar ist. Um das herauszufinden, muss man seine eigenen Schwachpunkte  erkennen. Hilfreich,  sein unternehmerisches Handeln jeden Tag aufs Neue zu hinterfragen. Das verlangt nicht nur Mut, sondern fordert unabhängige Denkweisen und andere Perspektiven. Dazu bedarf es Menschen, die anders denken, anders ticken als man selbst.

Wie sehen aber derzeit die Chefetagen der deutschen Wirtschaftsunternehmen aus?  Eine Studie der Albright Stiftung belegt, dass lediglich 12 Prozent der Vorstandsmitglieder der 30 Dax-Konzerne weiblich sind (Stand: April). Deutschland befinde sich damit auf einer Stufe wie Indien und die Türkei mit einem Frauenanteil von jeweils rund 10 Prozent in der Führungsetage. Nicht nur traditionelle deutsche Industrieunternehmen bleiben männerdominiert, auch vermeintlich hippe und moderne Arbeitgeber aus der Medien- und Digitalbranche wie Rocket Internet und Zalando setzen nicht auf Frauen in Führungspositionen.

In der Diversität liegt die Chance

Die männerdominierte Monokultur in deutschen Unternehmen hat eine vermeintlich einfache gesellschaftliche Ursache, so Isabell Welpe. Menschen, die sich ähnlich sind, sind sich sympathisch und bilden Interessensgruppen. Auch das Festhalten am Gewohnten bremst die Entwicklung des Frauenanteils in deutschen Konzernen. Zur Bewältigung der Aufgaben von Digitalisierung und disruptivem Wandel ist diese Monokultur jedoch kontraproduktiv.

Die Problematik: In Zeiten der Unsicherheiten und Veränderungen verfallen Menschen den gelernten Verhaltensmustern und denken in Stereotypen. Sie sind unbewusst voreingenommen und das führt unbeabsichtigt zu Diskriminierungen, die schwer greifbar sind. Stereotypen hindern daran, Kreativität und Proaktivität unabhängig von allen soziodemografischen Merkmalen zuzulassen. Wichtig aber wäre, die (Geschlechter)stereotypen  zu überwinden und  Diversität als Ressource frei zu setzen. Das kann nur durch einen gesellschaftspolitischen Diskurs und gemeinsame Maßnahmen Medien, Bildung. Wissenschaft und Wirtschaft erfolgen.

 

Weiterführende Links

Interview Vivian Ming in der FAZ

Manifest der Media Women Connect

Konferenz zu Unconscious Bias und Stereotypen an der Technischen Universität München.

 

 


Aufmacher Job 4.0

Bereit für Job 4.0?

Die Mitte September veröffentlichte Studie des Weltwirtschaftsforums (WEF) belegt in nackten Zahlen, was wir schon lange ahnen. Die Digitalisierung verändert die Arbeitswelt radikal. Bis 2025 werden mehr Aufgaben von Robotern und Algorithmen erledigt als von Menschen. Millionen Jobs werden dadurch wegfallen. Die gute Nachricht: Noch mehr neue entstehen! Auf der Karrieremesse #hercareer in München letzte Woche diskutierten Expert*innen, welche Qualifikationen und Skills für neue digitale Berufe erforderlich sind.

Product Owner, Data Scientist, Social Media Manager, E-Commerce Specialist – mit der Digitalisierung wandeln sich heutige Job-Profile und völlig neue kommen hinzu. Die WEF-Studie prognostiziert, dass in Zukunft die  Nachfrage für eine Vielzahl von völlig neuen Fachrollen entstehen wird, die eng mit neuesten technologischen Entwicklungen verknüpft sind. Dazu zählen Berufsbezeichnungen wie zum Beispiel KI- und „Machine-Learning“-Spezialisten, Big Data-Experten, User-Experience-Designer, Robotik-Ingenieure und Blockchain-Spezialisten.

Dagmar Plieske, VP Business Intelligence & Customer Insights bei Payback weiß, dass man für die digitale Arbeitswelt nicht unbedingt IT-Spezialist oder Programmier-Nerd sein muss. „Aber eine gewisse technische Affinität und ein Interesse an digitalen Themen sind absolute Voraussetzungen.“ Oft ginge es bei den Jobs vor allem darum, ein Verständnis für die Technologien zu entwickeln und den Mehrwert für „Otto-Normalverbraucher“ zu erkennen – also eine Übersetzerrolle einzunehmen. „Die Softwareentwickler sind kreative Köpfe und wollen sich austoben, wobei die Geschäftsführung zu Recht nach dem Business Case fragt. In diesem Spannungsfeld gilt es, die richtigen Projekte und Produkte zu identifizieren. Das erfordert Fingerspitzengefühl“, so Dagmar Plieske weiter.

Fabian Dill, Gründer und Geschäftsführer der Digitalen Produktmacher bestätigt, dass bei der Entwicklung digitaler Produkte das Schnittstellenmanagement extrem wichtig ist. Dafür seien vor allem emotionale Intelligenz und Kommunikationsfähigkeiten gefragt. Qualifikationen, die sich nicht unbedingt aus Zeugnissen ablesen lassen. „Bei Einstellungsgesprächen achte ich vielmehr auf das Mind-Set des Bewerbers“, erklärt der Digitalberater. Dabei stehen innere Motivation, Anpassungsfähigkeit sowie Teamgeist im Vordergrund. In seiner Beratungsagentur gibt er den Mitarbeitern viel Freiraum für Austausch und kreative Prozesse. Das setzt aber ein hohes Maß an Selbstorganisation und Eigenverantwortung voraus. Fähigkeiten, die auch laut der WEF-Studie in Zukunft immer mehr gefragt sind.

Digitalisierung erfordert lebenslanges Lernen

Auch werden für Jobs  ganz neue Fachkenntnisse nötig sein. Kernkompetenzen vieler Berufe verschieben sich immer weiter in Richtung Technologie- und Prozess-Knowhow. So werden laut der WEF-Studie 58 Prozent aller Arbeitnehmer bis 2022 erhebliche Neu- und Weiterqualifizierungen benötigen – davon seien ganze 19 Prozent auf eine zusätzliche Ausbildung beziehungsweise Umschulung angewiesen, die zwölf Monate oder länger dauert. Zwei Drittel aller Unternehmen erwarten sogar von ihren Mitarbeitern, dass sie ihre Fähigkeiten mit den sich verändernden Jobanforderungen selbst weiterentwickeln und sich auf eigene Faust weiterbilden.

„Unternehmen werden zu lernenden Organisationen – diesen Schritt müssen auch die Mitarbeiter gehen“ ist Katja Vater, Audience Development Managerin bei der Süddeutschen Zeitung Digitale Medien, überzeugt. Es werde dafür eine hohe Bereitschaft für lebenslanges Lernen verlangt.  Wichtig sei, dass dies aus einem inneren Antrieb heraus erfolge. Es sei unmöglich, Menschen weiterbilden und –entwickeln zu wollen, die sich dem Neuen verweigern.

#DMW Podiumsdiskussion auf der HerCareer am 12.10.2018 in München. V.l.n.r: Fabian Dill, Moderatorin Simone Fasse, Dagmar Plieske, Katja Vater und Maren Martschenko.

Durch Netzwerke in Position

„Heute gibt es den klassischen Karriereweg nicht mehr“, so Maren Martschenko, Vorsitzende des Netzwerks Digital Media Women #DMW. Durch die Digitalisierung sind alte Strukturen stark im Umbruch. Alte Rollenklischees und Hierarchiedenke funktionieren nicht mehr. Auch die Unternehmen selbst müssen sich verändern. Dabei werden sich in Zukunft neue Chancen speziell für Frauen auftun, ist die Markenberaterin für Solopreneure und Start-Ups  überzeugt. In ihrer Rolle als Aktivistin für die Digital Media Women beobachtet sie derzeit eine Entwicklung, die sich positiv auf die Rolle der Frauen im Arbeitsleben auswirken kann: „Die Generation der Frauen, die heute auf den Arbeitsmarkt kommt, ist fordernder und findiger. Sie organisieren sich in Netzwerken, lösen sich aus den Klischees und werden selbst zum Vorbild. Sie erkennen die Möglichkeiten, aus einem funktionierenden Netzwerk heraus Dinge zu gestalten und zu verändern.“ Gepaart mit Neugier und Leidenschaft ein Erfolgsrezept – übrigens nicht nur für Frauen.

Weiterführende Links

WEF-Report "the future of jobs" 2018 

#DMW

 

 


Digitalberater Friends of C.

Porträt Dr. Armand Farsi: Der couragierte Driver

Dr. Armand Farsi ist promovierter Sozialwissenschaftler, Digitalberater bei Friends of C. von Arvato-Bertelsmann und Host des Podcasts „Commerce Corner“. Persönlich treffe ich ihn zum ersten Mal auf dem diesjährigen E-Channels Day. Selten bin ich im beruflichen Umfeld einer solch empathischen und authentischen Person begegnet. Klar strukturiert in seinen Auffassungen gepaart mit einem humorvollen Charakter. Ideale Voraussetzungen für einen Digitalmacher.

Armand ist Deutsch-Iraner. Auf seinem Lebensweg stellt er fest, je weiter er perspektivisch kommt, umso weniger Migranten sind um ihn herum. Das geht los in seinem Studium, konkret bei seinem Schwerpunkt Internationale BWL in Tübingen, und setzt sich in den Stipendienprogrammen und bei seinem Berufseinstieg bei Boston Consulting Group fort. Seine persönliche Erfahrung: Ehrgeizige Studierende aus anderen Kulturkreisen zeigen oft überdurchschnittliche Leistungsbereitschaft. Dennoch stoßen sie offenbar an unsichtbare Grenzen und finden nicht leicht den Weg zu herausragenden Positionen in Wirtschaft, Forschung, Politik oder Kultur. Das Thema treibt ihn um.

Habitus und Netzwerk

Starke Karrieren beruhen nicht allein auf Leistung, Netzwerk und Habitus sind ebenso wichtig. Das lernt Armand schnell bei BCG. Er beobachtet dort aufmerksam, wie Netzwerke funktionieren und wie wichtig Sozialkapital ist. Durch ein paar Zufälle, die richtigen Begegnungen und Kontakte fällt er im Jahr 2009 eine unkonventionelle Entscheidung. Statt die Karriereleiter bei BCG weiter hochzusteigen, wechselt er das Fach und promoviert in Sozialwissenschaften an der Universität Hamburg.

In seiner Dissertation untersucht er, welche Voraussetzungen Migranten für eine Karriere in der Wirtschaft benötigen. Er kommt in seiner quantitativen Studie zu dem Ergebnis, dass diejenigen, die sich überwiegend in migrantischen Zirkeln bewegen, schlechtere Karriereperspektiven haben. „Es gilt den Effekt der sozialen Herkunft abzufedern. Migrantenkinder aus bildungsfernen Schichten müssen außerdem früh an identitätsstiftende kulturelle Inhalte herangeführt werden.“ Auch heute engagiert er sich noch in diesem Bereich und steht dem Hamburger Schotstek e. V. pro bono mit Rat zur Seite. Über Schotstek erhalten Migranten Zugang zu einem karrieredienlichen Netzwerk mit Ratgebern, Mentoren und Türöffnern aus der Hamburger Society.

Mut zu Entscheidungen

Nach der knapp dreijährigen Promotion kommt Armand 2012 über einen Headhunter zur E-Commerce-Schmiede für Fashion Brands Netrada. Bei diesem Karriereschritt ins Digital Business entscheidet er sich nicht zuallererst für das Unternehmen, sondern für seinen Chef: Dr. Tu-Lam Pham, damals dort als Director Performance Management positioniert. 2014 wird die Netrada von Arvato-Bertelsmann übernommen, Armand steigt in die Führungsebene auf. Im Juli 2018 wird sein Bereich zusammen mit anderen Digitalsparten in eine eigene Digitalagentur „Friends of C.“ ausgegründet. C steht für Commerce, Courage und Code. Er gehört zur Führungsmannschaft und propagiert vor allem eines: Mut zur Veränderung.

„Mit inspirierenden Leuten digitale Erfolgsmodelle bauen,
die im knallharten Wettbewerb nachhaltig bestehen - dafür schlägt mein Herz.“

Für ihn steckt im digitalen Umbruch etwas ganz Besonderes. Er nennt es Mutkultur. Um in disruptiven Zeiten wettbewerbsfähig zu bleiben, sollte man sich seiner Meinung nach Fragen über die fundamentalen Aspekte wie Mindset, Methoden und Organisationsstruktur stellen. Wie sehr stellt man den Kundennutzen in den Vordergrund? Wie mutig, technologisch befähigt und schnell bzw. schlank ist man aufgestellt für die Realisierung von Produktexperimenten? Wie viele Wetten und damit auch Fehler traut man sich zu?

Tiefgang in die digitale Szene

Mit diesen Fragen beschäftigt Armand sich nicht nur in der Rolle als Digitalberater und Führungskraft bei Friends of C. sondern auch, als er im August 2017 seinen eigenen Podcast ins Leben ruft.  Als Freund der schnellen Entscheidung probiert er mit einfachsten Mitteln aus, ein minimal überlebensfähiger Podcast auf die Beine zu stellen und zu testen, wie das Projekt im Markt ankommt. Inspiriert von „The Jason and Scot Show”, ein wöchentlicher Podcast über die E-Commerce-Branche aus den USA von Jason "Retailgeek" Goldberg und Channel Advisor Gründer Scot Wingo, lässt er kluge und einflussreiche Unternehmer zu Wort kommen. Im Fokus: Tiefe Tauchgänge zu Schlüsselthemen der digitalen Szene.

„Mit Commerce Corner habe ich im Kleinen das umgesetzt, was ich meinen Kunden ständig predige: Ein sogenanntes MVP – minimum viable product.“

Die positive Resonanz der Digitalbranche ermutigt ihn, das Projekt weiter voranzutreiben und mehr und mehr zu professionalisieren. Er sieht den Podcast als Lernplattform - für andere, aber auch für sich selbst. „Um spannende Geschichten zu kreieren und die Gedanken meiner Gesprächspartner spiegeln zu können, muss ich mich mit vielen neuen Themen und Branchen auseinandersetzen.“

Perspektive: Inspiration und Impact

Nachdem Armand bisher in seiner Karriere zum einen als Strategieberater Geschäftsmodelle konzipiert und zum anderen in seiner jetzigen Position als Digitalberater „hands-on“ konkrete Projekte auf die Straße gebracht hat, kann er sich vorstellen, sich perspektivisch noch mehr in den „Driver’s Seat“ zu begeben – in welcher Rolle er sich dann auch immer wiederfinden mag. Vermeiden will er politische Rangeleien, die aus seiner Sicht extrem energieraubend sind. „Taktieren ist nicht mein Ding, dafür ist mir meine Lebenszeit zu kostbar.“ Er will in Zukunft Digitales Business so gestalten, dass er damit auch einen relevanten Wirkungsgrad im Markt erreicht.


Digitalisierung Schweiz

Porträt Thomas Lang: Der Schweizer Digitalbotschafter

Thomas Lang ist Gründer und Berater. Er ist gefragter Publizist und Dozent rund um die Themen E-Commerce und digitale Transformation im Handel. Kaum ein anderer bringt ein solch langjähriges Branchen-Knowhow mit. Seine Schweizer Herkunft kann er mit seinem sympathischen Akzent nicht verleugnen. Auf der K5 treffe ich mich zu einem ausführlichen Gespräch mit dem digitalen Gesandten aus der Schweiz. Schnell wird mir klar, was sein Erfolg ausmacht: Seine Leidenschaft für digitale Themen und sein diplomatisches Geschick.

Thomas Langs Gründergeschichte hat schon in der zweiten Hälfte der 1980er Jahren seinen Ursprung. Damals schon an Computertechnologien interessiert, schreibt er erste Anwendungen in seiner Banklehre. Während seines Studiums der Betriebsökonomie in Zürich schaltet er die ersten Websites live, damals noch über Compuserve. „Mich hat das immense Potenzial fasziniert, wenn man jeden Rechner – und heute jedes Gerät oder jedes Atom – miteinander verbindet und sich auf eine quasi unsichtbare Struktur verlassen kann.“ Nach seiner Ausbildung lebt er mehrere Jahre in Kalifornien, startet seine Karriere in der Tourismusbranche. Ende der 90er ist er einer der ersten, der Reisen online verkauft – mit Erfolg. Nur die von ihm konzipierte Reisetour durchs Silicon Valley ist ein absoluter Flop. Der sogenannte „Silicon Valley Explorer“ bringt nicht eine einzige Buchung. Als designierter Vordenker ist er damit einfach 15 Jahre zu früh.

E-Commerce Experte der ersten Stunde

Zurück in der Schweiz gründet er im Jahr 2000 Carpathia. „Gegen den digitalen Tsunami kann man entweder Dämme oder Schiffe bauen, ich habe mich damals für das Schiff Carpathia entschieden und das war goldrichtig“, blickt er schmunzelnd zurück. Der Name der Agentur ist repräsentativ für die Firmenphilosophie und Thomas Einstellung zum digitalen Business. „Die Carpathia war das Schiff, das als erstes und als einziges überhaupt der Titanic zu Hilfe eilte, als diese in Seenot geriet und unterging.“ Er möchte ein Garant für nachhaltige Lösungen sein, der Warnsignale frühzeitig wahrnimmt, keine Extrameile scheut und ein verlässlicher Partner ist. Was damals als Beratungsagentur für E-Commerce beginnt, steht heute ganzheitlich für die digitale Transformation. Dafür haben er und sein Team vor allem das Verständnis für Mechanik und Ausprägungen digitaler Geschäftsmodelle an Deck.

„Wer jetzt nicht auf den Digital-Zug aufspringt, investiert in ein endliches Geschäft.“

Thomas ist ein leidenschaftlicher Verfechter der Digitalisierung, egal in welcher Branche, ob im Handel, in der Industrie, im Dienstleistungssektor oder in anderen Bereichen. „Was wir heute erleben, ist erst der Anfang. Es bieten sich für viele noch ungeahnte Potenziale wie auch Gefahren.“ Seine Mission ist, mitzugestalten, klare Akzente zu setzen und sein Knowhow zu teilen. Er sieht sich als Visionär und will überall dort Aufrütteln, wo er der Ansicht ist, dass die Lage noch unterschätzt wird. Damit macht er sich nicht immer nur Freunde, aber er hält überzeugt an seiner Mission fest. Er will heute und auch morgen die relevante Stimme im Schweizer Digital Commerce sein.

Zu Deutschland hat er ein ganz besonderes Verhältnis. Er ist sehr oft in Deutschland unterwegs. Früher mehr privat und heute eher beruflich. „Ich bin ein Mensch, der nicht gerne in Grenzen denkt und fühle mich im ganzen deutschsprachigen Raum zu Hause.“ Vielleicht ist das einer der Gründe, warum Thomas auch hierzulande ein beliebter und gefragter Experte ist. Vor allem in der Frage, wie man einen deutschen Shop effizient „helvetisiert“, damit er auch bei den Eidgenossen im Nachbarland funktioniert. Aber auch in klassischen Beratungsfragen, bei denen sich viele deutsche Unternehmen einen internationalen Außenblick wünschen, wird er zu Rate gezogen.

Manager ist nicht gleich Unternehmer

In seiner Beraterlaufbahn ist ihm schon viel untergekommen. Für ihn lassen sich Unternehmen typologisieren, und zwar nicht bezüglich ihrer Herkunft, sondern hinsichtlich ihrer Denkweise. Bei Unternehmen, die von einem klassischen Management geführt werden oder gar zu einem Konzern gehören, liegt der Fokus nach seinem Geschmack viel zu kurzfristig. „Es ist teilweise erschreckend, wie wenig Manager unternehmerisch denken. Ich habe schon oft fragwürdige Entscheidungen fallen sehen, weil das Management einen unmittelbaren Bezug zum persönlichen Vorwärtskommen oder Incentivierung hat.“ Familiengeführte Unternehmen sind dagegen aus seiner Sicht viel aufgeschlossener, denken langfristig und rechnen ihre Investitionen ganz anders. Es geht um viel nachhaltigere Überlebensfragen und um die Sicherung einer soliden Basis für die nächste Generation.

„Jedes Unternehmen kann mithilfe einer adäquaten Digitalisierungsstrategie mehr aus seinem Geschäftsmodell herausholen.“

Er selbst zählt sich eher zu den unternehmerisch, strategisch langfristig denkenden Unternehmern. Seine persönlichen Ziele in seinem Job definiert er fokussiert für das Team von Carpathia: Er möchte die Agentur weiterhin auf Erfolgskurs halten und die Crew bedacht und ausgewählt vergrößern. „Wir wollen immer eine Boutique bleiben. Klein aber fein. Klasse statt Masse. Damit unterscheiden wir uns auch bewusst von klassischen Unternehmensberatungen.“ Seinen langersehnten Traum erfüllt er sich dieses Jahr zu seinem 50. Geburtstag. Mit der Queen Mary 2 schippert er von Hamburg nach New York. Zuvor feiert er aber mit der ganzen Schweizer Digitalbranche den siebten Digital Commerce Award in Zürich, den er selbst ins Leben gerufen hat. Eine gute Kombination für einen persönlichen Meilenstein, wie er findet.