Ethische Innovation im digitalen Zeitalter: Werte sind das neue „Bio“
Sarah Spiekermann ist Professorin an der Wirtschaftsuniversität Wien. Sie leitet dort das Institut für Wirtschaftsinformatik und Gesellschaft. Seit über zehn Jahren lehrt und forscht sie zu sozialen Fragen der Internetökonomie und Technikgestaltung. Auf der OOP Konferenz in München vergangene Woche hält sie einen Impulsvortrag über ethische Innovation. Sie ist davon überzeugt, dass sich die Frage nach digitaler Ethik nicht nur auf die derzeit diskutierten Themen wie Privacy, Security, Bias und Transparency beschränken darf. Sie fordert ein Umdenken in der System- und Softwareentwicklung, in dem Werte anstelle von Funktionalität treten. Und zeigt dies exemplarisch an einem experimentellen Case der Essenslieferplattform Foodora.
Was verstehen wir unter Innovation? Was ist Fortschritt? Welche Philosophie legen wir mit den Begrifflichkeiten zugrunde? Dazu führt Sarah Spiekermann in einen historischen Exkurs. In der Antike ist es Aristoteles, der die Welt mit seiner Erfahrungswissenschaft weiterentwickelt. Weisheit, Klugheit, emotionale Intelligenz des Menschen stehen dabei im Vordergrund. Im 12. Jahrhundert prägt der Philosoph Albertus Magnus den Begriff der Innovation mit experimenteller Wissenschaft. Es geht darum, „neue Dinge zu erfinden“. Der Spirit „neu ist gleich innovativ ist gleich gut“ macht Europa groß und reich. Erfindungen wie der Buchdruck, der Kompass, der Motor oder die Elektrizität ermöglicht den Menschen in Europa völlig neue Entwicklungspotenziale. Aus der Agrargesellschaft entwickelt sich eine Industriegesellschaft und der Fortschritt wird immer weiter vorangetrieben.
Faszination Technik veraltet
Durch den Sprung ins Informationszeitalter hat die Innovationskraft eine neue Dimension erreicht. Die Geschwindigkeit, in der technologische Entwicklungen voranschreiten, wächst exponentiell. Das hat Folgen: „In einer von der IT durchzogenen Welt ist diese Objekt unseres Designwillens. Wenn wir heute genau hinschauen, sehen wir lauter Dinge und Funktionalität. So funktionieren heute auch Unternehmen und Organisationen. Und wir Menschen arbeiten Product Roadmaps ab“, erklärt Spiekermann.
Aber die Faszination Technik schwindet. Fakt ist: Ein großer Teil der technikgetriebenen Innovation scheitert oder ist wirtschaftlich ein Flop. Laut der Langzeitstudie „Chaos Report“ der Standish Group werden nur 29 Prozent aller Softwareprojekte erfolgreich abgeschlossen. Von der Dunkelziffer abgebrochener IT-Projekten und der damit versenkten Investitionen ganz zu schweigen. Die Analysten von Vision Mobile schätzen, dass die große Mehrheit der App-Entwicklungen nicht rentabel ist. Rund 50 Prozent der iOS- und 64 Prozent der Android-Entwickler erzielen pro App weniger als 500 Dollar pro Monat. Die Umsätze mit Apps nehmen inner- und außerhalb von App Stores weiter zu, konzentrieren sich aber auf relativ wenige Anbieter. Und wie viele Start-Ups haben schon Energie in Softwareentwicklung gesteckt, die gnadenlos gescheitert sind? Vor diesem Hintergrund plädiert Sarah Spiekermann dafür, sich bei Systementwicklungen aufs Wesentliche zu konzentrieren: „Wir müssen mehr denn je die Werte hinterfragen, die durch Technik entstehen - dabei geht es nicht um Geld oder Effizienz. Sondern um Zufriedenheit, Gemeinschaft und Wissen. Nur so können wir in einer digitalisierten Welt ein gutes Leben führen.“
Experimentelles Planspiel Foodora
Wissenschaftler haben in einer aktuellen Studie die Auswirkungen von App-basierter Arbeitsorganisation vor allem für Mitarbeiter anhand von Essenslieferdiensten untersucht. Die Apps versprechen den Arbeitnehmern neue Freiheiten, üben aber gleichzeitig eine ungeahnte Kontrolle aus. Speziell das Geschäftsmodell „Essen auf Rädern“ Foodora befindet sich immer wieder hinsichtlich sozialen Umgangs mit Mitarbeitern bzw. den Fahrradkurieren in negativen Schlagzeilen.
https://www.youtube.com/watch?v=2mnb-p7zVvM
Sarah Spiekermann hat eine Gruppe von 40 Studenten in einem Planspiel vor die Aufgabe gestellt, neue Features für die Lieferplattform Foodora zu entwickeln. Das Ergebnis ist zunächst eine Liste an Funktionalitäten, die die App noch besser machen sollte. Zum Beispiel die Einführung eines Bewertungssystems für die einzelnen Fahrradkuriere, die Entwicklung einer Künstlichen Intelligenz, die auf Basis gefahrener Routen immer die schnellste Strecke für die Kuriere findet, Integration eines Fulltime GPS Tracking Systems, usw.
Wie geht ethische Innovation?
Spätestens an dieser Stelle schreitet die Universitätsprofessorin ein und schlägt eine andere Herangehensweise vor. Sie beauftragt ihre Studenten, sich bei der Aufgabenstellung mit drei philosophischen Fragen auseinanderzusetzen:
- Wie wirkt sich die Technik langfristig auf den Charakter der betroffenen Stakeholdern, in diesem Beispiel speziell der Fahrradkuriere aus?
- Welche menschlichen, sozialen, ökonomischen oder gesellschaftlichen Werte sind im Positiven wie im Negativen durch den neuen Dienst tangiert? Überwiegen Vor- oder Nachteile?
- Welche persönlichen Maximen oder Wertephilosophien seht ihr durch den Service betroffen, die ihr aus eurer Sicht für so wichtig haltet, dass ihr sie gerne in unserer Gesellschaft bewahren möchtet?
Auf Basis dieser Fragen formulieren die Studenten plötzlich ganz klare Nachteile und Probleme auf der sozialen Ebene, die eine Arbeitsorganisation per App mit sich bringt. Darunter z. B. Erschöpfung der Kuriere, Machtlosigkeit gegenüber dem Tracking der App, totale Überwachung und Zeitdruck. Im Umkehrschluss entwickeln sie Ideen für ein neues Release der Foodora-App, die ganz andere Zwecke erfüllen.
Für die Kuriere konzipieren sie einen Gamification-Ansatz, das Ausliefern muss ja Spaß machen. Die Community der Kuriere soll gestärkt werden, der Teamgedanke mehr in den Vordergrund gestellt werden, z. B. gemeinsame Treffen in Leerlaufzeiten. Sportliche Ziele für Kuriere, die den Job aus Leidenschaft machen, werden mit berücksichtigt und die Ausfahrrouten entsprechend angepasst. Auch für die Stakeholder „Essensbesteller“ ergeben sich daraus innovative Ideen. So rückt die gesunde Ernährung in den Vordergrund. Wie wäre es denn, wenn man eine Ernährungsberatung mit in die App integriert oder einen Diät-Service?
Auf die Frage, ob sie die Konzeptideen ihrer Studenten bei Foodora präsentieren durfte, schüttelt Spiekermann schmunzelnd den Kopf. Die Marke Foodora wird vom deutschen Markt verschwinden. Nach einer überraschenden Übernahme im Dezember 2018 wird die Lieferplattform in Zukunft unter dem Dienst Lieferando agieren.
Wertebasiertes Design digitaler Systeme
Mit diesem Case zeigt Spiekermann, dass durch die wertebasierte Herangehensweise eine ganz andere Kultur an Innovation entsteht, nämlich die Schaffung von Werten auf gesellschaftlicher und sozialer Ebene. „Die Zukunft unserer digitalen Ethik liegt in der Wiederentdeckung unserer Werte. Wenn wir Werte beim Design unserer digitalen Technologien systematisch berücksichtigen und ihren Einsatz so planen, dass unsere Welt wieder wertvoller wird, dann sind wir auf dem richtigen Weg“, ist die Professorin überzeugt. Digitale Systeme bilden niemals die Realität ab. Egal, wie sehr man sich in Zukunft der Automatisierung verschreiben wird, bei diesem Ansatz wird immer die menschliche und soziale Komponente fehlen. Bei der Entwicklung und Ausgestaltung digitaler Systeme muss man sich daher umso mehr die Frage stellen, welche menschlichen Werte uns weiter bringen. Welche unternehmerischen, gesellschaftlichen und sozialen Probleme gibt es auf der Welt und wie kann man sie mithilfe von Technologie lösen?
Der wertorientierte Ansatz bei der Softwareentwicklung steckt heute noch in den Kinderschuhen. Sarah Spiekermann arbeitet aktiv in der IEEE, der weltweit größte technische Berufsorganisation, die sich dem Fortschritt der Technologie zum Nutzen der Menschheit verschrieben hat. Die Professorin entwickelt einen Standard, der beim Systementwurf ethische Fragen von Anfang an einbezieht. Es ist eine Methodik, um ethische Bedenken der User zu Beginn eines System- und Software-Lebenszyklus zu identifizieren, zu analysieren und in Einklang zu bringen.
»Fortschritt braucht Weisheit und Mut – Maschinen fehlt beides.«
Sarah Spiekermann
Der Standard IEEE P7000 ermöglicht eine pragmatische Anwendung von wertebasierter Design-Methodik bei der System- und Softwareentwicklung. Ingenieuren und Technologen wird ein implementierbarer Prozess zur Verfügung gestellt, der Innovationsmanagementprozesse, Systemdesign-Ansätze und Software-Engineering-Methoden aufeinander abstimmt. Ziel dabei ist es, das ethische Risiko für ihre Organisationen, Stakeholder und Endbenutzer zu minimieren. Dieser Ansatz erfordert jedoch ein Umdenken in Unternehmen und Organisationen. Es bedarf in den Köpfen ein anderes Bewusstsein für den Begriff der Innovation und eine neue Form des Innovationsdenkens. „Wenn dieses Umdenken nicht passiert, schaffen wir mit unserem vermeintlichen Fortschritt nur Rückschritt“, ist Spiekermann überzeugt.
Weiterführende Links
Bericht über Gig Economy bei Foodora und Deliveroo auf heise online
Porträt über die „Mutmacherin des Jahres 2018“ Anne Kjaer Riechert:Wie digitale Integration funktioniert
Anne Kjaer Riechert ist Gründerin der ReDI-School, eine Programmierschule für Flüchtlinge und Organisation für digitale Integration. Vom Handelsblatt wurde sie letzte Woche zur „Mutmacherin des Jahres 2018“ gekürt. Auf dem Charity Brunch „What’s your Jouney?“ Anfang Dezember in München stellt sie ihr neuestes Projekt vor: ReDI Women – ein spezielles Schulungsprogramm für geflüchtete Frauen, das hilft, digitale Fähigkeiten zu entwickeln, Netzwerke aufzubauen und Selbstständigkeit zu fördern. Anne liegt dieses Projekt besonders am Herzen, will es weiter ausbauen und sucht dafür finanzielle Unterstützer. Um meinem Netzwerk Annes Spirit und Antrieb näherzubringen, darf ich sie auf ihrer ganz persönlichen und wie ich finde sehr bewegenden Reise begleiten. Ein Porträt einer sehr inspirierenden Frau.
Annes Geschichte beginnt schon vor ihrer Geburt. Nämlich mit ihrer Familiengeschichte. Ihre Großeltern haben in Deutschland den ersten Weltkrieg erlebt und sich geschworen, dass so etwas nie wieder geschehen darf. Sie werden Pazifisten und Verfechter der Demokratie. Sie produzieren in ihrem Familienbetrieb, einer Druckerei in Heide, pazifistische und sozialdemokratische Bücher und Schriften. Das passt den aufstrebenden Nationalsozialisten nicht, die Großeltern werden mehrmals verhaftet, die Druckerei gerät immer mehr unter Beschuss. Bei der Machtergreifung Hitlers im Jahr 1933 treffen die Großeltern eine schwere Entscheidung, nämlich zu flüchten.
80er Jahre. Anne wächst in Dänemark auf. Ihre Eltern erzählen ihr immer wieder die Geschichte und sie verinnerlicht ein Mantra: Man muss um Werte kämpfen und dabei auch manchmal schwere Entscheidungen treffen. Als Einzelkind wächst sie in einem Umfeld auf, das sie viel an Diskussionen mit Erwachsenen teilhaben und sie immer wieder die Warum-Frage stellen lässt. Sie ist neugierig und idealistisch.
Scheitern am Business Case NGO
Sie absolviert ein Innovationsstudium an der privaten Business School Kaospilot in Dänemark. Sie wird dort inspiriert von der Methodik, Produkte und Dienstleistungen nach realen menschlichen Bedürfnissen zu gestalten und nicht nach Vorgaben von Gewinnmaximierung oder von technischer Entwicklung. Nach ihrem Studium startet sie ihr eigenes Projekt "Kids have a Dream", das Teenagern auf der ganzen Welt dabei hilft, ihre Träume für die Zukunft zu definieren und zu verfolgen. Mehr als 4000 Kinder in über 30 Ländern haben in den vergangenen zwölf Jahren teilgenommen. Sie ist jedoch nicht in der Lage, das Projekt auf ein fundiertes Geschäftsmodell zu stellen. Die Lektion, die sie daraus lernt und sie bis heute begleitet: „NGOs müssen auch Geld verdienen, um die Belegschaft zu bezahlen. Wenn nicht, ist das Projekt weder nachhaltig noch skalierbar.“
„ Ich habe eigentlich nie einen Job durch eine Bewerbung bekommen.
Ich wurde immer durch mein Netzwerk empfohlen oder geleitet.“
Als externe Beraterin arbeitet sie drei Jahre lang in Kopenhagen, u.a. für Samsung Electronics. Dort ist sie für die Entwicklung und Umsetzung einer Strategie für nachhaltige Unternehmensführung in Skandinavien verantwortlich. Sie lernt, wie man gewinnorientierte und gemeinnützige Organisationen zusammenbringt. Wie man Projekte entwickelt, die für beide Seiten von Vorteil sind. Die Arbeit im Konzern macht ihr Spaß und sie ist erfolgreich, für ihren Geschmack aber noch nicht innovativ und wirkungsvoll genug. Sie entscheidet sich für ein weiteres Studium, und bekommt bei Rotary ein Stipendiat für ein zweijähriges Master-Studium in Friedens- und Konfliktforschung in Japan.
Digitale Integration
Danach zieht sie es nach Berlin. 2013 gründet sie in Zusammenarbeit mit der Stanford University das Berlin Peace Innovation Lab. Das Netzwerk wächst innerhalb von drei Jahren zu einer Gemeinschaft von 1700 Menschen. „Wir haben einen monatlichen Co-Creation-Workshop ins Leben gerufen, um die lokalen sozialen Herausforderungen in Berlin zu diskutieren und Ideen zu erarbeiten, wie diese gelöst werden können.“ Im April 2016 sitzt sie mit 40 Teilnehmern im Berliner Rathaus zusammen, um Ideen für die Unterstützung der Asylbewerber, die zu dieser Zeit nach Deutschland kommen, zu erarbeiten. „Wir hatten viele Stakeholder am Tisch - aber die wichtigsten fehlten: Die Flüchtlinge selbst.“ Sie fängt an, die Flüchtlingslager zu besuchen, um die wirklichen Bedürfnisse richtig zu verstehen - und mit den Menschen selbst zusammenzuarbeiten, um Lösungen zu finden.
Anne vergisst niemals, wie sie dort Mohammed begegnet, einem Programmierer aus dem Irak. Er hat Spaß am Programmieren, würde auch gerne arbeiten. Er besitzt aber weder einen Labtop noch das Netzwerk, um einen Job zu finden. Da kommt ihr der Gedanke: Warum nicht Technologien nutzen, um soziale Probleme zu lösen? Sie schreibt auf Facebook einen Post und fragt ihre Community, wer sie dabei unterstützen könne, Menschen wie Mohammed zu helfen. Mit der positiven Resonanz hätte sie nicht gerechnet. 30 Personen wollen gleich aktiv mitarbeiten. Bieten Hilfe in Form von Sachspenden wie Labtops an, erklären sich bereit, ehrenamtlich Kurse zu geben, stellen Räumlichkeiten zur Verfügung. Oder wollen einfach einen selbstgebackenen Kuchen mitbringen.
Fit für den deutschen Arbeitsmarkt
So entsteht die Idee der "Refugee on Rails", die sich später zur ReDI School entwickelt. „Ich kann selbst nicht programmieren - daher habe ich keine Tech-Schule gegründet, um meine eigenen Fähigkeiten einzusetzen. Stattdessen ist die ReDI School eine sehr pragmatische Lösung, um den Newcomern in Deutschland, der deutschen Wirtschaft und der deutschen Gesellschaft zu helfen.“ Es kommen viele Geflüchtete nach Deutschland, die Programmier-Vorkenntnisse haben oder zumindest technikaffin sind. Anne will diesen Menschen eine Perspektive geben und die schlummernden Talente fit für den deutschen Arbeitsmarkt machen. Bedarf ist allemal da: Es gibt in Deutschland laut Bitkom über 55.000 unbesetzte IT-Jobs. Eine feste Arbeitsstelle zu haben, ist ihrer Meinung nach Grundvoraussetzung für Integration.
„Wir müssen eine Plattform schaffen, auf der sich die Menschen
durch ein gemeinsames Interesse leicht verbinden können: Technologie.“
Zunächst startet Refugee on Rails mit einer „Wir-schaffen-das-Euphorie“, aber schnell kommen Anne und ihre ehrenamtlichen Helfer an ihr Limit. Auch aus eigenen Erfahrungen in der Vergangenheit weiß sie, dass sie es nur schaffen kann, wenn sie eine gemeinnützige Organisation als Unternehmung aufbaut. In dieser Findungsphase spielen ihre Partner Weston Hankins und Ferdi van Heerden eine große Rolle. „Wir haben fünf Monate lang Konzepttests durchgeführt, bevor wir dann tatsächlich die Organisation gegründet haben. Wir hatten auch enormes Glück, von Anfang unseren ersten Unternehmenspartner Klöckner & Co an Bord gehabt zu haben, die uns monetär unterstützt haben. Ansonsten hätten wir es nicht geschafft.“
Dann kommt Mark Zuckerberg zu Besuch in die ReDI-School. Ein persönlicher Meilenstein für Anne. Denn Mark Zuckerberg trifft auf Rami Rihavi aus Alappo, der von einem Virtual Reality Projekt erzählt, das er plant, um mit seiner Mutter in Aleppo sprechen und dabei seine Heimat sehen zu können. Umgekehrt soll seine Mutter sehen, wie er lebt. Ein Milliardär trifft einen Flüchtling – so scheint es von außen. Aber innerhalb weniger Minuten entwickelt sich ein Gespräch zwischen den beiden und es sind zwei Tech-Geeks, die sich unterhalten. So schnell verschwinden vermeintliche Grenzen. Für Anne ist dies einer dieser Aha-Momente, in denen sie merkt, dass sie das Richtige tut.
Umgang mit Bürokratie und Widerstand
Das Richtige zu tun, ist nicht immer einfach. Anne muss einige Hürden nehmen und braucht langen Atem. Für die deutsche Bürokratie hat sie fast nur ein Kopfschütteln übrig. Etwa, als sie vier geflüchtete Frauen in der ReDI School einstellen will und an der Antragsstellung beinah scheitert. Oder die Anerkennung als Weiterbildungsinstitution, mit der die ReDI School offiziell Diplome ausstellen kann: ein monatelanger Aufwand für das Team, verbunden mit hohen Kosten. Ohne Spendengelder nicht möglich. Mit welcher Leichtigkeit sie davon erzählt, lässt erahnen, dass sie niemals die Geduld verliert. Beharrlich und mit viel Durchsetzungsvermögen setzt sie ihre Arbeit fort. „Ich fange einfach mal an. Es ist ein iterativer Prozess, manche Dinge kappen auf Anhieb, manche nicht. Und daraus lerne ich.“ Sie spricht das Mysterium des Hummelflugs an. „Manchmal fühlt sich das so an. Da die Hummel ja nicht weiß, dass sie nicht fliegen kann, tut sie es einfach trotzdem", fügt sie lachend hinzu. Es ist harte Arbeit, aber das empfindet sie nicht so. Denn sie sieht etwas wachsen, was sinnstiftend für die Gesellschaft ist.
Politischen Widerstand von rechts bekommt sie glücklicherweise wenig zu spüren. Offenheit und Dialog schützt sie davor, davon ist sie überzeugt. „Unsere Türen im Berliner und Münchner Büro stehen für alle offen. Wenn jemand Fragen dazu hat, was wir tun, kann er gerne zu mir kommen und mit mir bei einem Kaffee über die Differenzen sprechen.“ Sie versteht, dass viele Menschen Ängste haben und deshalb sehr kritisch gegenüber Integration sind. Sie gibt einen Rat: „Hört auf, über Flüchtlinge zu reden, fangt an mit Flüchtlingen zu reden“. Es macht einen Riesenunterschied, wenn man die Leute, die man in die Schublade „Flüchtlinge“ gesteckt hat, persönlich kennt - und erkennt, dass es viel mehr Gemeinsamkeiten gibt als das, was sie voneinander unterscheidet.
Diversität - auch bei der ReDI School
Nach zwei Jahren Coding-Kurse für Newcomer, stellt sie fest, dass nur 10 Prozent weibliche Teilnehmerinnen in den Kursen präsent sind. Um das zu ändern, setzt sie und ihr Team Co-Creation Workshops mit Frauen verschiedener Hintergründe auf, um ein Programm zu gestalten, das den Bedürfnissen der Frauen entspricht. „Seit Anfang September läuft unser 'Digital Women Programme' in München. Anfangs haben wir mit 25 Teilnehmerinnen geplant, aber die Nachfrage ist so groß, dass wir mehr Frauen unsere Schulungen ermöglichen wollen.“ Dazu läuft eine Spendenkampagne auf der Plattform Betterplace.org
„Was wir für die geflüchteten Menschen tun, tun wir in Würde und Demut.“
Das ist nur eines der Projekte, die für 2019 auf ihrer todo-Liste stehen. Schulungsprogramme für Frauen will sie kontinuierlich ausbauen und das ReDI-Kids-Programm in Berlin weiterentwickeln: „Unsere ehemaligen Schüler sollen zu Lehrern ausgebildet werden, um sowohl deutsche als auch Migrantenkinder IT zu unterrichten. Denn digitale Bildung ist der Schlüssel – alle Gesellschaftsschichten brauchen Zugang dazu.“ Die Gründung einer ReDI School am Standort Hamburg steht ebenfalls auf ihrem Plan.
Aber auch persönlich hat Anne sich für das kommende Jahr Ziele gesetzt. Sie will eine witzige Facebook-Selbsthilfegruppe "Karma Kaolation" ins Leben rufen und alle Menschen ansprechen, die wie sie in Zukunft weniger konsumieren wollen. Zum Beispiel keine neuen Klamotten mehr kaufen. „Ich denke, hinsichtlich unseres Konsums braucht die Welt eine radikale Veränderung. Ich werde ein kleines bißchen dazu beitragen und versuchen, auch mein Verhalten zu ändern, um umweltfreundlicher zu sein.“ Sie möchte aber auch Zeit für sich selbst finden, um in der Natur Kraft zu schöpfen. Sie ist gerade dabei, mit ihrem Partner eine Farm im Wendland in Niedersachsen zu kaufen. „Ich arbeite viel, deshalb ist es schön, am Wochenende einen Ort zu finden, an dem Ruhe und Frieden herrscht. Und genug Zeit, um mit Freunden und Familie am Lagerfeuer zu sitzen und über die Dinge zu sprechen, die uns wichtig sind.“ Dinge, die die Welt ein bisschen besser machen.
Weiterführende Links
Spendenaufruf für das ReDI Women Programme
Facebook-Selbsthilfegruppe Karma Kaolation
t3n-Gründer Andy Lenz im Porträt: „Es ist eine Frage der Zeit, wann zentrale Plattformmodelle abgelöst werden“
Andy Lenz ist Mitgründer der t3n, dem Magazin für digitale Zukunft, und hat eine enorme Erfolgsgeschichte als Herausgeber und Publizist hingelegt. Wir kennen uns seit den Anfängen der t3n und ich schätze ihn als zuverlässigen und inspirierenden Gesprächs- und Kooperationspartner. In einem sehr persönlichen Interview gibt er mir Einblicke in seine Denk- und Arbeitsweise, seine Ideale über die Zukunft, in der die Digitalisierung zu mehr Wohlstand und Gleichverteilung führen soll. Ein Porträt über einen digitalen Pionier.
Andy macht nach dem Abitur beruflich das, was er damals richtig gut kann: Events. Als Selbständiger organisiert er neben Partys auch Clubtouren und tingelt durch die Weltgeschichte. Kein Lebenskonzept auf Dauer, das merkt er schnell. Irgendwie macht er das Geschäft aber doch zehn Jahre lang. Er ist jung. Irgendwann kommt er an den Punkt, wo er einen Ausstieg sucht. Ausstieg durch ein Studium. Zu diesem Zeitpunkt ist er bereits 27 Jahre alt. Er braucht einen Plan, um das schnellstmöglich durchzuziehen. Mit seinem Freund Martin Brüggemann schafft er das Studium Informationsmanagement in gut der Hälfte der Regelstudienzeit mit einem unkonventionellen Konzept: Die beiden teilen sich die Vorlesungen auf, reichen sich Skripten weiter und schulen sich gegenseitig.
Anfänge des Pioniers
An der Fachhochschule Hannover treffen die beiden auf den Journalisten Jan Christe, damals als Hilfswissenschaftler am Lehrstuhl tätig. Er unterstützt sie bei der Idee, ihre Diplomarbeit als Print-Magazin zu veröffentlichten und bringt seine journalistische Kompetenz mit ein. Dann kommt eines zum anderen und lässt sich als Dominoeffekt beschreiben. Die Themen OpenSource und TYPO3, über die sie als First Mover im deutschsprachigen Raum den Content veröffentlichen. Andys Onkel, der im Druckgewerbe arbeitet und ihnen die Möglichkeit verschafft, eine Auflage von 5000 Exemplaren zum Selbstkostenpreis zu drucken. Eine Content-Marketing-Strategie sowie 1000 kostenfreie Magazine als Growth-Hack-Start. Sparringspartner golem.de und heise.de, die mit ihrer enormen Reichweite den Magazinverkauf maßgeblich treiben, sorgen dafür, dass die Ausgabe nach wenigen Tagen vergriffen ist. Und das altbewährte Verlagskonzept, über den Heftversand Daten von Lesern abzugreifen. So baut man Communities auf.
Darauf folgt die Erkenntnis: „Ok, wir sind jetzt ein Start-Up! Wir hatten kein Büro, unsere Idee ist auf unseren WG-Sofas entstanden“, erinnert sich Andy. Und dann haben die drei die Ausschreibung von HannoverImpuls und der Sparkasse an der Uni hängen sehen: Ein Businessplanwettbewerb mit einem Preisgeld von 18.000 EUR für den Sieger. „Da war uns klar, das müssen wir durchziehen.“ Es folgt die Gründung einer GbR, der Businessplanentwurf auf Basis der Diplomarbeit, die Wettbewerbseinreichung. Und am Ende gehen die drei im Jahr 2005 mit einer Grundausstattung an Startkapital als Sieger aus dem Wettbewerb hervor.
Kritische Größe bei Start-Ups
Den daraus resultierenden Erfolg, kann Andy heute rückblickend nur mit dem konsequentem Handeln, Qualitätsbewusstsein und dem Willen zum Erfolg erklären. Er schafft es mit seinen Mitgründern, ein kontinuierliches, lineares Wachstum einer Print- und Onlinepublikation hinzulegen. Im Gegensatz zum allgemeinen Trend der Verlagsbranche, die mit rückläufigen Zahlen zu kämpfen hat. „Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, in einer Krise zu stecken und das meine ich nicht überheblich. Wir gehen in Planungen nicht von „best cases“ aus und arbeiten immer mit großem Puffer.“ Andy ist dankbar, dass die Geschäftsidee und das Businessmodell seit über 10 Jahren jährlich beständig ca. 20 Prozent wachsen. Es hätte auch anders laufen können.
"Organisationsentwicklung ist ein Strategiespiel wie Risiko oder Monkey Island."
Die größte Herausforderung sieht er, als sein Unternehmen die kritische Größe von 30 Mitarbeitern überschreitet. Er bezeichnet das als Meilenstein, weil sich ab diesem Zeitpunkt alles verändert. Nicht nur für ihn, Martin und Jan. Auch für alle anderen Mitarbeiter. „Bei unter 30 Leuten ist man als Gründer noch mittendrin – bekommt alles Operative mit. Danach wird es schwierig. Das fängt mit Kleinigkeiten an, wie z. B. dass alle nicht mehr gemeinsam zum Mittagessen gehen. Dass man plötzlich nicht mehr auf einer Etage arbeitet. Dass nicht mehr alle in einen Meetingraum passen. Der Kommunikationsaufwand wächst exponentiell und man merkt schnell, dass Flurfunk allein nicht funktioniert und wie wichtig Management-, Kommunikations- und Leadershipskills plötzlich werden.“
Holokratie: Effektiv ohne Chef
An diesem Punkt stellt sich natürlich für Andy die Frage, wie man sich als unternehmerische Organisation strukturiert. Obwohl klassisch begonnen, kommt ein hierarchisches Pyramiden-Organigramm für ihn nicht infrage. „Wir wachsen schnell, wir propagieren überall agiles Arbeiten – da können wir unsere Organisation nicht old school strukturieren. Außerdem entspricht das nicht meiner Überzeugung.“ Also stellen die inzwischen vier Geschäftsführer die Firma in Clustern nach Themen auf, die wiederum in Teams unterteilt sind. Die Struktur ist flexibel und ändert sich, wenn sich die Anforderungen verändern. Die Menge an Entscheidungen und Ideen, die im Team gecrowdsourced werden, wächst. Vorbild ist u.a. das von Spotify kultivierte Squad-Framework. „Ziel ist es, den Grad an Eigenverantwortung und Transparenz in den Clustern, bei uns Units genannt, und den darin liegenden Teams Jahr für Jahr zu erhöhen. Ein spannender Prozess, bei dem hier und da noch Rahmenbedingungen fehlen. Es gibt viel gemeinsam zu lernen!“
"Skills lassen sich lernen und vermitteln, Charakter nicht."
Er glaubt fest daran, dass self-managed Teams mit Eigenverantwortung funktionieren, wenn man Stück für Stück die richtigen Voraussetzungen dafür schafft. Dazu gehört in erster Linie, dass jeder Einzelne lernt, unternehmerisch zu denken. Weiter muss die Vision, Kultur und Identität der Firma glasklar und gemeinsam definiert sein. Hierzu wird im Team, über 18 Monate hinweg ein sogenanntes BrandBook entwickelt, dass jedem Mittarbeiter und Partner ausgehändigt wird. Andy interessiert sich für Holokratie als Führungsstil – im Prinzip das Führen ohne Chef. Er hält dies in Reinform zwar für unrealistisch und sagt, dass das schwer umzusetzen ist. Die Gefahr droht, im Chaos zu enden. Dennoch gewinnt er auch diesem Managementprinzip etwas ab. „Wir stecken immer noch im Prozess – sowas hört nie auf. Spielerisch und iterativ addieren wir, was hilft, Sinn macht und uns zugutekommt: Das Team, aktuell bestehend aus 70 Mitarbeiter*innen, ist jung. Das Durchschnittsalter beträgt 28 Jahre, viele sind digitale Nomaden. Digitale Pioniere wollen das nicht anders und suchen immer nach neuen Wegen."
Motivation und Inspiration
Für ihn persönlich ist seine Arbeit und die Organisationsentwicklung wie ein Strategiespiel. „Früher habe ich stundenlang mit meinen Freunden Risiko oder Monkey Island gespielt – die Parallelen zu heute sind erstaunlich. Daher auch die Idee mit den Digital Pioneers: Da assoziiere ich Enterdeckertum und Abenteuerlust.“ Er sucht das Abenteuer und wägt dabei gleichzeitig das Risiko ab. „Trial and error“, und das mit seinen besten Freunden im Job – sein persönliches Umfeld motiviert ihn enorm. Seinen eigenen Charakter beschreibt er als kreativ, frech und humorvoll. Das spiegelt sich auch in der DNA der t3n wieder. Er legt großen Wert darauf, dass das Team zusammen passt. „Beim Recruiting legen wir mehr Wert auf einen guten und zu uns passenden Charakter mit guten Vorraussetzungen, als rein auf die tatsächlichen Qualifikationen zu blicken. Skills lassen sich lernen und vermitteln, Charakter nicht.“
"Es ist eine Frage der Zeit, wann die datengetriebenen, siloartigen, zentralen Plattformmodelle abgelöst werden."
Gleichzeitig sucht Andy die Inspiration durch den Austausch mit jungen, agilen Unternehmen. Er verschafft sich Zugang zu den Protagonisten. „Ich spreche die Leute gerne direkt an und frage nach, ob sie an einem persönlichen Austausch interessiert sind. Das sind die meisten. Man kann viel voneinander lernen, wenn man mit offenen Karten spielt – und beide Seiten profitieren davon.“ Er zieht dabei den Vergleich zum Trüffelschwein, das bei der Trüffelsuche vom gleichen Motiv geleitet wird wie er bei seinem Business: Leidenschaft.
Mehr Wohlstand durch weniger Kapitalismus
Andy zeichnet ein klares Bild von der Zukunft der digitalisierten Gesellschaft. „Die Automatisierung wird und muss uns helfen, besser zu arbeiten und zu leben. Unsere Lebensarbeitszeit können wir verkürzen. Wenn wir es schaffen, die Digitalisierung und Wertschöpfungsprinzipien positiv zu konnotieren, sind wir in der Lage, mehr Wohlstand für alle zu erzeugen. Mahnende Dystopien gibt es viele, unsere Aufgabe ist es doch, diese zu vermeiden.“ Seiner Auffassung nach können dadurch soziale und ethische Fragen sowie ehrenamtliches Engagement dafür in der Gesellschaft wieder mehr in den Vordergrund treten als rein kapitalistische Prinzipien. Ähnliches gilt für die Funktionsweise des Internets. Die Zukunft sieht er in blockchainbasierten, dezentralen Plattformen und Technologien. „Es ist eine Frage der Zeit, wann die datengetriebenen, siloartigen zentralen Plattformmodelle abgelöst werden. Aus meiner Sicht und aus Infrastruktursicht hat der Prozess der Umverteilung mit der Schaffung von dezentralen Datenspeichern, dezentralen Währungen und dezentralen Anwendungen (DAPPS) bereits begonnen.“
Weiterführende Links
Digitale Arbeitswelt: Angst vor dem Umbruch?
Welche Veränderungen bringt die Digitalisierung in unsere Arbeitswelt? Diese Frage diskutiert Matthias Kamp, München-Korrespondent der WirtschaftsWoche, mit Siemens-Personalvorständin Janina Kugel und Unternehmerin Sabine Herold, Chefin des Hightech-Klebstoff-Herstellers Delo im WiWo-Clubgespräch. Es ist ein Ritt durch die Themenvielfalt Diversität, Automatisierung, Qualifikation, Weiterbildung, Führungsstil. Jedem Zuhörer im Literaturhaus in München wird klar, dass wir uns in unserer modernen, hochtechnisierten Welt mehr denn je hinterfragen müssen, ob wir offen für Neues sind und uns unseren Ängsten vor Veränderungen stellen müssen.
Der Einstieg in die Diskussion hätte nicht provokanter sein können. „Brauchen wir eine Frauenquote?“, fragt Matthias Kamp seine Gesprächspartnerinnen. Beide Unternehmerinnen wollen als Führungskraft keine Quotenfrauen sein. Janina Kugel kontert: „Es geht um die Gleichstellungsquote. Ich weiß nicht, ob wir sie wirklich brauchen, aber wir brauchen die Diskussion. Denn es gibt in den Vorständen deutscher Unternehmen mehr Michaels und Thomas als Frauen.“
Vereinbarkeit von Familie und Beruf
Rollenbilder sind in der Gesellschaft noch sehr stark eingefahren. Wir sind stark konditioniert, und das von klein auf. Was wir als Kinder zuhause vorgelebt und in Schulen erzählt bekommen, prägt enorm. Selbst heute noch werden zu sehr Rollenklischees vermittelt und Mädchen nicht ausreichend an vermeintliche Männerberufe herangeführt. Janina Kugel sieht hier einen großen Hebel, Veränderungen anzustoßen. „Wir müssen insbesondere die Mädchen motivieren, in die MINT-Berufe zu gehen. Abgesehen davon, dass sich hier viel größere Chancen auftun, weil wir diese Fachkräfte dringend brauchen, sind sie auch noch viel besser bezahlt als die klassischen Frauenberufe.“
Auf dem Arbeitsmarkt hat sich dank der technologischen Möglichkeiten viel getan: Teilzeitmodelle, Home-Office, Job-Sharing. Sabine Herold kann das bestätigen: „Wir als Mittelständler bieten unseren Mitarbeitern 42 verschiedene Teilzeitmodelle. Da steckt für HR sehr viel Arbeit dahinter.“ Es muss aber auch an anderer Stelle die Voraussetzungen für Flexibilität geschaffen werden, weiß Janina Kugel, Mutter von schulpflichtigen Zwillingen, aus eigener Erfahrung. „Es fehlt in Deutschland an einer gesicherten und flexiblen Betreuungsstruktur für Kinder, auf die sich beide Elternteile in ihrem Job verlassen können.“ Auch der Wiedereinstieg von Frauen ins Berufsleben wird angesprochen. Sabine Herold appelliert vor allem auch an Quereinsteiger und ermutigt weibliche Fachkräfte, die jahrelang wegen der Familie zuhause geblieben sind: „Diese Frauen haben ein kleines Familienunternehmen geführt. Natürlich sind sie für den Wiedereinstieg qualifiziert. Sie müssen es sich nur zutrauen und es wollen.“
Die Folgen der Automatisierung
Das Gefühl, abgehängt zu sein und das Nichtwissen über neue technologische Entwicklungen bei der Arbeit bleibt kein Phänomen derjenigen, die aus dem Beruf ausgestiegen sind. Vor dieser Herausforderung steht nun jeder Wissensarbeiter in unserer Dienstleistungsgesellschaft. Die Welle der Innovation durch Künstliche Intelligenz und Machine-Learning wird die Jobs in der Administration erfassen. Repetitiven Aufgaben wie zum Beispiel die von Sachbearbeitern oder Gutachtern werden in Zukunft durch Algorithmen gelöst. Bürojobs stehen auf der schwarzen Liste, es ist eine Frage der Zeit, wann sie obsolet werden.
Janina Kugel sieht hier sehr wohl die Unternehmen in der Pflicht, Pakete zu Weiterqualifikationen für betroffene Mitarbeiter zu schnüren. Sabine Herold pflichtet ihr bei, gibt jedoch zu bedenken, dass lediglich Großkonzerne und nur wenige wirklich sehr gut aufgestellte Mittelständler dazu die nötige Infrastruktur hätten. „Solche Angebote können kleinere und mittelständische Unternehmen vor allem in ländlichen Regionen nicht leisten. Der Weiterbildungsmarkt muss hierzulande noch stark entwickelt und auch gefördert werden.“
Angst und Skepsis überwinden
Voraussetzung ist, dass Mitarbeiter auch bereit sind, den Veränderungsprozess zu gehen. In dem Zusammenhang kommen beide auf Ängste zu sprechen. Allein zu akzeptieren, dass man im Job nicht mehr gebraucht wird, sei schon kaum zu ertragen. „Man stelle sich vor, man hat eine qualifizierte Ausbildung, zwanzig Jahre in einem Unternehmen erfolgreich gearbeitet und jetzt soll man nochmal die Schulbank drücken und sich Prüfungen unterziehen, um eine Weiterqualifikation zu absolvieren? Das ist nicht einfach“, erklärt Sabine Herold. Es muss in der Unternehmenskultur verankert sein, dass ein solcher Prozess ganz normal ist. Wichtig, dass mit diesen offen umgegangen wird und gemeinsam nach Lösungen sucht.
In diesen Fragen sind Führungskräfte mehr denn je gefordert. Das alte Führungsprinzip „command and control“ hat ausgedient. Gefragt sind Gestaltungsspielräume, Crowdsourcing, agile Prozesse, innovative Methoden der Mitarbeiterführung. Nicht jede Führungskraft kommt damit zurecht, oft kommen Zweifel auf. Janina Kugel zitiert eine Führungskraft aus dem Siemens-Konzern: „Ich habe Angst davor, die Kontrolle zu verlieren, wenn all meine Mitarbeiter agil und mit Scrum arbeiten.“
Beide Managerinnen sind davon überzeugt, dass sich die Uhr nicht mehr zurückdrehen lässt. Sie appellieren an Gesprächsbereitschaft und offenen Diskurs eines jeden. Nur so lassen dich die Herausforderungen der digitalisierten Arbeitswelt bewältigen.
Foto: Thorsten Jochim
Porträt Dr. Armand Farsi: Der couragierte Driver
Dr. Armand Farsi ist promovierter Sozialwissenschaftler, Digitalberater bei Friends of C. von Arvato-Bertelsmann und Host des Podcasts „Commerce Corner“. Persönlich treffe ich ihn zum ersten Mal auf dem diesjährigen E-Channels Day. Selten bin ich im beruflichen Umfeld einer solch empathischen und authentischen Person begegnet. Klar strukturiert in seinen Auffassungen gepaart mit einem humorvollen Charakter. Ideale Voraussetzungen für einen Digitalmacher.
Armand ist Deutsch-Iraner. Auf seinem Lebensweg stellt er fest, je weiter er perspektivisch kommt, umso weniger Migranten sind um ihn herum. Das geht los in seinem Studium, konkret bei seinem Schwerpunkt Internationale BWL in Tübingen, und setzt sich in den Stipendienprogrammen und bei seinem Berufseinstieg bei Boston Consulting Group fort. Seine persönliche Erfahrung: Ehrgeizige Studierende aus anderen Kulturkreisen zeigen oft überdurchschnittliche Leistungsbereitschaft. Dennoch stoßen sie offenbar an unsichtbare Grenzen und finden nicht leicht den Weg zu herausragenden Positionen in Wirtschaft, Forschung, Politik oder Kultur. Das Thema treibt ihn um.
Habitus und Netzwerk
Starke Karrieren beruhen nicht allein auf Leistung, Netzwerk und Habitus sind ebenso wichtig. Das lernt Armand schnell bei BCG. Er beobachtet dort aufmerksam, wie Netzwerke funktionieren und wie wichtig Sozialkapital ist. Durch ein paar Zufälle, die richtigen Begegnungen und Kontakte fällt er im Jahr 2009 eine unkonventionelle Entscheidung. Statt die Karriereleiter bei BCG weiter hochzusteigen, wechselt er das Fach und promoviert in Sozialwissenschaften an der Universität Hamburg.
In seiner Dissertation untersucht er, welche Voraussetzungen Migranten für eine Karriere in der Wirtschaft benötigen. Er kommt in seiner quantitativen Studie zu dem Ergebnis, dass diejenigen, die sich überwiegend in migrantischen Zirkeln bewegen, schlechtere Karriereperspektiven haben. „Es gilt den Effekt der sozialen Herkunft abzufedern. Migrantenkinder aus bildungsfernen Schichten müssen außerdem früh an identitätsstiftende kulturelle Inhalte herangeführt werden.“ Auch heute engagiert er sich noch in diesem Bereich und steht dem Hamburger Schotstek e. V. pro bono mit Rat zur Seite. Über Schotstek erhalten Migranten Zugang zu einem karrieredienlichen Netzwerk mit Ratgebern, Mentoren und Türöffnern aus der Hamburger Society.
Mut zu Entscheidungen
Nach der knapp dreijährigen Promotion kommt Armand 2012 über einen Headhunter zur E-Commerce-Schmiede für Fashion Brands Netrada. Bei diesem Karriereschritt ins Digital Business entscheidet er sich nicht zuallererst für das Unternehmen, sondern für seinen Chef: Dr. Tu-Lam Pham, damals dort als Director Performance Management positioniert. 2014 wird die Netrada von Arvato-Bertelsmann übernommen, Armand steigt in die Führungsebene auf. Im Juli 2018 wird sein Bereich zusammen mit anderen Digitalsparten in eine eigene Digitalagentur „Friends of C.“ ausgegründet. C steht für Commerce, Courage und Code. Er gehört zur Führungsmannschaft und propagiert vor allem eines: Mut zur Veränderung.
„Mit inspirierenden Leuten digitale Erfolgsmodelle bauen,
die im knallharten Wettbewerb nachhaltig bestehen - dafür schlägt mein Herz.“
Für ihn steckt im digitalen Umbruch etwas ganz Besonderes. Er nennt es Mutkultur. Um in disruptiven Zeiten wettbewerbsfähig zu bleiben, sollte man sich seiner Meinung nach Fragen über die fundamentalen Aspekte wie Mindset, Methoden und Organisationsstruktur stellen. Wie sehr stellt man den Kundennutzen in den Vordergrund? Wie mutig, technologisch befähigt und schnell bzw. schlank ist man aufgestellt für die Realisierung von Produktexperimenten? Wie viele Wetten und damit auch Fehler traut man sich zu?
Tiefgang in die digitale Szene
Mit diesen Fragen beschäftigt Armand sich nicht nur in der Rolle als Digitalberater und Führungskraft bei Friends of C. sondern auch, als er im August 2017 seinen eigenen Podcast ins Leben ruft. Als Freund der schnellen Entscheidung probiert er mit einfachsten Mitteln aus, ein minimal überlebensfähiger Podcast auf die Beine zu stellen und zu testen, wie das Projekt im Markt ankommt. Inspiriert von „The Jason and Scot Show”, ein wöchentlicher Podcast über die E-Commerce-Branche aus den USA von Jason "Retailgeek" Goldberg und Channel Advisor Gründer Scot Wingo, lässt er kluge und einflussreiche Unternehmer zu Wort kommen. Im Fokus: Tiefe Tauchgänge zu Schlüsselthemen der digitalen Szene.
„Mit Commerce Corner habe ich im Kleinen das umgesetzt, was ich meinen Kunden ständig predige: Ein sogenanntes MVP – minimum viable product.“
Die positive Resonanz der Digitalbranche ermutigt ihn, das Projekt weiter voranzutreiben und mehr und mehr zu professionalisieren. Er sieht den Podcast als Lernplattform - für andere, aber auch für sich selbst. „Um spannende Geschichten zu kreieren und die Gedanken meiner Gesprächspartner spiegeln zu können, muss ich mich mit vielen neuen Themen und Branchen auseinandersetzen.“
Perspektive: Inspiration und Impact
Nachdem Armand bisher in seiner Karriere zum einen als Strategieberater Geschäftsmodelle konzipiert und zum anderen in seiner jetzigen Position als Digitalberater „hands-on“ konkrete Projekte auf die Straße gebracht hat, kann er sich vorstellen, sich perspektivisch noch mehr in den „Driver’s Seat“ zu begeben – in welcher Rolle er sich dann auch immer wiederfinden mag. Vermeiden will er politische Rangeleien, die aus seiner Sicht extrem energieraubend sind. „Taktieren ist nicht mein Ding, dafür ist mir meine Lebenszeit zu kostbar.“ Er will in Zukunft Digitales Business so gestalten, dass er damit auch einen relevanten Wirkungsgrad im Markt erreicht.
Porträt Thomas Lang: Der Schweizer Digitalbotschafter
Thomas Lang ist Gründer und Berater. Er ist gefragter Publizist und Dozent rund um die Themen E-Commerce und digitale Transformation im Handel. Kaum ein anderer bringt ein solch langjähriges Branchen-Knowhow mit. Seine Schweizer Herkunft kann er mit seinem sympathischen Akzent nicht verleugnen. Auf der K5 treffe ich mich zu einem ausführlichen Gespräch mit dem digitalen Gesandten aus der Schweiz. Schnell wird mir klar, was sein Erfolg ausmacht: Seine Leidenschaft für digitale Themen und sein diplomatisches Geschick.
Thomas Langs Gründergeschichte hat schon in der zweiten Hälfte der 1980er Jahren seinen Ursprung. Damals schon an Computertechnologien interessiert, schreibt er erste Anwendungen in seiner Banklehre. Während seines Studiums der Betriebsökonomie in Zürich schaltet er die ersten Websites live, damals noch über Compuserve. „Mich hat das immense Potenzial fasziniert, wenn man jeden Rechner – und heute jedes Gerät oder jedes Atom – miteinander verbindet und sich auf eine quasi unsichtbare Struktur verlassen kann.“ Nach seiner Ausbildung lebt er mehrere Jahre in Kalifornien, startet seine Karriere in der Tourismusbranche. Ende der 90er ist er einer der ersten, der Reisen online verkauft – mit Erfolg. Nur die von ihm konzipierte Reisetour durchs Silicon Valley ist ein absoluter Flop. Der sogenannte „Silicon Valley Explorer“ bringt nicht eine einzige Buchung. Als designierter Vordenker ist er damit einfach 15 Jahre zu früh.
E-Commerce Experte der ersten Stunde
Zurück in der Schweiz gründet er im Jahr 2000 Carpathia. „Gegen den digitalen Tsunami kann man entweder Dämme oder Schiffe bauen, ich habe mich damals für das Schiff Carpathia entschieden und das war goldrichtig“, blickt er schmunzelnd zurück. Der Name der Agentur ist repräsentativ für die Firmenphilosophie und Thomas Einstellung zum digitalen Business. „Die Carpathia war das Schiff, das als erstes und als einziges überhaupt der Titanic zu Hilfe eilte, als diese in Seenot geriet und unterging.“ Er möchte ein Garant für nachhaltige Lösungen sein, der Warnsignale frühzeitig wahrnimmt, keine Extrameile scheut und ein verlässlicher Partner ist. Was damals als Beratungsagentur für E-Commerce beginnt, steht heute ganzheitlich für die digitale Transformation. Dafür haben er und sein Team vor allem das Verständnis für Mechanik und Ausprägungen digitaler Geschäftsmodelle an Deck.
„Wer jetzt nicht auf den Digital-Zug aufspringt, investiert in ein endliches Geschäft.“
Thomas ist ein leidenschaftlicher Verfechter der Digitalisierung, egal in welcher Branche, ob im Handel, in der Industrie, im Dienstleistungssektor oder in anderen Bereichen. „Was wir heute erleben, ist erst der Anfang. Es bieten sich für viele noch ungeahnte Potenziale wie auch Gefahren.“ Seine Mission ist, mitzugestalten, klare Akzente zu setzen und sein Knowhow zu teilen. Er sieht sich als Visionär und will überall dort Aufrütteln, wo er der Ansicht ist, dass die Lage noch unterschätzt wird. Damit macht er sich nicht immer nur Freunde, aber er hält überzeugt an seiner Mission fest. Er will heute und auch morgen die relevante Stimme im Schweizer Digital Commerce sein.
Zu Deutschland hat er ein ganz besonderes Verhältnis. Er ist sehr oft in Deutschland unterwegs. Früher mehr privat und heute eher beruflich. „Ich bin ein Mensch, der nicht gerne in Grenzen denkt und fühle mich im ganzen deutschsprachigen Raum zu Hause.“ Vielleicht ist das einer der Gründe, warum Thomas auch hierzulande ein beliebter und gefragter Experte ist. Vor allem in der Frage, wie man einen deutschen Shop effizient „helvetisiert“, damit er auch bei den Eidgenossen im Nachbarland funktioniert. Aber auch in klassischen Beratungsfragen, bei denen sich viele deutsche Unternehmen einen internationalen Außenblick wünschen, wird er zu Rate gezogen.
Manager ist nicht gleich Unternehmer
In seiner Beraterlaufbahn ist ihm schon viel untergekommen. Für ihn lassen sich Unternehmen typologisieren, und zwar nicht bezüglich ihrer Herkunft, sondern hinsichtlich ihrer Denkweise. Bei Unternehmen, die von einem klassischen Management geführt werden oder gar zu einem Konzern gehören, liegt der Fokus nach seinem Geschmack viel zu kurzfristig. „Es ist teilweise erschreckend, wie wenig Manager unternehmerisch denken. Ich habe schon oft fragwürdige Entscheidungen fallen sehen, weil das Management einen unmittelbaren Bezug zum persönlichen Vorwärtskommen oder Incentivierung hat.“ Familiengeführte Unternehmen sind dagegen aus seiner Sicht viel aufgeschlossener, denken langfristig und rechnen ihre Investitionen ganz anders. Es geht um viel nachhaltigere Überlebensfragen und um die Sicherung einer soliden Basis für die nächste Generation.
„Jedes Unternehmen kann mithilfe einer adäquaten Digitalisierungsstrategie mehr aus seinem Geschäftsmodell herausholen.“
Er selbst zählt sich eher zu den unternehmerisch, strategisch langfristig denkenden Unternehmern. Seine persönlichen Ziele in seinem Job definiert er fokussiert für das Team von Carpathia: Er möchte die Agentur weiterhin auf Erfolgskurs halten und die Crew bedacht und ausgewählt vergrößern. „Wir wollen immer eine Boutique bleiben. Klein aber fein. Klasse statt Masse. Damit unterscheiden wir uns auch bewusst von klassischen Unternehmensberatungen.“ Seinen langersehnten Traum erfüllt er sich dieses Jahr zu seinem 50. Geburtstag. Mit der Queen Mary 2 schippert er von Hamburg nach New York. Zuvor feiert er aber mit der ganzen Schweizer Digitalbranche den siebten Digital Commerce Award in Zürich, den er selbst ins Leben gerufen hat. Eine gute Kombination für einen persönlichen Meilenstein, wie er findet.
Miriam Meckel im Gespräch mit Peter Turi:
Wenn Technologie auf das Gehirn trifft
Auf dem Landau Media Talk mit Miriam Meckel am Dienstagabend im The Charles in München schafft Medienprofi und Moderator Peter Turi eine einzigartige, sehr persönliche Atmosphäre. Die Professorin und Herausgeberin der Wirtschaftswoche fesselt die einhundert geladenen Gästen aus der Medienbranche mit ihren Thesen über digitale und neuronale Netze. Ich bin um die Erkenntnis reicher, dass wir vom technologischen Fortschritt nicht nur profitieren, sondern uns dabei auch unseren Urängsten stellen müssen.
Überfordert uns die digitale Welt?
Miriam Meckel legt eine Bilderbuchkarriere hin. Die Journalistin wird Ende der 90er-Jahre mit nur 31 Jahren jüngste Professorin Deutschlands am Lehrstuhl für Publizistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Münster. 2001 wird sie Staatssekretärin und Regierungssprecherin von Nordrhein-Westfalen, vier Jahre später ereilt der Ruf als Professorin und Direktorin des Instituts für Medien- und Kommunikationsmanagement der Universität St. Gallen. Dann 2008 der Zusammenbruch. Burnout. Sie äußert sich offen über die Abgründe, mit denen sie konfrontiert war, und ihre Learnings daraus.
Sie weiß, dass das Phänomen der Überlastung sich mehr und mehr in der Gesellschaft manifestiert. „Wir leben in einer immer schneller werdenden Welt. Das Wissen wächst exponentiell, das Tempo der Medien und Digitalisierung beschleunigt unser Leben. Wir müssen mit immer schneller aufkommenden Informationen umgehen, die erst mal verarbeitet und bewältigt werden müssen. Das führt oft zu Überforderung.“
Grund genug, sich die Frage zu stellen, was passiert dabei eigentlich mit unserem Gehirn? Welche Einflüsse hat die digitale Welt auf unsere Gedanken und wie können wir sie verbinden? Ihre Recherchen teilt sie nun in ihrem kürzlich veröffentlichten Buch „Mein Kopf gehört mir“. Dieses beginnt mit dem Zitat: „Immer schon war ich anfällig dafür, Dinge auszuprobieren, die mir nicht guttun.“ Was sie damit meint, sind mehrere Experimente, die sie mit sich selbst durchgeführt hat, um herauszufinden, was sich in ihrem Gehirn eigentlich abspielt.
Miriam Meckels Selbstversuche
Sie erläutert zwei Beispiele aus ihrem Buch. Das erste Experiment ist der Reizentzug. Dafür schließt sie sich 24 Stunden in eine Dunkelkammer im Kellergeschoss der Hochschule Zürich. Völlige Dunkelheit, Stille. Als erstes stellt sich Langeweile ein. Gefolgt von Nervosität über Fantasien bis hin zu wahnhaften Rezeptionen und Halluzinationen. Sie beschreibt das Gefühl wie ein Drogentrip ohne Drogen. „Reizentzug führt zu Irritationen des Gehirns. Ich war beeindruckt, welch kreative Kraft ausgelöst werden kann und wie die Nervenzellen anfangen zu feuern, wenn äußere Reize ausfallen.“
Das zweite Experiment: In den USA hat Miriam Meckel das Lifestyle-Produkt Thynk getestet, mit dem man das Gehirn beeinflussen kann. Dazu bringt man ein Gerät mit zwei Sensoren am Kopf an, über eine App steuert man dann Stromzufuhr aufs Gehirn. Es gibt verschiedene Programme, von Entspannung über Konzentrationsförderung bis hin zu Aktivitätsstimulation. Sie wählt „Activity“ mit erheblichen Nebenwirkungen: Übelkeit, 36 Stunden keinen Schlaf, Gesichtsverzerrungen. „Meine größte Erkenntnis aus diesem Selbstversuch war, dass das Gehirn ein sehr sensibles Organ ist. Es ist das Tor zum innersten Kern der Persönlichkeit. Damit muss man behutsamer umgehen, als man das vielleicht mit anderen Körperteilen tut.“ Sie erfährt Grenzen am eigenen Körper, die durch Gehirnmanipulation entstehen können.
Das menschliche Gehirn im Visier
Technologischer Fortschritt ist längst im Gehirn angekommen. Was uns nicht bewusst ist: Alle digitalen Services der Internetriesen GAFA sind Produkte der Gehirnforschung. Mögen es anfangs noch Algorithmen gewesen sein, heute stehen lernende Systeme dahinter, die wie unser Gehirn funktionieren. Und sie lernen ständig durch die tägliche Nutzung von Millionen von Usern hinzu und werden besser. Künstliche Intelligenz macht es möglich. Miriam Meckels These ist, dass es in Zukunft eine Verbindung von menschlicher und künstlicher Intelligenz geben wird. Die nächste Evolutionsstufe wird sein, unser Gehirn direkt an die Technologien anzuschließen. Medizinische Forschung zeigt, dass das technologisch möglich ist. Es gibt Forschungsprojekte, bei denen Querschnittsgelähmte über Gedanken einen Roboterarm bewegen können. Für die Medizin ein Riesenfortschritt.
Kritisch wird es dann, wenn die Entwicklungen in Richtung Massenmarkt gehen. Mark Zuckerberg hat im Sommer 2017 angekündigt, ein Gerät entwickeln zu wollen, mit dem man Textnachrichten ins Handy "reindenken" kann, mit einer Geschwindigkeit von 100 Worten pro Minute. Elon Musk will mit der Firma Neuralink datenleitfähige Substanzen über das menschliche Gehirn legen. Das große Ziel: Hirn-Computer-Schnittstellen. Die Vision: Im Jahr 2050 werden Menschen vernetzt über Implantate – drahtlos - an eine intelligente Cloud angeschlossen sein. Das Horrorszenario schlechthin: Das menschliche Gehirn als nächstes Geschäftsmodell des Silicon Valley.
Neue Formation des Menschseins
Klingt alles nach Science Fiction? Dass die Kapazität unseres Gehirns begrenzt ist und Künstliche Intelligenz diese Grenze schon heute überwinden kann, zeigt kein besseres Beispiel als die Google-Software AlphaGO. Die selbstlernende KI-Software im Brettspiel „GO“ hat das menschliche Gehirn längst abgehängt. Es schlägt binnen kürzester Zeit nicht nur den Internationalen Champion Lee Sedol im Brettspiel GO, sondern wird selbst immer besser. Warum das so ist, können wir Menschen nicht mehr nachvollziehen. Es ist eine Blackbox. Wir wissen nur, dass es so ist.
Menschen sind dafür empfänglich, immer leistungsfähiger und effizienter werden zu wollen. In den USA sei es laut Meckel beispielsweise unter Studenten an den Universitäten gang und gäbe, das Medikament Ritalin einzunehmen, um das Denken und die Konzentration beim Lernen und bei Prüfungen zu verbessern. Wenn uns nun Künstliche Intelligenz dabei unterstützt, unsere Leistungsfähigkeit zu steigern, dann wird der technologische Fortschritt auch in diese Richtung weiter vorangetrieben.
Miriam Meckel ist davon überzeugt, dass es eine Verbindung von Biochemie des menschlichen Wesens und Technologie in Zukunft geben wird. Wie das Zusammenspiel von neuronalen und digitalen Netzen aussehen wird, kann heute keiner vorhersehen. Wir müssen mit der Entwicklung verantwortungsvoll umgehen. Dazu gehört in erster Linie, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und sich die richtigen Fragen zu stellen. Was ist mit der Privatheit der Gedanken? Was ist mit der Integrität der Persönlichkeit? Wo kann Künstliche Intelligenz uns das Leben erleichtern? Wo stellt es eine Gefahr dar? Wie ist es dann um unsere Selbstbestimmung bestellt? Wie schützen wir uns vor Manipulation und Missbrauch? Was Miriam Meckel fordert, ist Aufgeklärtheit: „Wir müssen uns darüber bewusst sein, dass wir Menschen nicht auf ewig Herr unseres Oberstübchens sind. Es gibt dafür keine Bestandsgarantie. Wenn wir das Gehirn als Refugium behalten wollen, dann müssen wir uns darum kümmern.“
Porträt des Branchenanalysten Jochen Krisch:
Der Coach an der Seitenlinie
Jochen Krisch ist im deutschen E-Commerce einer der profiliertesten Experten, dabei aber durchaus streitbar. Für sein Porträt auf changelog treffe ich ihn zu einem sehr intensiven und offenen Gespräch bei herrlichem Frühlingswetter im Münchener Biergarten. Wir kennen uns über zehn Jahre und ich schätze seine Beständigkeit und Ruhe, die er ausstrahlt, sehr. Und doch merke ich, es herrscht bei ihm Aufbruchsstimmung. Eine persönliche Momentaufnahme des Branchenanalysten.
Am Anfang war es Teleshopping
Als Jochen nach dem Platzen der Dotcom-Blase in den Anfängen der 2000er seinen Blog Exciting Commerce initiiert, ist sein Karriereweg alles andere als geplant. Beim ersten deutschen Teleshopping Sender H.O.T. – damals ein Joint Venture von Quelle und ProSieben, heute HSE24 – kann er Ende der 90er Jahre die Erfahrung sammeln, die er später in seinen messerscharfen Analysen seines E-Commerce-Blogs einsetzen wird: Analyse von Programminhalten, Formaten, Sendungen, ja auch die Performance von Moderatoren, darüber hinaus Prognosen und Forecasts. Damals schon konkret messbar, nach Abverkäufen – wie heute die KPIs im E-Commerce.
Jochen geht gerne unkonventionelle Wege. Was ihn treibt, ist die Neugier. Als in den USA Liveshopping-Konzepte wie Woot! („OneDayOneDeal“) aufkommen und das Web 2.0 die Welt erobert, wittert er seine Chance und hebt den Branchenblog Exciting Commerce aus der Taufe. Zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt er damit. Er kann aus seinem Know-how aus dem Teleshopping schöpfen und gleichzeitig den Blog als Lernmedium für eine junge Branche formen. Seine Intention dabei ist, andere am Lernen teilhaben lassen, zum Denken anregen, Inspiration bieten. Der Blog startet durch. Es folgen Aufträge als Publizist in Fachmedien, Vorträge, Moderationen. Der Pangora E-Commerce Kongress inspiriert ihn, in der immer virtueller werdenden Arbeitswelt einen Branchen- und Network-Event zu schaffen, der inhaltlich seinen hohen Ansprüchen genügt. Die K5 entsteht.
Opponent des stationären Handels
Ein legendäres Streitgespräch mit Prof. Gerrit Heinemann publiziert in der Brand Eins im Jahr 2015 macht ihn über Nacht zum personifizierten Widersacher des stationären Handels. Noch heute steht er für die kontroverse Meinung ein, dass der Handel nur dann eine Chance hat, wenn er sich Onlinekompetenz einkauft. Mit seiner persönlichen Onlinekompetenz wäre er prädestinierter Retter für den stationären Handel. Aber das entspricht nicht seiner Überzeugung. Er glaubt an eine Transformation der ganzen Branche, aber nicht an eine digitale Transformation des stationären Handels. Der Handel stelle sich die falschen Fragen, versuche die Online-Welt krampfhaft in den klassischen Strukturen zu verankern. Das ist aus seiner Sicht der falsche Weg. In den USA sieht er es allen Ortens: Fläche und Shopping Center funktionieren nicht mehr. Retailcalypse nennt er das. Seine Hypothese ist, dass About You in zehn Jahren erfolgreicher und profitabler sein wird als die Muttergesellschaft Otto.
Er weiß genau, dass er damit mehr als polarisiert und ist mit seiner Meinung exponierter als er es sich manchmal wünschen würde. Ihm ist bewusst, dass manche Leute ihm zum Vorwurf machen, durch kontroverse Thesen im Rampenlicht stehen zu wollen. Aber Selbstvermarktung hat er nie im Sinn, ihm geht es um die Sache. Er will neue Denkrichtungen anstoßen, Themen voranbringen, er möchte gestalten und an Fortschritt arbeiten. Dafür nimmt er in Kauf, in seiner Position ab und an auch einsam dazustehen.
Katalysator für Start-Ups
Jochen begleitet von Anfang an die Start-Up Szene der E-Commerce-Branche, beobachtet Unternehmen und Gründer, berichtet über sie, kennt viele persönlich, sein Netzwerk ist groß. Irgendwann erreicht er den Status, dass die Szene sich bei ihm Rat einholt. Er wird Sparrings-Partner und Advisor, beispielsweise kürzlich als Beirat beim Tech-Startup Frontastic oder teilweise auch als Gesellschafter wie beim Möbelshop Connox. Ihn prägt ein hohes Involvement zu den Unternehmen, bei denen er sich engagiert und trägt durch die eigene Kompetenz und Erfahrung seinen Teil zum Erfolg der Start-Ups bei. Das verschafft ihm selbst Unabhängigkeit und Freiheit, die er zu schätzen weiß. Er fühlt sich wohl in der Rolle als Coach am Spielfeldrand und es gefällt ihm, sich in Form von Branchen-Know-how und einem brillanten Netzwerk von Inkubatoren und Accelerator-Programmen einzubringen.
Er selbst ist kein Gründertyp, auch kein Manager. Routine und Prozesse nerven ihn. Er braucht die Abwechslung. Alt Bewährtes stellt er immer in Frage und treibt damit alle anderen, nicht zuletzt das K5-Team, in den Wahnsinn. Er spürt die Rastlosigkeit, die ihn antreibt, zählt sich zu den Working Nomads. Länger als vier Wochen am selben Ort hält er nicht aus. Dann zieht es ihn weiter und er lässt sich an anderen Fleckchen der Erde inspirieren.
Seine Hypothese: Dem Online-Handel fehlt es an Kapital
Die Venture Capital Welt ist seine große Leidenschaft. Ihn interessiert alles, was mit Kapital und Vermögensmanagement zu tun hat. Sein Know-how aus dem E-Commerce will er in Zukunft damit verbinden. Er weiß genau, wo die Not groß ist, er weiß, wo Risiken liegen, aber auch die Chancen. Seine Sichtweise hilft ihm für eine glasklare Betrachtung: In den letzten Jahren hat eine Professionalisierung der Branche stattgefunden, Wachstum, Skaleneffekte haben sich eingestellt. Innovative Online-Verkaufskonzepte – eher Fehlanzeige. Auch sein erwarteter, echter Umbruch im E-Commerce ist bisher ausgeblieben. Nach der Euphorie der Online-Shopping-Clubs aus den Jahren 2005 bis 2010 sieht er nichts Weltbewegendes mehr. Er zieht seine Schlüsse: Die größte Bremse ist das fehlende Kapital. Die Zalandos und Amazons dieser Welt werden als so übermächtig wahrgenommen, dass Investoren sich bei allen andere E-Commerce-Projekten zurück halten. E-Commerce spielt im Venture Capital Bereich eine nachrangige Rolle. Für den Handel von morgen fehlt es kapitalseitig an Strukturen, die langfristig ausgerichtet sind. Er sieht Chancen für spezialisierte Fonds, die E-Commerce-Unternehmen in allen Phasen und Größenordnungen unterstützen.
Vom Publizist zum Kapitalmarktanalyst
Denn das Risiko für Kapitalgeber ist seiner Meinung nach nicht so hoch wie es scheint. Hier will er etwas in Bewegung bringen, zielt auf Familiy Offices, Private Equity Häuser, institutionelle Anleger. Sein 2015 mit Sven Rittau aufgelegter Global Online Retail Fonds erreicht nach bald drei Jahren mit jährlichen Wachstumsraten im zweistelligen Bereich nun eine Schwelle, die sich in der Investment-Szene sehen lassen kann und er glaubt daran, mit den richtigen Partnern noch weitere Investments auflegen zu können.
Dollarzeichen in den Augen wie Dagobert Duck? Jochen ist durchaus wettbewerbsorientiert, möchte Erfolg haben, aber mit sinnvollem Beweggrund. Es geht ihm nicht darum, Geld zu scheffeln, er will die Branche verändern. Immer auf der Suche nach Neuem, ein ständig Lernender ist er gleichzeitig ein begnadeter Strippenzieher. Nach dem publizistischen Hebel über Exciting Commerce und K5 versucht er es nun über den Hebel des Kapitalmarkts und zündet die nächste Stufe für seine neue persönliche Herausforderung. Die Chancen, die sich ihm bieten, nimmt er gerne an, da ist er opportunistisch genug. Planbar ist seine Karriere ohnehin nicht, dazu ist er viel zu sehr in Bewegung.