Saturn Express Innsbruck

Kassenloses Bezahlen: Wirklich ein Vorteil für die Kunden?

Erst vor wenigen Tagen verkündete Walmart völlig überraschend, sein kassenloses Testprogramm “Scan&Go” einzustellen. Dabei hatte der Discount-Riese erst Anfang des Jahres bekannt gegeben, kassenloses Bezahlen auf 100 Filialen in 33 Staaten der USA ausweiten zu wollen. Der Grund: Es sei zu umständlich für den Kunden. Auch MediaMarktSaturn experimentiert seit März mit dem kassenlosen Kaufprozess in einer Filiale in Innsbruck – mit ungewissem Ausgang. Was sind die Learnings aus beiden Fällen?

Neue POS-Modelle händeringend gesucht

Anfang März avancierte Innsbruck, genauer gesagt ein Shop von MediaMarktSaturn in einem Einkaufszentrum in Innsbruck, zum Star der europäischen Handelsszene: Denn ausgerechnet dort eröffnete der Elektroriese einen Saturn Express Shop, den ersten kassenlosen Store in Europa. Das Medienecho war riesig! Nicht nur europäische Pressevertreter berichteten darüber, sogar die malaysische Tageszeitung „The Star“ informierte ihre Leser über die Neueröffnung. Der Informationsbedarf über innovative Technologien wie kassenloses Bezahlen für den Handel scheint enorm, ebenso die Verunsicherung darüber, wie der POS der Zukunft denn aussehen soll.

Saturn Express App
Über die Saturn Express App scannt der Kunde den Preis des Produkts und bezahlt per PayPal oder Kreditkarte. Quelle: MediaMarktSaturn Österreich

Saturn Express in Innsbruck: schnell testen, schnell lernen

Florian Gietl, CEO MediaMarktSaturn Österreich brachte es bei der Eröffnung in Innsbruck auf den Punkt: „Wir werden in den nächsten Wochen sehen, wie der Shop sich entwickelt. Wir wissen es ja selbst nicht genau und deswegen probieren wir es aus.“ Nur vier Monate habe es von der Idee bis zur Umsetzung des Pop-up Stores in Innsbruck gebraucht – bemerkenswert für einen Branchenriesen, den manche gerne mit einem Tanker vergleichen. Auch Martin Wild, Innovationschef der Unternehmensgruppe, kritisierte bei mehreren Anlässen immer wieder, dass der deutsche Handel einfach zu wenig risikobereit sei. Neue Ideen müssten über zig Abteilungen hinweg bis in kleinste Detail besprochen werden bis der Markt neue Erkenntnisse liefert und man wieder von vorne beginnen müsse. Und mal ehrlich: Wenn man etwas nicht machen will, scheint es immer viel mehr Gründe zu geben, die gegen etwas sprechen, als Gründe, es zu tun.

Das Dilemma: Innovationen sind riskant

Doch was ist, wenn sich die Innovation – schließlich als Verbesserung gedacht – dann als Irrtum erweist und die Kunden sie nicht annehmen? Sie sogar testen und dann für unbrauchbar erachten, wie im Falle Walmart? Dann hat man viel Geld investiert, möglicherweise Kunden verärgert und sich zudem noch das eigene Image als Innovationstreiber befleckt. Der zurückhaltende Umgang mit neuen Ideen am POS ist also durchaus verständlich. Dennoch gibt es keine Alternative. Denn „Late Mover im Handel zu sein, ist schwer zu überleben“, ist Martin Wild überzeugt.

Bei Walmart war der entscheidende Faktor für das Aus des kassenlosen Bezahlens, dass zu viele Kunden den Kaufprozess im Laden zu umständlich fanden. Vor allem, wenn es darum ging, Waren wie frisches Obst und Gemüse zu verpacken, zu wiegen und dann zu scannen. Viele Kunden fühlten sich überfordert oder sahen einfach keinen Nutzen für sich. Der propagierte Zeitvorteil blieb demnach aus. Durchaus denkbar, wenn man sich vorstellt, dass die „alte“ Schlange vor der Kasse bei “Scan&Go” nun wahrscheinlich einfach durch die „neue“ Schlange an der Gemüsewaage ersetzt wurde.

Saturn Express setzt auf „To-go-Sortimente“

Einfach die Kasse im Laden abbauen und schon winkt die rosige Zukunft funktioniert also nicht. Das wäre wohl auch viel zu einfach. MediaMarktSaturn geht hier einen etwas differenzierteren Weg: Anstatt kassenloses Bezahlen über alle Sortimente hinweg anzubieten, hat der Pop-up-Store in Innsbruck ganz bewusst nur ein sehr kleines und ausgewähltes Sortiment in den Regalen – bietet darüber hinaus als verlängerte Ladentheke aber auch einen Webshop-Zugang über einen großen Touchscreen. Erhältlich sind wenig beratungsintensive Zubehörprodukte wie Ladekabel, Handyhüllen oder Lautsprecherboxen. Zudem will der typische Saturn Express Kunde wahrscheinlich nicht mit einem Einkaufswagen voll Produkte auschecken. Diese Tatsache scheint dem Elektroladen in die Hände zu spielen, denn mengenmäßig große Warenkörbe selbst auszuchecken, dürfte tatsächlich nicht besonders praktisch sein.

Selbsttest: Ich könnte auf eine Kasse verzichten

Und da Innsbruck in Sachen Einkaufen ja sonst nicht unbedingt zu den zukunftsweisendsten Pflastern dieser Welt zählt und ich zufällig dort wohne, habe ich einen Selbsttest in Sachen kassenloses Bezahlen gemacht. Von außen extrem unauffällig, bin ich tatsächlich sogar erst einmal am Saturn Express Shop vorbei gelaufen, bis ich ihn im Einkaufscenter Sillpark in Innsbruck endlich entdeckt hatte. Und auf den ersten Blick fällt auch gar nicht auf, dass die Kasse fehlt. Zwei freundliche Verkäufer erklären mir die Vorgehensweise und ich installiere direkt im Laden die Saturn Express App auf mein Smartphone. Ich öffne sie und scanne damit den am Produkt angebrachten Barcode ein. Ich wähle aus, ob ich per PayPal oder Kreditkarte zahlen möchte, bestätige den Kauf und kann wieder gehen. Die Rechnung bekomme ich prompt per Mail zugeschickt. Alles zusammen dauert keine zwei Minuten. Ohne den Download der App sogar nur Sekunden. Alles supereinfach und bequem – auch wenn ich nicht verhindern kann, mich beim Passieren der Alarmanlage beim Hinausgehen ein bisschen unwohl zu fühlen.

Das Learning: Es kommt darauf an...

„Die Digitalisierung eröffnet den Menschen neue Möglichkeiten und verändert damit ihr Einkaufsverhalten“, erläuterte Florian Gietl der Tiroler Tageszeitung die aktuelle Situation im Handel. „Konsumenten schätzen das rasche und einfache Onlineshopping genauso wie die persönliche Beratung im Geschäft. Saturn Express will hier die Brücke schlagen!“ Und genau darin liegt vielleicht das Learning aus Saturn Express und Walmart “Scan&Go”: Unser Kaufverhalten ist inzwischen so differenziert und wir als Käufer so auf Prozessoptimierung fixiert, dass eine Universallösung für den Check-out im Geschäft nicht mehr möglich sein kann.  Es wird in Zukunft wahrscheinlich mehr um das gezielte „sowohl als auch“ als um das gieskannenmäßige „entweder oder“ gehen.

Und selbst wenn man sich vorstellt, dass der kassenlose Laden sortiment- und prozessoptimiert bald zur Gewohnheit werden sollte: Wie viele Apps will der Konsument auf sein Handy laden? Und was ist mit Shops, in denen er nicht ständig einkaufen geht? Vieles ist noch unklar, doch das Pilotprojekt „kassenloser Pop-up Store Saturn Express in Innsbruck“ wird in diesen Tagen auslaufen, weitere Standorte seien zunächst nicht geplant. Wie ich schon sagte – der Ausgang ist ungewiss.

 

 

 

 


User Experience Design Experte

Interview mit Prof. Danny Franzreb: Die Therapie für Innovation

Um die Frage, wie innovative Technologien Mensch und Marketing verändern, ging es beim 11. Neuromarketing Kongress Ende April in der Münchner BMW Welt. Dort sprach ich mit Prof. Danny Franzreb vom Human-Centered Design Institut der Hochschule Neu-Ulm über den wissenschaftlichen Ansatz der User Experience und das Potenzial, damit echte Innovationen zu schaffen. Er ist Berater für digitale Medien mit mehr als 20 Jahren Berufserfahrung. Seine Arbeiten als Creative Director für Kunden wie Leica, Mercedes Benz oder die Deutsche Bank wurden vielfach mit nationalen und internationalen Designpreisen ausgezeichnet.

Prof. Franzreb, wir sind im Alltag umgeben von Unmengen digitaler Produkte und Services. Ist die Bedienbarkeit der Technologie der entscheidende Erfolgsfaktor?

Bei der Interaktion mit digitalen Medien geht um die Schnittstelle zwischen Mensch und Technologie. Und ja, die Nutzung und Bedienbarkeit ist absolut wichtig. Aber es ist eine eher defizitorientierte Sichtweise. Es gibt beispielsweise einen Unterschied zwischen tatsächlicher und gefühlter Effizienz. Emotionen spielen mindestens eine genauso große Rolle wie Bedienbarkeit – positive Emotionen führen erst zum Gefühl einer wirklich erfüllenden Produktnutzung.

Das bedeutet die „Faszination Technik“ allein reicht nicht mehr aus für die Kundenzufriedenheit?

Bei der Frage, welche Produkteigenschaften zum Erfolg führen, geht nicht mehr alleine um die technischen Möglichkeiten, sie fungieren teilweise nur noch als Hygienefaktor.

 

"Steve Jobs hat bereits in den 80er-Jahren erkannt, dass der Benefit für den Kunden nicht technologiegetrieben ist."

 

Wie kommt es zu dieser Entwicklung, haben Sie ein konkretes Beispiel?

Die Evolution zur User Experience lässt sich sehr schön am Beispiel Automobil erläutern: Früher nannte man das Cockpit des Automobils „Fahrerarbeitsplatz“. Heute sprechen wir schon vom Fahrerlebnisplatz. Die Entwicklung wird aber noch weiter gehen, Stichwort autonomes Fahren und Elektromobilität. Wir müssen uns die Frage stellen, welche Grundbedürfnisse ändern sich, und welche Produkte und Services entstehen in dem neuen Kontext und wie können wir sie erlebbar machen.

User Experience ist ein abstrakter Begriff, können Sie erläutern, wie man sich das vorstellen kann?

Modellhaft kann man User Experience in drei verschiedenen Dimensionen erklären. Zum einen die pragmatische Qualität. Die zweite ist die hedonische – hier sprechen wir von Dingen wie der Attraktivität und der damit verbundenen Stimulanz, die ein Erlebnis auslöst. Und die dritte Qualität ist die eudänomische, da geht es um langfristige Sinnhaftigkeit bzw. ethisch und sinnstiftende Nachhaltigkeit. Die funktionale Ebene eines Produkts ist dabei eine absolute Grundvoraussetzung. Alle drei Dimensionen sollten dazu führen, dass Erlebnisse so beurteilt und positiv uminterpretiert werden, dass sie persönliche Bedürfnisse befriedigen.

Wie schafft man solche positiven Nutzererlebnisse?

Eine moderne Herangehensweise im Human-Centered Design, bei der die Bedürfnisse des Kunden in den Mittelpunktgestellt werden, ist das Konzept Design Thinking. Es ist ein kreativer Prozess, bei dem man mithilfe von Analysen und Feedback der eigentlichen Nutzer positive Nutzererlebnisse erzeugt und beeinflusst. Die Vorgehensweise ist iterativ, eine Art „Therapie“ für klassische Entwicklungsprozesse mit dem Ziel, Innovationen zu schaffen und Wettbewerbsfähigkeit zu sichern.

Wenn man sich speziell den Online-Handel anschaut, welche Maßnahmen tragen denn zu einer positiven User Experience bei?

Das Problem ist, dass Menschen grundsätzlich Erlebnisse schlecht antizipieren können – es bleibt immer „nur“ ein Stimmungsbild, ein Bauchgefühl. Man kann aber Erlebbarkeit stimulieren. Dazu muss man seine Kunden und deren Bedürfnisse gut kennen. Um beim Beispiel Online-Shops zu bleiben, kann man sein Sortiment durch klare Argumente wie Testberichte neutraler Institutionen anreichern. Oder über „weiche Argumente“ – wie zum Beispiel Produktauszeichnungen durch Awards oder auch Beurteilungen durch andere Nutzer, die als Stellvertreter für die eigentliche Produktnutzung fungieren.

Nun wird aber nicht jedes Produkt mit tollen Testberichten und Design-Awards ausgezeichnet…

Der Punkt ist: Erlebnisqualitäten werden legitimiert, wenn man darüber spricht. Man kann beispielsweise Produkte durch andere erlebbar machen. Influencer testen Produkte in der realen Umgebung und drehen darüber ein Youtube-Video, das ist nur ein Art der Umsetzung. Oder jetzt mal Multichannel gedacht: ein Produkt wird in einer Verkaufssituation im stationären Handel validiert. Auch ein Belohnungs-Framework könnte funktionieren. All das sind Bausteine, die zu einer positiven User Experience führen können. Die nächste Stufe wird sein, Erlebbarkeiten in virtuellen Realitäten zu schaffen.

Wenn ein bestehender Shop entscheidet, die User Experience in den Fokus zu nehmen, wie müsste er vorgehen? Was sind grundlegende Voraussetzungen?

Ein menschenzentrierter Designprozess würde bedeuten, dass man die Bedürfnisse der Nutzer von Anfang an in den Mittelpunkt stellt. Das heißt, dass man Nutzer in alle Phasen des Entwicklungsprozesses integriert. Es genügt hier nicht über Nutzer oder deren Bedürfnisse Hypothesen aufzustellen, man muss wirklich Nutzer im Prozess integrieren, also kontinuierlich Nutzerfeedback einholen. Ein Vorgehensmodell dazu wäre der Human-Centered Design Prozess nach Iso 9241-210. Es muss aber auch nicht immer gleich die ISO-Norm sein, Design Thinking oder Design Sprints stellen gute Alternativen zu dem sehr formellen Prozess der ISO dar.

Design Thinking
User Experience: menschenzentrierter Designprozess

Mit welchen Investitionen ist für ein solches Projekt zu rechnen?

Das ist pauschal schwer zu sagen. Natürlich sind größere Unternehmen mit entsprechenden Anforderungen gut damit beraten formale Rollen in dem Bereich zu etablieren. Dies geschieht auch gerade im digitalen Bereich schon seit einigen Jahren. Es muss aber nicht gleich eine ganze UX-Abteilung sein, man kann auch iterativ vorgehen und Kompetenzen in dem Bereich immer weiter ausbauen. Wir haben selbst gute Erfahrungen damit gemacht Unternehmen zuerst bei dem Aufbau solcher Kompetenzen zu begleiten, um diese dann langfristig bei internen Teams zu etablieren.

Welches Team müsste er dafür zusammenstellen? Welche Qualifikationen müssen die Mitarbeiter haben?

Im Leitfaden Usability des Dakks findet sich eine sehr gute Beschreibung der Rollen und Prozessschritte, die Typisch für solche Projekte sind. Generell kommen verschiedene Kompetenzfelder zusammen. Ursprünglich waren in solchen Prozessen sehr viele Informatiker involviert. Mittlerweile hat man aber erkannt, dass Nutzerforschung in seiner Natur ein sehr humanistisch geprägtes Feld ist. Daher arbeiten auch immer mehr Gestalter und Psychologen in dem Bereich. Einige Hochschulen bieten Studiengänge für User Experience oder Human-Computer Interaction an, das sind interdisziplinäre Studiengänge die alle Kompetenzfelder entsprechend abdecken.

 

"Der größte Fehler ist, pseudo-menschenzentriertes Design zu betreiben."

 

Welche grundsätzlichen Fehler werden bei der Umsetzung gemacht? 

Wenn man zwar versucht, sich Gedanken über die Bedürfnisse der Nutzer zu machen, alles aber größtenteils auf einer hypothetischen Ebene bleibt. Man bastelt dann quasi im Team pseudo Personas, Szenarien und User-Journeys ohne jemals wirklich Nutzerinterviews oder Beobachtung durchgeführt zu haben. Eigentlich sind das dann wieder nur die Meinungen von Teammitgliedern in Nutzerverhalten umformuliert. In der Realität weichen die Einschätzungen vom Produktteam und die Bedürfnisse wirklicher Nutzer dann aber doch sehr stark voneinander ab.

Sehen Sie derzeit bestimmte Trends in der User Experience?

In den letzten zehn Jahren ist die Situation schon sehr viel besser geworden. Dadurch, dass Unternehmen wie Apple oder Google so erfolgreich geworden sind, haben viele andere Unternehmen verstanden wie wertvoll es sein kann sich auf User Experience und menschenzentriertes Design zu fokussieren. Aktuell stehen wir vor neuen Herausforderungen wie die UX von künstlichen Intelligenzen, Voice UX oder AR/VR Experiences.

Gibt es konkrete Forschungsprojekte von User Experience mit AR und VR?

Es gibt erste Ansätze. Wir stellen uns im Moment die Frage, welche Eigenschaften von AR/VR Experiences für deren Beurteilung hinsichtlich der Nutzererfahrung entscheidend sind. Dazu kann man auf viele etablierte Methoden im Rahmen von Nutzungstests zurückgreifen, muss aber auch noch zusätzliche Tools und Testverfahren entwickeln.  Uns wird also so schnell nicht langweilig werden. Solange es neue Produkte und Services gibt, werden wir diese auch für Menschen optimieren, damit deren Nutzung auf funktionaler und emotionaler Ebene überzeugt.

Vielen Dank für das Gespräch, Prof. Franzreb!

 

Weiterführende Links:

11. Neuromarketing Kongress

Human-Centered Design Institut der Hochschule Neu-Ulm

Leitfaden Usability des DAkkS


Generation Z

Yeay – alle Macht der Generation Z

Als Mutter von drei Teenagern weiß ich, dass die Generation Z eine ganz andere Art an Selbstbewusstsein an den Tag legt, als wir das in jungen Jahren je getan haben. Sie fordern Respekt und Gleichbehandlung, die mir einerseits als Elternteil manchmal zu viel des Guten wird und die ich andererseits insgeheim bewundere. Melanie Mohr, Gründerin von Yeay, zeigte auf dem E-Channels Day Anfang Mai in München eine weitere Dimension der Generation Z auf: Eine Geschäftstüchtigkeit, die mich persönlich nachdenklich stimmt.

Marketing-Welt aus Sicht der Teenager

Charles Bahr, 16 Jahre alt, Schüler und vermutlich Deutschlands jüngster Agenturchef, verwirklichte seine Geschäftsidee: Er erzählt Unternehmen, auf welchen Plattformen er und seine Freunde unterwegs sind, wie sie diese nutzen, was sie gut finden, was schlecht. Und rennt damit offene Türen ein. In seiner Influencer-Marketing-Agentur beschäftigt der Shootingstar der Werbewelt mittlerweile 15 Gleichaltrige. Er ist Speaker auf internationalen Marketing-Konferenzen, große DAX-Unternehmen holen den Jungunternehmer als Berater für Produktstrategien an Bord.

Der Erfolg von Charles ist die Folge der Veränderung durch den Medienkonsum und der Beweis dafür, dass die alte Marketing-Welt nicht mehr funktioniert. Die Generation Z, also alle ab Mitte der 90er-Jahre geborenen Kinder und Jugendlichen, werden sicher keine Produkte konsumieren, bloß weil Markenhersteller sie ihnen als cool und hipp verkaufen wollen. Keiner weiß das besser als Melanie Mohr, Gründerin und CEO der Teenager-Plattform Yeay. Auch sie holte Rat von Charles, er ist Mitglied eines zehnköpfigen Advisory Boards aus Teenagern, das weltweit für das Start-Up Yeay beratend tätig ist.

Testing mit Generation Z

Yeay ist eine der ersten europäischen Plattformen, die ihr Augenmerk auf die Generation Z legt, weg von den Millenials. Die Shopping-App basiert auf einem Affiliate-Modell und verbindet drei entscheidende Funktionen für junge Leute – Branding, Broadcasting und Shopping. Yeay ist die erste globale Marktplatz-App, die Videos zum Verkauf von Produkten verwendet. Mit mittlerweile über 700.000 App-Installationen und über 30 Mitarbeitern gehört Yeay zu den am schnellsten wachsenden Start-ups in Berlin.

„Die Art und Weise wie wir heute mit Technologie umgehen hat uns verändert. Kein anderer führt uns das so deutlich vor Augen wie die Generation Z, die heutigen Teenager“, so Mohr, selbst Mutter von drei Kindern, zwei davon im Teenager-Alter. Sie rät jedem Unternehmen, sich Teenager ins Haus zu holen und von der „Generation Snapchat“ Produkte und Services testen zu lassen. Auch jenen Unternehmen, die Teenager noch nicht zu ihrer relevanten Zielgruppe zählen. „Die Jugendlichen haben eine ganz andere Herangehensweise“, sagt Mohr. „Ihre User Experience, ihre Art und Denkweise unterscheidet sich komplett von den Erwachsenen. Man sollte ihnen zuhören, allein schon deshalb, weil sie die Kunden der Zukunft sind.“

Generation Goldfisch mit Sinn fürs Business

Die Dominanz von Mobile und Video bei dieser Generation ist eklatant. 79 Prozent der acht- bis 20-Jährigen entscheiden laut einer Untersuchung der Native-Advertising Experten Sharethrough binnen drei Sekunden, ob ein Video für sie interessant ist. Die Studienergebnisse belegen eine massive Abkehr von älteren Generationen. Eine Kluft in den Medienkonsumgewohnheiten, die wahrscheinlich mit der Zeit größer werden wird.

Mobile und Video
Die Dominanz von Mobile und Video bei der Generation Z ist eklatant.

Vor allem aber unterscheidet ihr Geschäftssinn die neue Generation von den Millenials: In einer Umfrage von Millenial Branding geben 72 Prozent der Teenager an, ihr eigenes Unternehmen gründen zu wollen. „Es gibt einen extremen Wertewandel“ so Mohr. „Die Jugendlichen wollen mitwirken, unternehmerisch gestalten und suchen Vertrauenswürdigkeit. Und sie wollen ihre Leistungen mit Aufmerksamkeit und Wertschätzung entlohnt wissen.“

Blockchain schafft eigenes Wertesystem

Was bedeutet aber nun Wertschätzung, wenn Jugendliche auf einer Plattform wie Yeay ihre Lieblingsmarke in einem selbstgedrehten Video inszenieren und in ihrer virtuellen Welt teilen? Melanie Mohr ist eine Verfechterin, die „Content Creators“ am Erfolg teilhaben zu lassen und die Teenager dafür zu honorieren. Derzeit belohnt Yeay das Engagement der Teenies für ihre Lieblingsmarken und –produkte mit einem Punktesystem – einer Art Loyaltyprogramm.

Vor fünf Monaten dann die große Erkenntnis, dass den Teenies das Punktesystem als Entlohnung für ihre kreativen Produktempfehlungen nicht mehr ausreicht. „We don’t want points, we want coins“, erfuhr Melanie Mohr im Gespräch mit ihren Nutzern. Sie will den Anforderungen ihrer Zielgruppe gerecht werden und treibt das Modell nun in die nächste Entwicklungsstufe. Blockchain-Technologie kommt ins Spiel. Die neue Infrastruktur des Internets, die auf Dezentralität basiert, und somit Verschiebungen von Werten – egal welcher Art – nachvollziehbar macht.

Blockchain-Apllikation für Generation Z
Yeay-Gründerin Melanie Mohr kündigt auf dem ECD 2018 den "Word-of-Mouth-Token" auf Basis der Blockchain-Technologie an.

Das Yeay-Entwickler-Team arbeitet derzeit mit Hochdruck an einem „Word-of-Mouth-Token“ auf Basis der Blockchain-Technologie als Gegenwert für Mundpropaganda und Produktempfehlungen. Markteinführung ist in drei bis vier Monaten geplant. Melanie Mohr hat damit große Pläne und adressiert auf dem ECD das Fachpublikum mit über 500 E-Commerce Experten: „Mit dem Word-of-Mouth-Token implementieren wir ein neues Wertesystem. Ihr alle werdet auf diesem Blockchain-Modell aufsetzen können, um die Generation Z zu erreichen und für die Zukunft ein optimales Shoppingumfeld zu gestalten.“ Der Vorstoß von Yeay gibt eine Idee, wie eine Applikation der Blockchain-Technologie im Retail aussehen könnte.

Verloren in der virtuellen Welt?

Ob man es ethisch für gut befindet, eine Kommerzialisierungsapplikation ausgerechnet für Teenager zu entwickeln, sei dahin gestellt. Die Kids sind in die digitale Welt hineingeboren, Technologie ist für sie eine Selbstverständlichkeit, die sie nutzen. Social Media gehört heute zum Prozess des Erwachsenwerdens dazu, zur Selbstfindung, zu wissen, wer man ist – was auch gut ist. Die Gefahr jedoch, dass ein Be- und Entlohnungssystem für Marketingzwecke eine noch größere Sogwirkung mit sich bringt, und die Teenies ausschließlich in ihrer virtuellen Welt abtauchen lässt, besteht durchaus. Für eine starke Persönlichkeit wie Charles, der weiß was er will, stellt dies sicher kein Problem dar. Aber es gibt da draußen auch labile Persönlichkeiten unter den Jugendlichen, die sich nach Aufmerksamkeit und Anerkennung sehnen. Wir dürfen nicht zulassen, dass Teenager den Blick für die reale Welt verlieren, die ja doch existent ist – noch.


JK Portrait

Porträt des Branchenanalysten Jochen Krisch:
Der Coach an der Seitenlinie

Jochen Krisch ist im deutschen E-Commerce einer der profiliertesten Experten, dabei aber durchaus streitbar. Für sein Porträt auf changelog treffe ich ihn zu einem sehr intensiven und offenen Gespräch bei herrlichem Frühlingswetter im Münchener Biergarten. Wir kennen uns über zehn Jahre und ich schätze seine Beständigkeit und Ruhe, die er ausstrahlt, sehr. Und doch merke ich, es herrscht bei ihm Aufbruchsstimmung. Eine persönliche Momentaufnahme des Branchenanalysten.

Am Anfang war es Teleshopping

Als Jochen nach dem Platzen der Dotcom-Blase in den Anfängen der 2000er seinen Blog Exciting Commerce initiiert, ist sein Karriereweg alles andere als geplant. Beim ersten deutschen Teleshopping Sender H.O.T. – damals ein Joint Venture von Quelle und ProSieben, heute HSE24 –  kann er Ende der 90er Jahre die Erfahrung sammeln, die er später in seinen messerscharfen Analysen seines E-Commerce-Blogs einsetzen wird: Analyse von Programminhalten, Formaten, Sendungen, ja auch die Performance von Moderatoren, darüber hinaus Prognosen und Forecasts. Damals schon konkret messbar, nach Abverkäufen – wie heute die KPIs im E-Commerce.

Jochen geht gerne unkonventionelle Wege. Was ihn treibt, ist die Neugier. Als in den USA Liveshopping-Konzepte wie Woot! („OneDayOneDeal“) aufkommen und das Web 2.0 die Welt erobert, wittert er seine Chance und hebt den Branchenblog Exciting Commerce aus der Taufe. Zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt er damit. Er kann aus seinem Know-how aus dem Teleshopping schöpfen und gleichzeitig den Blog als Lernmedium für eine junge Branche formen. Seine Intention dabei ist, andere am Lernen teilhaben lassen, zum Denken anregen, Inspiration bieten. Der Blog startet durch. Es folgen Aufträge als Publizist in Fachmedien, Vorträge, Moderationen. Der Pangora E-Commerce Kongress inspiriert ihn, in der immer virtueller werdenden Arbeitswelt einen Branchen- und Network-Event zu schaffen, der inhaltlich seinen hohen Ansprüchen genügt. Die K5 entsteht.

Opponent des stationären Handels

Ein legendäres Streitgespräch mit Prof. Gerrit Heinemann publiziert in der Brand Eins im Jahr 2015 macht ihn über Nacht zum personifizierten Widersacher des stationären Handels. Noch heute steht er für die kontroverse Meinung ein, dass der Handel nur dann eine Chance hat, wenn er sich Onlinekompetenz einkauft. Mit seiner persönlichen Onlinekompetenz wäre er prädestinierter Retter für den stationären Handel. Aber das entspricht nicht seiner Überzeugung. Er glaubt an eine Transformation der ganzen Branche, aber nicht an eine digitale Transformation des stationären Handels. Der Handel stelle sich die falschen Fragen, versuche die Online-Welt krampfhaft in den klassischen Strukturen zu verankern. Das ist aus seiner Sicht der falsche Weg. In den USA sieht er es allen Ortens: Fläche und Shopping Center funktionieren nicht mehr. Retailcalypse nennt er das. Seine Hypothese ist, dass About You in zehn Jahren erfolgreicher und profitabler sein wird als die Muttergesellschaft Otto.

Er weiß genau, dass er damit mehr als polarisiert und ist mit seiner Meinung exponierter als er es sich manchmal wünschen würde. Ihm ist bewusst, dass manche Leute ihm zum Vorwurf machen, durch kontroverse Thesen im Rampenlicht stehen zu wollen. Aber Selbstvermarktung hat er nie im Sinn, ihm geht es um die Sache. Er will neue Denkrichtungen anstoßen, Themen voranbringen, er möchte gestalten und an Fortschritt arbeiten. Dafür nimmt er in Kauf, in seiner Position ab und an auch einsam dazustehen.

Katalysator für Start-Ups

Jochen begleitet von Anfang an die Start-Up Szene der E-Commerce-Branche, beobachtet Unternehmen und Gründer, berichtet über sie, kennt viele persönlich, sein Netzwerk ist groß. Irgendwann erreicht er den Status, dass die Szene sich bei ihm Rat einholt. Er wird Sparrings-Partner und Advisor, beispielsweise kürzlich als Beirat beim Tech-Startup Frontastic oder teilweise auch als Gesellschafter wie beim Möbelshop Connox. Ihn prägt ein hohes Involvement zu den Unternehmen, bei denen er sich engagiert und trägt durch die eigene Kompetenz und Erfahrung seinen Teil zum Erfolg der Start-Ups bei. Das verschafft ihm selbst Unabhängigkeit und Freiheit, die er zu schätzen weiß. Er fühlt sich wohl in der Rolle als Coach am Spielfeldrand und es gefällt ihm, sich in Form von Branchen-Know-how und einem brillanten Netzwerk von Inkubatoren und  Accelerator-Programmen einzubringen.

Er selbst ist kein Gründertyp, auch kein Manager. Routine und Prozesse nerven ihn. Er braucht die Abwechslung. Alt Bewährtes stellt er immer in Frage und treibt damit alle anderen, nicht zuletzt das K5-Team, in den Wahnsinn. Er spürt die Rastlosigkeit, die ihn antreibt, zählt sich zu den Working Nomads. Länger als vier Wochen am selben Ort hält er nicht aus. Dann zieht es ihn weiter und er lässt sich an anderen Fleckchen der Erde inspirieren.

Seine Hypothese: Dem Online-Handel fehlt es an Kapital

Die Venture Capital Welt ist seine große Leidenschaft. Ihn interessiert alles, was mit Kapital und Vermögensmanagement zu tun hat. Sein Know-how aus dem E-Commerce will er in Zukunft damit verbinden. Er weiß genau, wo die Not groß ist, er weiß, wo Risiken liegen, aber auch die Chancen. Seine Sichtweise hilft ihm für eine glasklare Betrachtung: In den letzten Jahren hat eine Professionalisierung der Branche stattgefunden, Wachstum, Skaleneffekte haben sich eingestellt. Innovative Online-Verkaufskonzepte – eher Fehlanzeige. Auch sein erwarteter, echter Umbruch im E-Commerce ist bisher ausgeblieben. Nach der Euphorie der Online-Shopping-Clubs aus den Jahren 2005 bis 2010 sieht er nichts Weltbewegendes mehr. Er zieht seine Schlüsse: Die größte Bremse ist das fehlende Kapital. Die Zalandos und Amazons dieser Welt werden als so übermächtig wahrgenommen, dass Investoren sich bei allen andere E-Commerce-Projekten zurück halten. E-Commerce spielt im Venture Capital Bereich eine nachrangige Rolle. Für den Handel von morgen fehlt es kapitalseitig an Strukturen, die langfristig ausgerichtet sind. Er sieht Chancen für spezialisierte Fonds, die E-Commerce-Unternehmen in allen Phasen und Größenordnungen unterstützen.

Vom Publizist zum Kapitalmarktanalyst

Denn das Risiko für Kapitalgeber ist seiner Meinung nach nicht so hoch wie es scheint. Hier will er etwas in Bewegung bringen, zielt auf Familiy Offices, Private Equity Häuser, institutionelle Anleger. Sein 2015 mit Sven Rittau aufgelegter Global Online Retail Fonds erreicht nach bald drei Jahren mit jährlichen Wachstumsraten im zweistelligen Bereich nun eine Schwelle, die sich in der Investment-Szene sehen lassen kann und er glaubt daran, mit den richtigen Partnern noch weitere Investments auflegen zu können.

Dollarzeichen in den Augen wie Dagobert Duck? Jochen ist durchaus wettbewerbsorientiert, möchte Erfolg haben, aber mit sinnvollem Beweggrund. Es geht ihm nicht darum, Geld zu scheffeln, er will die Branche verändern. Immer auf der Suche nach Neuem, ein ständig Lernender ist er gleichzeitig ein begnadeter Strippenzieher. Nach dem publizistischen Hebel über Exciting Commerce und K5 versucht er es nun über den Hebel des Kapitalmarkts und zündet die nächste Stufe für seine neue persönliche Herausforderung. Die Chancen, die sich ihm bieten, nimmt er gerne an, da ist er opportunistisch genug. Planbar ist seine Karriere ohnehin nicht, dazu ist er viel zu sehr in Bewegung.