Seit Albert Einstein wissen wir, dass Probleme nicht mit denselben Denkweisen gelöst werden können, durch die sie letztendlich entstanden sind. Mit der Forderung nach mehr Diversität in Unternehmen soll genau diese Problematik angegangen werden. Denn: Je vielfältiger ein Team hinsichtlich Geschlecht, Herkunft, Alter, kulturellem Hintergrund, Denkweise, Fähigkeit und Berufserfahrung ist, desto umfassender und innovativer sind seine Lösungsansätze. Ich habe mit Jutta Eckstein, Keynote-Speakerin, Autorin mehrerer Fachbücher zum Thema Agile Software Entwicklung, Programmverantwortliche der Fachkonferenz OOP, kurz: eine der renommiertesten IT-Expertinnen Deutschlands über das Thema gesprochen. Das Ergebnis: Überraschend!

Jutta Eckstein bei der Eröffnung der OOP Konferenz 2019
Jutta Eckstein, OOP Konferenz
Frau Eckstein, wie sind Sie eigentlich in der IT gelandet?

Tatsächlich über Umwege. Nach einem Lehramt-Studium mit Sport und Kunsttechnik habe ich mich 1992 entschlossen, nochmal etwas ganz anderes zu studieren: Product Engineering mit dem Schwerpunkt Software Entwicklung.

Wie kann man sich die Studienlandschaft zu dieser Zeit vorstellen?

Natürlich sehr männerlastig. In allen technischen Studiengängen lag der Anteil der weiblichen Studentinnen im einstelligen Bereich. In manchen Studiengängen wie der Ingenieur-Informatik bei null.

Was hat Sie an der IT so fasziniert?

Ich bin tatsächlich erst recht spät mit IT in Kontakt gekommen – und sie haben mich gleich fasziniert. Mir haben vor allem die unendlich kreativen Möglichkeiten gefallen. Auch die Tatsache, dass man, wenn man sich nur intensiv mit einem Problem auseinandersetzt, es auch gelöst bekommt. Hinzu kommt – und das widerspricht dem heute immer noch verbreiteten Bild der IT-Branche – mir gefiel, dass IT ein „Teamsport“ ist. Ohne es explizit so zu benennen, wusste man schon damals, dass komplexe Probleme am besten im Team gelöst werden können.

Dann stimmt das Bild vom einsamen, nerdy Software-Entwickler nicht?

Nein! Ich habe das früher nicht so erlebt und auch heute brauchen wir andere Typen in der Software-Entwickler. Kommunikationsfähigkeit gegenüber Kunden und Kollegen ist extrem wichtig! Es ist tatsächlich das größte Problem unserer Branche, dass wir immer noch diesen unvorteilhaften Ruf haben und Menschen, die nichts mit IT zu tun haben, glauben, dass wir alles einsame Wölfe wären. Zudem zieht diese Reputation auch nicht immer die richtigen Leute in unsere Studiengänge.

 

„Niemand kann heute die Herausforderungen unserer Zeit alleine vor dem Rechner lösen. Das geht nur in Teams mit unterschiedlichen Kompetenzen.“ Jutta Eckstein

 

Hat sich die Position von Frauen in der IT im Laufe der Zeit geändert?

Tatsächlich waren viele Computerpioniere, also die Menschen, die die ersten Computer programmierten, Frauen. Und interessanterweise wuchs in den USA die Zahl der Frauen, die Informatik studierten, jahrzehntelang schneller als die Zahl der Männer. Mitte der 1980er Jahre änderte sich das. Der Anteil der Frauen in der Informatik verringerte sich dramatisch – obwohl er in anderen technischen Bereichen weiter stieg. Laut Statistik liegt in Deutschland der Frauenanteil in der IT bei rund 16 Prozent. In meiner „agilen Ecke“ ist der Anteil höher, auch weil wir uns in diesem Fachgebiet der IT einen anderen Ruf erarbeitet haben. Es geht also aufwärts, aber immer noch sehr langsam.

Wie erklären man sich diesen Einbruch Mitte der 80er Jahre?

Der Anteil der Frauen in der Informatik begann ungefähr zu dem Zeitpunkt zu sinken, als PCs die privaten Haushalte überall auf der Welt eroberten. Diese frühen PCs waren zwar nicht viel mehr als Spielzeuge, aber sie adressierten vor allem Männer und Jungen. Das verschaffte männlichen Studienanfängern einen großen Vorteil. Weibliche Studenten hingegen hatten das Gefühl, den Vorsprung nicht aufholen zu können und wandten sich anderen Studien zu. Dieses Bild, dass Computer bzw. IT Männer- oder Jungensache sei, existiert bis heute und es verblasst nur sehr langsam.

USA: Der Anteil der Informatik-Studentinnen sank Mitte 1980 dramatisch
USA: Der Anteil der Informatik-Studentinnen sank Mitte 1980 dramatisch
War es schwierig, sich unter all den Männern zu behaupten?

Am Anfang gab es Momente, die waren schwierig. Jungsein UND weiblich waren zu Beginn eine problematische Kombination. Natürlich gab es auch bei mir Situationen, in denen man mich zunächst nicht ernst genommen hat, etwa, wenn ich Schulungen durchführte. Rückblickend gab es aber auch Vorteile, denn als Frau in der IT fällt man natürlich auch auf.

Bei der Forderung nach mehr Diversität in Unternehmen hat sich in den letzten Jahren sehr viel getan. Gerade erst hat z.B. Zalando bekannt gegeben, verschiedene Diversity Targets einzuführen. Welche Rolle spielt Diversität in IT-Teams?

Eine sehr große! Heute und in Zukunft wird es immer mehr Berührungspunkte mit Produkten und Anwendungen geben, die softwaregesteuert sind. Umso wichtiger, dass diese Technologien auch von der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit genutzt werden können. Tatsache aber ist, dass die Technik-Abteilungen dieser Welt vor allem aus männlichen, weißen Personen bestehen. Auch der Kulturkreis dieser Personen ist eher der westlichen oder asiatischen Welt zuzuordnen. Was auf den ersten Blick für viele wenig problematisch aussieht, zeigt im Detail allerdings einige Risiken. Denn fehlende Diversität kann bei der Entwicklung von IT-Produkten zu Problemen führen.

Inwiefern?

Je weniger divers Entwicklungsteams sind, umso eher passieren Fehler, weil Aspekte nicht bedacht werden – das geschieht völlig unabsichtlich!

 

„Nicht die Technologie selbst ist dann das Problem, sondern der ökonomische oder soziale Kontext, in dem die Technologie entwickelt wurde!“ Jutta Eckstein

Können Sie ein Beispiel nennen, warum Diversität und Technik ein Dream Team sind?

Wenn Tests in homogenen Gruppen durchgeführt werden, fallen Anwendungsprobleme für Nutzer außerhalb dieser Gruppe nicht so auf. Berühmtestes Beispiel hierfür ist wohl der automatische Seifenspender, dessen Sensor nur bei weißer und nicht bei schwarzer Haut reagierte. Bei selbstlernender Software dagegen besteht z.B. die Gefahr, dass Systeme nicht ausreichend ausgeglichenes Lernmaterial zur Verfügung gestellt bekommen. Gesichtserkennungs-Software etwa kann weiße, männliche Gesichter besser unterscheiden, da sie meist von homogenen Teams aus weißen Männern entwickelt und vorwiegend mit Bildern weißer Männer trainiert wird. Auch besteht das Risiko, dass z.B. KI-gesteuerte Jobangebote Menschen diskriminieren können, weil sie allein aus der Datenbasis gelernt haben, dass z.B. Frauen viel seltener eine technisch ausgerichtete Stelle annehmen. Das System hat dann „gelernt“, dass es sich nicht lohnt, Frauen solche Stellen anzubieten. Divers zusammengesetzte Teams sind sehr viel sensibler für solche unabsichtlichen Fehlentwicklungen und können von vorneherein gegensteuern.

Warum glauben Sie ist das Thema Diversität in der IT heute so aktuell?

Die Zeit ist einfach ein Stück reifer das Thema, denn die Forderung danach gibt es in allen gesellschaftlichen Bereichen. Dieser Prozess braucht Zeit, denn wir reden ja schon seit Jahren darüber. Aber es tut sich etwas. Sogar Fonds-Gesellschaften machen Aktivitäten in diesem Bereich zur Bedingung für ihre Anlageentscheidung weil sie wissen, dass Unternehmen mit Diversity-Aktivitäten eine verbesserte Performance aufweisen! Anderes Beispiel:

 

„Vor fünf bis sieben Jahren hatte keine Konferenz einen Code of Conduct. Heute haben ihn alle! Und nicht wenige Speaker machen ihr Kommen davon abhängig.“ Jutta Eckstein

 

Gerade erst wurde die Entwicklerkonferenz PhpCE in Dresden wegen fehlender Diversität bei den Vortragenden abgesagt. Wie stehen Sie zu dieser Entscheidung?

Das finde ich schon erstaunlich, aber eigentlich bestätigt es nur meinen Eindruck, dass auch in der IT heute keiner mehr reine Männerriegen sehen will. Ich kenne diese Konferenz allerdings nicht.

Auch wenn wir gerne ein ausgewogenes Bild in den IT-Teams hätten, die Realität sieht anders aus. Wie schafft man es dennoch, IT-Produkte zu entwickeln, die für alle funktionieren?

Ganz wichtig ist es, ein Bewusstsein für die bestehende einseitige Perspektive zu schaffen! Kontinuierliche Reflexion hilft, und es macht Sinn, alle Entscheidungen im Entwicklungsprozess anhand eines vorab definierten Diversity-Katalogs zu prüfen.

Vielen Dank für das superinteressante Gespräch!

Weiterführende Links:

McKinsey Studie: https://www.mckinsey.com/de/news/presse/neue-studie-belegt-zusammenhang-zwischen-diversitat-und-geschaftserfolg

Studie Frauen in der IT-Branche: https://de.statista.com/infografik/13283/frauen-in-der-tech-branche/

 

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